(Rom) Die Befreiungstheologie hat einen schmerzhaften Weg hinter sich. Sie hat viel Leid verursacht. In ihrem Namen verließen verwirrte Seminaristen die Priesterseminare und Ordensleute ihre Klöster, um mit der Waffe in der Hand gegen „Ungerechtigkeiten“ zu kämpfen. Das Ziel war die „Befreiung des Menschen“ von „schreiendem Unrecht“. Das Heil sollte eine „gerechtere Welt“ bringen, die man sich von der Errichtung „sozialistischer“ Sowjetrepubliken versprach. Die Richtungen und Schattierungen waren mannigfaltig, die Grundprämisse war jedoch der Marxismus. Christus wurde als marxistischer Befreier und das frühe Christentum als Ur-Kommunismus einer politischen Ideologie dienstbar gemacht. Bald 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblock gibt es Signale in Rom, eine vom Marxismus gereinigte Befreiungstheologie aus der Quarantäne zu entlassen.
1984 Verurteilung der marxistischen Befreiungstheologie
Die katholische Kirche sah das soziale Leid, wußte aber um den Irrtum des Marxismus, der jeden in die Irre und vom Glauben wegführen mußte, der sich ihm anschloß. Der Konflikt gipfelte in der Verurteilung mehrerer Befreiungstheologen und schließlich in den berühmten Erklärungen der Glaubenskongregation unter dem damaligen Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger, die erste erfolgte 1984 (Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung), mit denen die Befreiungstheologie verurteilt wurde.
Die Sache war jedoch schon damals komplizierter. Doch nur wenige haben die ausführlichen Dokumente gelesen. Die Glaubenskongregation verurteilte nicht die Befreiungstheologie als Ganze. In einem präzise formulierten Argumentationsstrang zeigte sie die Irrtümer auf, die sich in diese Theologie lateinamerikanischer Prägung eingeschlichen hatten. Was kategorisch verworfen wurde, war die marxistische Richtung der Befreiungstheologie und damit die wichtigste und lautstärkste Strömung, die sich durch marxistisch geprägte Diktaturen in Lateinamerika und den kommunistischen Staaten des Osten gestützt wußte. Man könnte auch sagen, Marxisten und Kommunisten war die Befreiungstheologie ein willkommener Bündnispartner in vielen katholisch geprägten Ländern, die man gerne hegte und pflegte.
Erlauben veränderte Zeiten Neubewertung?
Die Zeiten haben sich geändert. Das Sowjetreich ist seit mehr als 20 Jahren Vergangenheit. Die marxistisch orientierten Regime Lateinamerikas können sich nicht mehr darauf stützen. In der katholischen Kirche gibt es auf höchster Ebene Signale, daß man der Meinung ist, die vom Marxismus gereinigte Befreiungstheologie aus der Quarantäne entlassen zu können.
Der Vatikanist Andrea Tornielli sieht im „neuen Klima“ seit der Wahl des ersten lateinamerikanischen Papstes den Anstoß dazu. Signale sind die Wiederaufnahme des Seligsprechungsprozesses für den salvadorianischen Erzbischof Oscar Romero, der 1980 während der Zelebration einer Heiligen Messe am Altar erschossen wurde. Täter waren rechte Militärs. Seither gilt Erzbischof Romero vor allem linkskatholischen Kreisen als Märtyrer. Eine Verehrung, die oft mehr politischer als religiöser Natur scheint. Romero selbst hatte drei Monate vor seinem Tod gesagt, mit seiner Ermordung zu rechnen: „Sie werden mich töten, ich weiß nicht, ob die Rechten oder die Linken“ (siehe eigenen Bericht).
Der deutsche Bischof und der peruanische Befreiungstheologe: Das Buch von Müller und Gutierrez
Papst Benedikt XVI. ernannte im Juli 2012 den deutschen Bischof Gerhard Ludwig Müller aus Regensburg zum neuen Präfekten der Glaubenskongregation. Müller unterhält seit langem enge Kontakte zu Lateinamerika. Mehrfach reiste er dorthin, um seinen Kontakt mit dem peruanischen Dominikaner und bekannten Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez zu vertiefen und das Leben der Campesinos kennenzulernen.
