Britisches Gesundheitswesen vor Kollaps – Entsolidarisierung stößt an ihre Grenzen


Josephine Quintavalle: Gesundheitswesen von Finanzkollaps. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft stößt an ihre Grenzen. Wiederentdeckung des Glaubens und Wiederaufbau intakter Familien sind die einzige Lösung.(Lon­don) In Groß­bri­tan­ni­en fin­det eine teils empört geführ­te öffent­li­che Dis­kus­si­on über Ein­spa­run­gen im Gesund­heits­be­reich statt. Kon­kret betref­fen die Kosten­kür­zun­gen „nicht pro­duk­ti­ve“ Per­so­nen. Was das bedeu­tet, wo Ursa­chen und Grün­de zu suchen sind und wohin das führt, dazu nahm Jose­phi­ne Quin­ta­val­le, die bekann­te bri­ti­sche Lebens­recht­le­rin in einem Inter­view Stel­lung: „Die Ent­so­li­da­ri­sie­rung ist an die Gren­zen der Finan­zier­bar­keit gestoßen“.

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Aus­gangs­punkt der Dis­kus­si­on war eine pole­mi­scher Schlag­ab­tausch zwi­schen den eng­li­schen Pha­ra­m­un­ter­neh­men und dem staat­li­chen Gesund­heits­sy­stem. Die wich­tig­sten bri­ti­schen Tages­zei­tun­gen titel­ten: „Die Senio­ren haben Angst“ und „Den Älte­ren wer­den lebens­ret­ten­de Medi­ka­men­te ver­wei­gert“. Die Phar­ma­in­du­strie beschul­digt den Staat, Kosten­ein­spa­run­gen zu Lasten von älte­ren Pati­en­ten vor­zu­neh­men, die von Medi­ka­men­te abhän­gen. Unter Beru­fung auf die Men­schen­wür­de bekla­gen die Kon­zer­ne die Regie­rungs­ent­schei­dung, die Finan­zie­rung der Medi­ka­men­te zuerst für Men­schen im pro­duk­ti­ven Alter sicher­zu­stel­len und dann erst, sofern Geld vor­han­den ist, auch für Pen­sio­ni­sten. Im Klar­text wür­de die­se Poli­tik dazu füh­ren, daß ein krebs­kran­ker Arbei­ter Vor­rang vor einem krebs­kran­ken Pen­sio­ni­sten hät­te. Der Pen­sio­nist pro­du­zie­re nichts mehr und sei daher für den Staat unin­ter­es­sant. Doch, so die Kri­tik, der Pen­sio­nist habe bereits sein gan­zes Arbeits­le­ben pro­du­ziert zum Nut­zen des Staa­tes und der vori­gen Pensionistengeneration.

Jose­phi­ne Quin­ta­val­le, die Grün­de­rin und Vor­sit­zen­de von Com­ment on Repro­duc­ti­ve Ethics, dem Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum der mensch­li­chen Repro­duk­ti­ons­tech­ni­ken spricht in einem Inter­view mit Tem­pi von „einem viel tie­fer rei­chen­den Pro­blem“ und davon, daß die „Fehl­ent­wick­lung unvor­stell­ba­re Aus­ma­ße erreicht“ habe, „sodaß wir nicht ein­mal mehr wis­sen, in wel­che Rich­tung wir uns dre­hen sollen“.

Sind die Ankla­gen gegen das eng­li­sche Gesund­heits­we­sen berechtigt?

Das Gesund­heits­we­sen befin­det sich in einer Sack­gas­se, aus der es kei­nen Aus­weg mehr weiß. Es sind 20 Mil­li­ar­den Euro in fünf Jah­ren ein­zu­spa­ren, wes­halb man ver­zwei­felt nach Kür­zungs­mög­lich­kei­ten sucht. Doch die Situa­ti­on ist inzwi­schen unlös­bar gewor­den, wenn man nicht lang­fri­stig her­an­geht und das heißt, wenn man nicht das Haupt­pro­blem besei­tigt: die Glaubenskrise.

Wie mei­nen Sie das?

Es ist offen­sicht­lich, wenn es auch nur weni­ge zuge­ben wol­len: Solan­ge die Men­schen Glau­ben hat­ten und die zu respek­tie­ren­de tran­szen­den­ta­le Wirk­lich­keit aner­kann­ten, war als Sicht­wei­se vor­herr­schend, daß der Mensch durch sein blo­ßes Sein eine Wür­de besitzt. Nur wenn man die Wür­de und den Wert eines jeden Men­schen aner­kennt, erzeugt man Soli­da­ri­tät und Sta­bi­li­tät zwi­schen den Bür­gern und in den Familien.

Was aber hat das mit den Kür­zun­gen der Medi­ka­men­te für älte­re Men­schen zu tun?

Die Abwe­sen­heit der Fami­lie ist der Grund, war­um die alten Men­schen heu­te in Kli­ni­ken und Alters­hei­men unter­ge­bracht sind mit sehr hohen Mehr­ko­sten für das staat­li­che Gesund­heits­we­sen. 60 Pro­zent der Gel­der sind durch die Per­so­nal­ko­sten gebun­den, 20 Pro­zent durch die Medi­ka­men­te. Hät­ten die älte­ren Men­schen, wie einst, ihre Fami­li­en im Rücken, die bereit sind, sie auch im Alter zu Hau­se zu pfle­gen, wäre das Pro­blem mit einem Schlag mehr als halbiert.

Es blie­be noch das Pro­blem der Medikamente.

