(Lampedusa) Algerien hat inzwischen eine Geburtenrate, die jener Norwegens entspricht, Tunesien eine Geburtenrate, die jener Frankreichs nahekommt. Eine demographische Entwicklung, auf die der britische Religionshistoriker Philip Jenkins aufmerksam macht. Europa wird islamischer, aber Nordafrika werde auch europäischer. Was das langfristig konkret bedeuten werde, lasse sich aber noch nicht abschätzen, so Jenkins.
Papst Franziskus reiste am Montag auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa, die geographisch bereits zu Afrika gehört. Auf der Insel, keine 130 Kilometer vor der Ostküste Tunesiens gelegen, gedachte Papst Franziskus der schiffbrüchigen Flüchtlinge. Über die Insel versuchen Afrikaner nach Europa einzuwandern. Erreichen sie die Insel, haben sie EU-Gebiet betreten und damit ihr Ziel erreicht. Hier kommen die Ärmsten unter den Migranten an. Im Verhältnis zu den Einwanderungsströmen nach Europa, sind die Migranten, die es über Lampedusa versuchen, eine verschwindend kleine Zahl. Wer etwas Geld hat, sucht sich einen der vielen bequemeren und sicheren Wege.
Papst Franziskus kündigte nach seiner Wahl an, daß die Kirche in die Peripherie gehen solle, an die Ränder der menschlichen Existenz. Dafür steht auch Lampedusa. Der Papst reiste nicht mit einer politischen Botschaft vor die Küste Afrikas, sondern mit einer christlichen. Er kam, um die Toten zu betrauern. Um „für jene zu beten, die das Leben im Meer verloren haben, die Überlebenden zu besuchen und die Einwohner der Insel zu ermutigen“.
Implizit ist die Botschaft seiner Reise natürlich auch politischer Natur und wird allgemein auf breiten medialen Applaus stoßen, da die Masseneinwanderung zum politischen Konsens der Regierenden gehört.
Sein Hauptanliegen ist jedoch christlich und verweist auf die Ränder der Gesellschaft und ruft einer Welt das Gebot der Nächstenliebe in Erinnerung, die sich daran gewöhnt hat, die Frage im besten Fall an spezialisierte Dienstleister zu delegieren, im schlechteren Fall an den Staat.
Die große Mehrheit derer, die Lampedusa als Eintrittspforte in die EU sehen, sind Moslems. Deshalb ist Lampedusa auch ein Symbol für das, was als Eurabien bezeichnet wird und ein islamisiertes Europa meint.
Die Frage ist umstritten: Wird Europa islamisiert? Oder wird der Maghreb europäisiert? Die Fragestellungen gehen allerdings aneinander vorbei. Sie stellen keinen Gegensatz dar. Die erste Frage ist religiöser Natur, die zweite eine Frage von Gewohnheiten und Lebensstilen.
Mit Letzterer hat sich der an der Pennsylvania State University in den USA lehrende britische Historiker Philip Jenkins befaßt. Ein Forschungsschwerpunkt des Anglikaners Jenkins ist die Religionsgeschichte. Der nachfolgende Aufsatz von ihm ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Katholischen Universität von Mailand erschienen und wird dort von den zustimmenden Stellungnahmen des Moslems Khaled Fouad Allam, Professor für Soziologie der islamischen Welt an der Universität Triest und des Katholiken Giuseppe Caffulli, Direktor des ETS-Verlags der Franziskaner-Kustodie des Heiligen Landes begleitet. Der Beitrag Jenkins soll als Diskussionsbeitrag dokumentiert werden.
Die europäische Revolution erreicht die moslemische Welt
von Philip Jenkins
Es gibt eine Revolution, die Nordafrika und den Nahen Osten umwälzt. Nein, es ist nicht jene, von der man in Medien reden hört, die Proteste gegen die Diktaturen und die Unterdrückungen, die in Ägypten, Tunesien und in gewalttätigerer Form in Libyen geschehen sind. Die Revolution, auf die ich mich beziehe, betrifft zwar alle diese Länder, aber ihre Auswirkungen versprechen jeden Regimewechsel oder auch jedwede neue Verfassung zu überwinden. Während der Westen dem wenig Beachtung schenkt, erleben viele moslemische Gesellschaften einen demographischen Wandel, der sie sehr viel europäischer werden läßt: viel stabiler, viel offener für die Frauenrechte und vor allem viel „laizistischer“. Diese Veränderung steht hinter allen politischen Aufständen.
