(Straßburg) Am 25. Mai stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. 766 Abgeordnete der 8. Wahlperiode sind zu bestimmen. Sie werden in den kommenden fünf Jahren mit mehr Entscheidungsvollmacht die Geschicke Europas bestimmen, als alle Wahlperioden zuvor. Wen können gläubige Christen wählen? Die Frage war früher mit den C‑Parteien leicht beantwortet. Doch seit der emblematisch gescheiterten „geistig-moralischen Wende“ von Helmut Kohl, von der eine Überwindung von 1968 erwartet wurde, ist das immer weniger selbstverständlich. Eine kleine (unvollständige) Orientierungshilfe zur Wahl für den deutschen Sprachraum.
Amerikanisierung oder Sowjetisierung? Europas Weg war nach 1945 nicht mehr eigenständig
Die Gründe des Scheiterns sind vielschichtig. Sie hatten mit den Zwängen des Kalten Kriegs zu tun, nachdem die beiden Supermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges Europa einvernehmlich in eine amerikanische und eine sowjetische Interessenssphäre aufgeteilt hatten. Zwei Blöcke, die sich dann feindlich gegenüberstanden.
Im amerikanischen Teil Europas versuchten die Christdemokraten nach der Kriegskatastrophe mit dem europäischen Einigungsprojekt eine Völkerversöhnung, aber auch, Europa einen gewissen Spielraum zu sichern. Unter dem Druck der Sowjetisierungsgefahr wurde „Westeuropa“, nomen est omen, jedoch weitgehend amerikanisiert. Ein Vorgang der Deutschland als geopolitisch und bald auch wieder wirtschaftlich bedeutendstem, aber besetztem Gebiet am stärksten traf.
68er-Revolution verschaffte der Linken die kulturelle Hegemonie
Die neomarxistische 1968er-Revolution konnte zwar außenpolitisch in der Abwehr Moskaus abgefedert werden, nicht aber innenpolitisch. Die kulturelle Hegemonie, die seit den 1920er Jahren zum marxistischen Kampfziel gehört, ging auf die Linke über. Die Rechte beschränkte sich bald nur mehr auf die antikommunistische Wacht am Eisernen Vorhang, die Verteidigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und den Rückzug in die Privatsphäre.
1989/1991 schien die politische Linke mit dem Zusammenbruch des Kommunismus vor der Geschichte definitiv gescheitert zu sein. Im Umkehrschluß schien die Rechte Europa auf lange Sicht durch eine Renaissance der nationalen Kulturen, des Christentums und des Naturrechts in der Sozial- und Staatsordnung bestimmen zu können.
Es sollte jedoch ganz anders kommen. Eine solche Entwicklung lag auch nicht im Interesse der USA. Der amerikanischen Linken ohnehin nicht, aber auch für die amerikanische Rechte sollte Europa in erster Linie ein zuverlässiger, letztlich abhängiger Verbündeter Washingtons bleiben.
Neue Allianz der alten Linken und Liberalen sichert Hegemonialstellung bis heute
Eine schnelle kapitalistische Wende durch Sozialdemokratisierung der starken kommunistischen und sozialistischen Parteien Europas und eine Allianz mit den Liberalen schuf Mitte der 90er Jahre bereits eine völlig neue, unerwartete Konstellation. Die neue Allianz entspricht aus amerikanischer Sicht in etwa der dortigen Demokratischen Partei. Eine Amerikanisierung, die im Jubel für jeden demokratischen Präsidentschaftskandidaten durch viele europäische Medien zum Ausdruck kommt.
Die amerikanischen Interessen sind das Eine, innereuropäische etwas anderes. In Europa ging es den Liberalen darum, nachdem sie von der Bedrohung durch Moskau befreit waren, sich aus der abwehrbedingten Notallianz mit Christdemokraten, Konservativen und Nationalen zu lösen.
Gesellschaftspolitisch stand ihnen die neue Linke viel näher, daher galt es, eine absehbare strukturelle Vorherrschaft der Rechten zu verhindern. Mit Erfolg.