Müller und Gutierrez veröffentlichten 2004 das gemeinsame Buch: An der Seite der Armen. Theologie der Befreiung im Sankt Ulrich Verlag. Die Kombination der beiden Autoren erschien bereits als Sensation. Ein „stramm konservativer“ deutscher Bischof und der „Vater der Befreiungstheologie“? Der Priester aus dem Wohlstandüberflußland Deutschland und der Priester aus den peruanischen Slums? Sozialromantikern mag sofort das Herz höher schlagen. Die Sache geht jedoch tiefer. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb damals in ihrer Rezension , daß sich der Band nicht zufällig durch eine „konstruktiv-versöhnliche Haltung“ auszeichne. Kirche und Befreiungstheologie näherten sich einander wieder an. Die Befreiungstheologie werde als „eine Stimme im Pluralismus der Theologien“ gesehen.
Es handelt sich nicht mehr um die Befreiungstheologie der 70er Jahre. Die Zeiten haben sich geändert, die politische Gesamtkonstellation. Müller und Gutierrez versuchten dem Rechnung zu tragen und „das Anliegen der Theologie der Befreiung unter den veränderten politischen Bedingungen fortzuschreiben“ mit Stichworten wie Globalisierung, Informationstechnologien und andere mehr. Was die Stichhaltigkeit der Situationsanalyse anbelangt, konnte die Neue Zürcher Zeitung dem deutsch-peruanischen Opus allerdings nicht soviel abgewinnen, aber das steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Italienische Ausgabe erschienen: Kein Zufall sondern Signale einer Richtungsänderung
Das Buch signalisiert vor allem eine neue Entspannung. Das bestätigt die soeben erschienene italienische Ausgabe, die am 9. September in die Buchhandlungen kommt. Der Untertitel wurde noch um „Theologie der Kirche“ ergänzt. Weder der Sankt Ulrich Verlag in Augsburg noch die Edizioni Messaggero di Sant’Antonio in Padua sind linkskatholische Kampfverlage, sondern Ausdruck des offiziellen kirchlichen Lebens. Am kommenden Sonntag werden Gutierrez und Kurienerzbischof Müller die Ausgabe beim Literaturfestival in Mantua vorstellen. Nun aber ist es nicht mehr ein deutscher Bischof, sondern der Präfekt der Glaubenskongregation, der an der Seite Gutierrez auftritt und spricht. Der Präfekt jener Kongregation, die vor 30 Jahren die Verurteilung aussprach.
Die Schritte sind nicht als Zufallsprodukt zu werten, sondern als Versuch, eine vom Marxismus gereinigte und zahnlos gewordene Befreiungstheologie zu integrieren. Gutierrez Schriften waren unter Joseph Kardinal Ratzinger von der Glaubenskongregation eingehenden Prüfungen unterzogen worden. Eine Verurteilung wurde gegen ihn nie ausgesprochen, während gegen andere Befreiungstheologen, die Jesus mit Marx eintauschten, Disziplinarmaßnahmen verhängt wurden. Einer von ihnen, der ausgesprungene Franziskaner Leonardo Boff ist besonders lästig. Stets auf der Suche nach Medienöffentlichkeit versucht er aus der Ferne „Ratschläge“ zu erteilen. Vor dem Konklave forderte er noch, daß „so einer wie“ Kardinal Bergoglio gar nicht an der Wahl eines Papstes teilnehmen sollte dürfen. Seit dessen Wahl lobhudelt er um das neue Kirchenoberhaupt herum. In beiden Fällen geht es aber immer nur darum, daß Leonardo Boff seine eigene „Botschaft“ an den Mann bringen kann, nie die Lehre der katholischen Kirche.
Historisierung einer vom Marxismus befreiten und zahnlos gewordenen Befreiungstheologie?
