Westen unterschätzt Islamisten-Gefahr – Errichtung des Kalifats scheint greifbar


ISIS: Kreuzigung in Syrien, Teil des neuen islamischen Kalifats(Bag­dad) “Die Dschi­ha­di­sten fol­gen mit ihrer schwar­zen Fah­ne einem blut­rün­sti­gen, krie­ge­ri­schen und grau­sa­men Gott. Des­sen muß man sich klar wer­den.“ Mit die­sen Wor­ten kom­men­tier­te der Jour­na­list Dome­ni­co Qui­ri­co die Offen­si­ve der Isla­mi­sten­mi­liz Isla­mi­scher Staat im Irak und der Levan­te (ISIS). „Der Vor­marsch der ISIS-Dschi­ha­di­sten auf Bag­dad ist schreck­lich und gefähr­lich“, so Qui­ri­co, der im ver­gan­ge­nen Jahr als Kriegs­be­richt­erstat­ter in Syri­en in die Hand der Isla­mi­sten fiel und von die­sen 125 Tage als Gei­sel fest­ge­hal­ten wur­de. Die Isla­mi­sten erbrin­gen mit ihrer Offen­si­ve den Beweis, daß sie imstan­de sind, ein isla­mi­sches Kali­fat zu errich­ten, einen eige­nen Staat mit­ten im Nahen Osten, so der Jour­na­list in einem Inter­view für Tem­pi. Gren­zen spie­len für sie kei­ne Rol­le, wie sie auch für den histo­ri­schen Islam kei­ne Rol­le spiel­ten. Im Westen schei­nen vie­le Ent­schei­dungs­trä­ger für die isla­mi­sti­sche Her­aus­for­de­rung unge­eig­net, da zu sehr in eige­nen ideo­lo­gi­sche Denk­ta­bus gefan­gen. Bereits in einem frü­he­ren Inter­view hat­te Qui­ri­co geäu­ßert, man habe bei west­li­chen Ver­ant­wort­li­chen den Ein­druck, es kön­ne nicht sein, was nicht sein dür­fe, wenn sie vor­ge­ben, die Welt des Islams zu ken­nen, obwohl sie ihnen völ­lig fremd is und sie in Wirk­lich­keit nicht die gering­ste Ahnung haben.
Wenn die Kar­ten im Irak neu gemischt wer­den, dann sei das zudem eine direk­te Fol­ge des syri­schen Bür­ger­kriegs, so Qui­ri­co. Hier das voll­stän­di­ge Interview.

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Sind Sie der Über­zeu­gung, daß die ISIS-Dschi­ha­di­sten wirk­lich imstan­de sind, die Kon­trol­le über das Ter­ri­to­ri­um aus­zu­üben, das sie gera­de im Nor­den des Irak erobern?

Qui­ri­co: Ja. Sie haben unter Beweis gestellt, daß ihr Pro­jekt ernst­ge­meint ist. Das Kali­fat ist nicht das Pro­dukt eines ver­dreh­ten Imams, der beim Frei­tags­ge­bet in einer Moschee wir­re Ideen von sich gibt, son­dern eine prä­zi­se Stra­te­gie, die der Westen nicht zu begrei­fen scheint. Auf der einen Sei­te geht es um die Errich­tung eines eige­nen Staa­tes, und das ganz unab­hän­gig von den gel­ten­den völ­ker­recht­li­chen Staats­gren­zen. Ein Staat, der nach den Regeln des radi­kal­sten Islam orga­ni­siert ist. Auf der ande­ren Sei­te geht es um die Schaf­fung einer logi­sti­schen Basis, von der aus die angren­zen­den isla­mi­schen Staa­ten her­aus­ge­for­dert wer­den kön­nen. Gemeint sind jene mos­le­mi­schen Regie­run­gen, die von den Isla­mi­sten als Ver­rä­ter betrach­tet wer­den. Letzt­lich geht es den Dschi­ha­di­sten aber dar­um, den Westen her­aus­zu­for­dern. Ihr Feind­bild ist klar defi­niert und sieht als Lösung des Kon­flikts nur die Ver­nich­tung des Fein­des vor. Was für den Westen das Gesche­hen im Nahen Osten und der isla­mi­schen Welt so unver­ständ­lich macht, ist die fana­ti­sche Ent­schlos­sen­heit. Sie Isla­mi­sten haben kei­ne Angst. Sie haben kei­ne Angst vor dem Tod. Das über­steigt die  Auf­fas­sungs­ka­pa­zi­tät des deka­den­ten Westens. Neu ist, daß sich die Isla­mi­sten inzwi­schen so stark füh­len, auch die direk­te mili­tä­ri­sche Kon­fron­ta­ti­on nicht zu scheu­en. Sie sehen ihre Macht wach­sen und sind bereit, den Westen glo­bal herauszufordern.

Eine Glo­ba­le Her­aus­for­de­rung? Das von den Dschi­ha­di­sten kon­trol­lier­te Gebiet ist trotz allem nur ein klei­ner Teil der Welt.