Wenn die Fami­li­en intakt und geeint wären, bräuch­te es auch weit weni­ger Medi­ka­men­te als heu­te: die Ein­sam­keit ver­ur­sacht in der älte­ren Gene­ra­ti­on zahl­rei­che zusätz­li­che Beschwer­den die krank­ma­chen. Glei­ches gilt am ande­ren Gene­ra­tio­nen­en­de: Die sich aus­brei­ten­de Über­ge­wich­tig­keit unter jun­gen Eng­län­dern, vor denen immer häu­fi­ger gewarnt wird, geht vor allem auf den Miß­brauch von Zucker und Alko­hol zurück. Die Men­schen essen nicht mehr zu Hau­se im Kreis der Fami­lie son­dern aus­wärts und meist Fast Food. Oder aber zu Hau­se, häu­fig allei­ne und Fer­tig­ge­rich­te. Das ist nur ein Bei­spiel für meh­re­re. Wie man durch eine Rei­he von Stu­di­en weiß, führt die Abwe­sen­heit des Vaters die Jugend­li­chen ver­stärkt zum Alko­hol­miß­brauch. Die Fol­gen sind Zir­rho­sen, Tumo­re, ver­schie­de­ne Krank­hei­ten ein­schließ­lich Depres­si­on. Ohne eine auf die Per­son bezo­ge­ne Kul­tur, die sich auf der Fami­lie grün­det, wer­den auch immer weni­ger Kin­der gezeugt und noch viel weni­ger wer­den auch gebo­ren, die ande­ren bereits vor­her durch Abtrei­bung getö­tet. Gleich­zei­tig nimmt zwangs­läu­fig die Zahl der alten Men­schen zu. Ihnen ste­hen immer weni­ger und immer zer­brech­li­che­re jun­ge Men­schen gegen­über. Zah­len­mä­ßig ver­sucht die Poli­tik das Loch durch Ein­wan­de­rung zu stop­fen, doch die löst unmit­tel­bar kein Pro­blem in unse­ren Fami­li­en und schafft zudem eine Rei­he neu­er Probleme.

Was hal­ten Sie von den jüng­sten „lebens­freund­li­chen“ Stel­lung­nah­me eini­ger Pharmaunternehmen?

Die Phar­ma­kon­zer­ne haben ihr Kla­ge­lied nur ange­stimmt, weil sie bis­her an die­ser Fehl­ent­wick­lung ver­dient haben. Sie ver­tre­ten eine gewinn­ori­en­tier­te, heuch­le­ri­sche Posi­ti­on. Sie haben finan­zi­ell enor­me Inter­es­sen und wol­len nicht, daß die Gel­der für Medi­ka­men­te und damit ihre Ein­nah­men hal­biert wer­den. Daß aus­ge­rech­net sie plötz­lich von Men­schen­wür­de spre­chen, ent­lockt mir nur ein müdes Lächeln. Wenn ihnen wirk­lich der Mensch am Her­zen lie­gen wür­de, wären ihre ein­zi­ge Lösung nicht Pil­len. Wenn wir nicht bereit sind, das Gesamt­pro­blem zu erken­nen, wer­den wir frü­her oder spä­ter ster­ben: ent­we­der weil mir nicht behan­delt wur­den oder durch eine Medi­ka­men­ten­ver­gif­tung. Um ehr­lich zu sein, weiß ich nicht, was vor­zu­zie­hen wäre.

Wie ist das zu verstehen?

Mich erschreckt der Gedan­ken, daß ich mit mehr als 70 Jah­ren in einem Alters­heim allein­ge­las­sen wäre, in denen – wie wird aus jüng­sten, trau­ri­gen Berich­ten wis­sen – man mich miß­han­delt. Aber noch schlim­mer sind die Ver­su­che, die­sen Skan­dal in den Griff zu bekom­men. Jüngst wur­de dem Pfle­ge­per­so­nal emp­foh­len, sich von ihren Pati­en­ten ein Jugend­fo­to geben zu las­sen. Viel­leicht wür­den sie sich ihrer bes­ser anneh­men, wenn sie sie bei Gesund­heit, jung und hübsch sehen. Das ist dra­ma­tisch, weil die­se abschät­zi­ge Men­ta­li­tät weit­ver­brei­tet ist. Man sucht das Gute nicht mehr im Men­schen, son­dern anhand sei­nes Ran­ges, Besit­zes, sei­nes Aus­se­hens, sei­ner Effi­zi­enz. Der ein­zi­ge Weg für die­se Men­ta­li­tät scheint es also zu sein, die betref­fen­de Per­son nicht mehr als das zu sehen, was sie heu­te und jetzt wirk­lich ist: hilfs- oder pfle­ge­be­dürf­tig und viel­leicht krank. Durch einen Trick sol­len selbst hier die ver­gan­ge­ne Schön­heit und Lei­stungs­fä­hig­keit moti­vie­ren, denn nur Letz­te­re zählt und scheint wert zu haben. Des­halb wie­der­ho­le ich: die ein­zi­ge Lösung ist lang­fri­stig nur eine Wie­der­be­le­bung des Glau­bens. Alles ande­re bleibt Illu­si­on, ist längst durch den Fak­tor Kosten an sei­ne Gren­zen gesto­ßen und über­for­dert das Gemein­we­sen. Die Ent­so­li­da­ri­sie­rung und Abschie­bung von Auf­ga­ben auf die „effi­zi­en­te­re“ All­ge­mein­heit ist finan­zi­ell ein nicht schul­ter­ba­rer Trugschluß.

Einleitung/​Übersetzung: Tempi/​Giuseppe Nardi
Bild: Tempi

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