Die Meinung, die kulturelle und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung sei nachrangig, Markt und Geld regle letztlich alles, erweist sich als Kapitalfehler. Die Menschen in Mitteldeutschland brauchten nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und 44 Jahren Kommunismus nicht nur die D‑Mark, wie der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel in geradezu verantwortungsloser Kurzsichtigkeit meinte. Geistliche Grundlagen entstehen nicht von alleine. So zeigen die in der EVP zusammengeschlossenen christdemokratischen Parteien ein ziemlich uneinheitliches Bild und ein verblassendes Profil.
Der Lunacek-Bericht als Lackmustest der Parteien
Der Lunacek-Bericht, eine veritable gesellschaftspolitische Revolution mit Abtreibung, Homo-Ehe und Gender-Ideologie, wurde vom Europäischen Parlament beschlossen, weil sich die EVP gespaltet hatte. Ein Teil der Abgeordneten hielt dem anhaltenden linken Ansturm nicht mehr stand, weil er weltanschaulich selbst links angekränkelt ist und argumentativ nicht mehr wirklich zu widersprechen wußte. Das Abstimmungsverhalten der Parteien und ihrer Abgeordneten ist damit ein Gradmesser für die Wähler.
In Österreich stimmten die Parteien noch geschlossen ab. Alle Abgeordneten der christdemokratischen ÖVP, der nationalkonservativen FPÖ und der diesem Lager entstammende traditionsverbundene Katholik Ewald Stadler stimmten gegen den Bericht der österreichischen Grünen und bekennenden Lesbe Ulrike Lunacek.
In der Bundesrepublik Deutschland sah die Sache schon anders aus. Mehrere Unions-Abgeordnete stimmten gegen die Fraktionsempfehlung für den Lunacek-Bericht oder enthielten sich der Stimme, während Sozialdemokraten, Liberale und Grüne die neue linke Allianz bestätigten und auch die Stimmen der Kommunisten erhielten. Der übrige deutschsprachige Raum zeigte ein verheerendes Abstimmungsverhalten. In Luxemburg stimmten alle drei Christdemokraten für den linken Lunacek-Bericht, ohnehin natürlich Sozialdemokraten, Liberale und Grüne (mit je einem Abgeordneten). Gleiches gilt für Südtirol, wo der einzige Abgeordnete der ÖVP Schwesternpartei SVP für die linke Gesellschaftsrevolution stimmte. Warum?
In Luxemburg, weil die weltanschauliche Achse so weit nach links verschoben ist, daß die Christlich-Soziale Volkspartei lieber mit wehenden Fahnen zur Linken überläuft, als sich die Mühe anzutun, eine Gegenposition zu formulieren. Im christlich-konservativen Südtirol, weil die SVP auf verschiedenen Ebenen ein Bündnis mit den italienischen Linksdemokraten eingegangen ist und durch ein bestimmtes Abstimmungsverhalten Wegzoll für dieses Bündnis zu bezahlen hat. Wer bekommt in den Heimatwahlkreisen in der Regel schon mit, wie der eigene Abgeordnete im fernen Brüssel oder Straßburg abstimmt?
Weltanschauliche Schieflage der C‑Parteien – Grüne tonangebend
Das auf der oberen Ebene der Berufspolitiker immer uniformer auftretende Politestablishment wünscht sich ohnehin die Souveränitätsverlagerung aus den Mitgliedsstaaten nach Brüssel und eine dauerhafte Große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten, am besten unter Führung Letzterer, auf jeden Fall mit einer linken Hegemonialstellung im Kulturbereich. Das würde die Wahlen im Fünfjahresabstand zur bloßen Fassade reduzieren. Man könnte, je nach Sichtweise von großer Stabilität oder Scheindemokratie sprechen. Der Fernsehabend von ZDF und ORF mit den Spitzenkandidaten Martin Schulz (SD) und Jean-Claude Juncker (CD) war nicht das angekündigte „Duell“ zweier Kontrahenten, sondern ein Scheingefecht unter Freunden. Die privilegierte Stellung der beiden Vertreter unter Ausschluß aller anderen politischen Gruppierungen zeigte auf, innerhalb welcher Grenzen die Oberschicht wünscht, daß der Wähler sich bewegt. Die Grünen sind längst an den Schalthebeln der Macht angekommen und stehen als einflußreiche Juniorpartner sowohl Sozialdemokraten als sich sozialdemokratisierenden Christdemokraten zur Verfügung.