Qui­ri­co: Es geht um das glo­ba­le Pro­jekt, das den radi­ka­len Islam antreibt. Die Her­aus­for­de­rung ist glo­bal, weil sie nicht nur vom ISIS aus­geht, son­dern von allen Dschi­ha­di­sten, unter wel­chem Ban­ner und Namen oder in wel­chem Land auch immer sie ope­rie­ren. Isla­mi­sten kämp­fen heu­te von West­afri­ka bis zu den Phil­ip­pi­nen. Sie sind imstan­de Tim­buk­tu ein­zu­neh­men, Tau­sen­de von Qua­drat­ki­lo­me­tern Syri­ens und des Iraks zu erobern und nun ste­hen sie vor den Toren Bag­dads. Sie ste­hen vor der ira­ki­schen Haupt­stadt nicht als unge­ord­ne­ter Hau­fen, son­dern wie eine regu­lä­re, gut aus­ge­rü­ste­te Armee. Vor allem dür­fen wir mit Sicher­heit anneh­men, daß sich die ISIS-Kämp­fer in der Tra­di­ti­on der isla­mi­schen Erobe­rer in fer­ner Ver­gan­gen­heit füh­len. Sie sind über­zeugt, Geschich­te zu schrei­ben. Isla­mi­sche Geschichte.

Kann man noch von Al-Qai­da-Ter­ro­ri­sten sprechen?

Qui­ri­co: Heu­te ste­hen wir einer ganz ande­ren Gefahr gegen­über. Es geht nicht mehr um Al-Qai­da von Osa­ma bin Laden. Das war ein inter­na­tio­na­les Ter­ror­netz­werk. Bin Laden war immer Gast eines Lan­des, das ihm Schutz bot, ob in Afgha­ni­stan oder Paki­stan. Er ver­han­del­te mit den Regie­run­gen und war von die­sen abhän­gig. Die Her­aus­for­de­rung die­ses Ter­ror­netz­wer­kes betraf vor allem die Poli­zei und Sicher­heits­kräf­te. Die neue Al Qai­da hat die Meß­lat­te weit höher gehängt. Wir ste­hen nicht mehr klei­nen Ter­ror­zel­len gegen­über, die irgend­wo im Unter­grund leben und aus die­ser Ver­bor­gen­heit her­aus Atten­ta­te ver­üben, um dann wie­der abzu­tau­chen. Heu­te ste­hen wir einer Armee gegen­über, die sich gren­zen­los in einem rie­si­gen Raum von Nige­ria bis Meso­po­ta­mi­en bewegt und in die­sem Raum meh­re­re grö­ße­re und klei­ne­re Ter­ri­to­ri­en direkt kontrolliert.

Wann erfolg­te die­se Umwandlung?

Qui­ri­co: Bereits vor zwei Jah­ren war mir durch mei­ne direk­te Begeg­nun­gen in der isla­mi­schen Welt klar, und ich habe es in mei­nem Buch über den “Ara­bi­schen Früh­ling“ geschrie­ben, daß Al Qai­da die Auf­stän­de gegen die ara­bi­schen Tyran­nen nüt­zen wird, um einen stra­te­gi­schen Qua­li­täts­sprung zu schaf­fen. Der Westen hat die­se Gefahr nicht nur igno­riert, son­dern maß­geb­lich geför­dert. Ein­mal, weil die Dschi­ha­di­sten unter­schätzt wur­den, zum ande­ren, weil man im Westen glaub­te, sich der Isla­mi­sten für die eige­nen Inter­es­sen bedie­nen zu kön­nen. Ein schwe­rer Irrtum.

Die Isla­mi­sten wer­den unterschätzt?

Qui­ri­co: Der Westen ver­steht sie ein­fach nicht. Er ver­steht die Denk­ka­te­go­rien der Isla­mi­sten nicht. Er ver­steht nicht, daß die Dschi­ha­di­sten kei­ne wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Inter­es­sen ver­fol­gen. Die Geschich­te wird nicht nur von die­sen Inter­es­sen bewegt und davon, wer ein Stück Land mit Erd­öl­vor­kom­men kon­trol­liert. Sie wird auch von der Reli­gi­on bewegt. Im Westen ver­such­te man die Reli­gi­on aus dem öffent­li­chen Raum zu ver­drän­gen. Vie­le west­li­che Ent­schei­dungs­trä­ger ver­tre­ten die­se Posi­ti­on. Um so schwe­rer tun sie sich mit dem isla­mi­schen Phä­no­men. Man könn­te davon spre­chen, daß ein guter Teil der west­li­chen Ent­schei­dungs­trä­ger auf­grund die­ses Defi­zits unge­eig­net sind, auf die neue Her­aus­for­de­rung zu reagie­ren. Die Dschi­ha­di­sten fol­gen mit ihrer schwar­zen Fah­ne einem blut­rün­sti­gen, krie­ge­ri­schen und grau­sa­men Gott. Des­sen muß man sich klar wer­den. Im Westen, an erster Stel­le die Ame­ri­ka­ner, ver­schlie­ßen davor aus ideo­lo­gi­schen Grün­den die Augen. Wohin immer sie in die­sen Jah­ren gegan­gen sind, haben sie sich dar­auf beschränkt, ihre Lakai­en zu instal­lie­ren, ohne an die Kon­se­quen­zen zu den­ken. Die Ame­ri­ka­ner set­zen aus kurz­sich­ti­gen Kal­kü­len und Inter­es­sen auf die fal­schen Per­so­nen, indem sie die Brü­che, die Unord­nung und neue Insta­bi­li­tät, die dadurch ent­ste­hen, ein­fach igno­rie­ren. Es liegt auf der Hand, daß jemand die­ser Unord­nung Abhil­fe schaf­fen will. Das ist die Stun­de der Dschi­ha­di­sten. Sie prä­sen­tie­ren sich der Bevöl­ke­rung als neue Ord­nungs­macht. So erfolgt auch ihr Vor­marsch im Irak.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Tempi

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