Die Zeit ist reif, scheint man in Rom zu denken, die Befreiungstheologie ihrem historischen Kontext zu überlassen. Mit anderen Worten, der Konflikt mit dieser Theologie gehört der Vergangenheit an, weil es die aggressiv-marxistische Befreiungstheologie in ihrer damaligen Form als Teil einer marxistischen Weltrevolution nicht mehr gibt. Es sei nun Aufgabe der Historiker, sich mit den Ursachen zu befassen, die zu ihrer Entstehung führten, mit ihren Ideen und Auswirkungen einschließlich des von Bischof Müller im gemeinsamen Buch von 2004 zitierten Geheimdokuments von 1980 der „Gruppe von Santa Fe“ an den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan über die Bedrohung durch die Befreiungstheologie, die die katholische Kirche „in eine politische Waffe gegen den Privatbesitz“ verwandelt habe.
Macht Papst Franziskus, der Gegner der marxistischen Theologie eine Versöhnung möglich?
Mit der Wahl des lateinamerikanischen Papstes scheint sich ein Kapitel abzuschließen. Papst Franziskus mußte für seinen Widerstand gegen die marxistischen Befreiungstheologen persönliche Opfer bringen. Er wurde jahrzehntelang bis zu seiner Papstwahl von Teilen seines Jesuitenordens isoliert und gemieden. Mehrere Jahre war er vom Orden in die argentinische Provinz verbannt worden. Diese Haltung Bergoglios war mit ausschlaggebend, daß er 1992 von Johannes Paul II. zum Weihbischof von Buenos Aires ernannt wurde. Bergoglio selbst wird teilweise als Befreiungstheologe bezeichnet, was er allerdings nie war. Im historischen Kontext der sozialen Verhältnisse, der politischen Rahmenbedingungen und der harten Auseinandersetzung mit den marxistischen Befreiungstheologen und deren Verführung junger Seminaristen, Priester und Ordensleute, darunter auch etlicher Jesuiten suchte Jorge Mario Bergoglio seine eigene Antwort auf den Ruf des Evangeliums nach einer Option für die Armen. Sie wurzelt in der Volkstheologie von Lucio Gera und Rafael Tello. Ein zentraler Unterschied zwischen der Volkstheologie und Befreiungstheologie liegt darin, daß der bewaffnete Kampf der durch eine praktizierte Armut ersetzt wurde.
„Die ‚Armen‘ sind demzufolge primär nicht eine hilfsbedürftige soziologische Realität, sondern ein theologisches Subjekt, von dem man lernen soll: ‚Diese pädagogische Haltung hat eine religiöse Wurzel: das Verhältnis des [armen] Volkes zu Gott wäre ursprünglicher, weil die materielle Verunreinigung [in diesem Verhältnis] fehlt‘“, schrieb der katholische Historiker Roberto de Mattei zwei Wochen nach der Wahl von Papst Franziskus in einer ersten Analyse von dessen Theologie. Als Erzbischof von Buenos Aires bedeutete dies für Bergoglio, ohne Eskorte und ohne Begleitung die Favelas aufzusuchen.
Der katholische Einsatz für die Armen, konstituierendes Wesensmerkmal des Christentums seit seinen Ursprüngen, kann als solcher geltend gemacht werden, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, der marxistischen Ideologie oder einer anderen Ideologie zu huldigen. Sucht die Kirche nach neuen Impulsen und Verbündeten um sich einem hemmungslosen Kapitalismus, der Gewinn und Konsum zum einzigen Maßstab erhebt, entgegenzustellen?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Buena Voz
Die Überschrift ist ein bisschen irreführend.
Wie im Artikel aber richtig ausgeführt wird, sind ja nur die marxistischen Aspekte der Befreiungstheologie verurteilt worden, die „Befreiungstheologie ohne Marxismus“ als solche aber nicht . Von „Rehabilitation“ kann also keine Rede sein. Denn rehabilitieren kann man eben nur etwas, was vorher verurteilt war.