Die Frage ist daher berechtigt, wen man am 25. Mai abseits der schwächelnden christdemokratischen Parteien wählen soll, wenn man Europa nicht den neuen Jakobinern und ihrer Zwangsbeglückung ausliefern will. Letztlich läuft der Wunsch des Politestablishments auf eine Große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten hinaus, was gewissermaßen den Politbetrieb von demokratischen Wahlen „unabhängig“ machen würde.
Wen wählen in Österreich?
In Österreich tritt neben der nationalkonservativen FPÖ der Europaabgeordnete Ewald Stadler mit einer eigenen Liste, den Reformkonservativen (REKOS) zur Wahl an. Stadler kommt aus der FPÖ und ist traditionsverbundener Katholik. In Österreich gilt eine Vierprozenthürde. Der Wiedereinzug der FPÖ ist sicher und dürfte sogar jenseits der 20-Prozent-Marke liegen, weshalb die REKOS dringender Stimmen bedürfen. Stadler stellt für Christen eine glaubwürdige Alternative dar, da er unter Beweis gestellt hat, eine akzentuierte christliche Gegenposition formulieren zu können. Dafür stehen auch die übrigen Kandidaten auf der REKOS-Liste.
Wen wählen in Deutschland?
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine vergleichbaren Alternativen mit parlamentarischer Erfahrung. Das nationalkonservative Spektrum wie in Österreich gibt es schon seit 1968 nicht mehr. Die Alternative für Deutschland (AfD), wird mit einem guten Ergebnis den Einzug in das Europaparlament schaffen und die eigentliche Neuheit dieses Urnengangs sein. Sie könnte sich zu einer Alternative entwickeln, wie sie die FPÖ in Österreich ist. In welche Richtung genau der AfD-Zug jenseits der Euro-Kritik fährt, ist aber noch nicht absehbar. Wer jedoch nicht nur ein Schwerpunktthema, ob Finanz- und Wirtschaftspolitik oder Islamisierungsdruck, zur Grundlage seiner Wahlentscheidung machen, sondern eine umfassende und weltanschaulich gestützte Entscheidung treffen will, sollte einen Blick auf das christliche Spektrum werfen. Allerdings steht für bundesdeutsche Wähler kein Ewald Stadler zur Wahl.
Im christlichen Spektrum kandidieren mit der Liste AUF der bekannten Psychotherapeutin Christa Meves, der Christlichen Mitte (CM) und der Partei Bibeltreuer Christen (PBC) gleich drei Parteien, die bisher, benachteiligt durch die Fünfprozenthürde, jedoch keine Erfolge aufweisen können. Durch Wegfall der Prozenthürde bei Europawahlen könnte der Einzug in das Europäische Parlament bereits ab einem Ergebnis von 0,6 Prozent möglich sein. Die Aussichten stehen daher besser denn je, daß ein akzentuiert christlicher, gesellschaftspolitisch sich rechts der Unionsparteien verortender Abgeordneter den Einzug schaffen könnte. Ob die Mittel und Möglichkeiten gegeben sind, dies einer ausreichenden, potentiellen Wählerschaft zu vermitteln, scheint allerdings nicht sicher zu sein. Zumindest ein Zusammenschluß von AUF und CM hätten die Aussichten verbessert. Bei den Europawahlen 2009 schafften sie zusammengezählt lediglich 0,3 Prozent. Nur einschließlich der PBC wäre sich damals ohne Wahlhürde ein sicheres Restmandat (das 97. Mandat) ausgegangen.
Wen wählen in Südtirol und Luxemburg?
In Südtirol bewirbt sich der freiheitliche Landtagsabgeordnete Pius Leitner um ein Europamandat. Er verfügt über ein solides weltanschauliches Rüstzeug und tritt in einem nicht chancenlosen Listenbündnis mit der Lega Nord an, die den Lunacek-Bericht bewußt ablehnte.
In Luxemburg bietet nur die Alternative Demokratische Reformpartei (ADR) eine wählbare Alternative. Sie ist im luxemburgischen Parlament vertreten, schaffte aber wegen der im Großherzogtum nur sechs zu vergebenden Mandate bisher nicht den Sprung ins Europäische Parlament (2009: 7,40 Prozent).
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Parteienlogos (Montage)