Die magische Zahl in dieser Geschichte lautet 2,1. Die Zahl repräsentiert die Fruchtbarkeitsrate, die eine Gesellschaft braucht, um den eigenen Bevölkerungsstand konstant zu halten. Wenn jede Frau in ihrem Leben durchschnittlich mehr als 2,1 Kinder hat, kann die Bevölkerung der Gesellschaft, der sie angehört, sich ausdehnen und ist eine Gemeinschaft mit viel Jugend. Wenn die Rate unter 2,1 sinkt, werden diese Bevölkerungen zunächst stagnieren und dann zurückgehen, und ihr Durchschnittsalter steigt.
Laut einem verbreiteten Stereotyp haben die Europäer die Weitsicht verloren, die es ihnen erlaubte, kinderreiche Familien zu haben, und die Religion liefert ihnen nicht notwendigerweise einen Anreiz: je näher eine Frau an Rom lebt, desto weniger Kinder hat sie. Wenn die wissenschaftlichen Beobachter auf das moderne Europa blicken, sind sie über die langfristigen Perspektiven wegen der niedrigen Fruchtbarkeitsraten in Ländern wie Italien (1,39), Deutschland (1,41) und Spanien (1,47) besorgt.[1]Fruchtbarkeitsraten, die durch die bereits in diesen Ländern lebenden Einwanderer erzielt werden, auf die einzelnen einheimischen Völker bezogen, aber noch niedriger liegen, Anm. Katholisches.info Die Fachleute sind vor allem besorgt, wenn sie diese europäischen Fruchtbarkeitsraten mit den notorisch hohen demographischen Profilen der Dritten Welt vergleichen, die auch den Nahen Osten angesteckt haben. Es ist nicht schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die Moslems des Nahen Ostens die statischen Europäer überrunden und ein islamisiertes Eurabien schaffen.
Es gibt aber ein Problem. In den vergangenen 30 Jahren haben jene nahöstlichen Länder, die gewohnheitsmäßig viele Kinder und Jugendliche hatten, einen beeindruckenden demographischen Wandel erlebt. Seit der Mitte der 70er Jahre ist die Geburtenrate in Algerien von durchschnittlich sieben Kinder je Frau auf 1,75 Kinder eingebrochen. Jene Tunesiens von 6 auf 2,03. Jene Marokkos von 6,5 auf 2,21 und jene Libyens von 7,5 auf 2,96. Heute entspricht die Geburtenrate Algeriens mehr oder weniger jenen von Dänemark und Norwegen. Jene von Tunesien ist jener Frankreich zu vergleichen.
Was ist geschehen? Alles hängt von den Veränderungen im Verhalten und den Erwartungen der Frauen in diesen sehr traditionellen Gesellschaften ab. In der gesamten Region sind die Frauen immer stärker in das höhere Bildungswesen eingebunden und in Vollzeitarbeitsstellen tätig. Diese Veränderung macht es für die Frauen schlicht und einfach unmöglich, mit einer Horde von sieben, acht Kindern zu tun zu haben. Zudem hat sich häufig das Bild, das die Frauen von der eigenen Rolle im Leben haben, durch Kontakt mit Europa verändert. Die Einwanderer in Frankreich oder Italien kehren mit veränderten Verhaltensweisen nach Hause zurück, während die Familien, die zu Hause blieben, sich schwertun, sich den Medienbildern vom westlichen Leben zu entziehen, die ihnen über Kabel und Satellit geliefert werden. Vielleicht entwickelt sich Europa und der Nahe Osten zu einem einheitlichen Eurabien. Aber man ist noch weit davon entfernt, abschätzen zu können, welches Ufer des Mittelmeers die erfolgreichere Arbeit darin leistet, die eigene Meinung der anderen aufzuzwingen. Im Augenblick scheint es, als würde der Maghreb europäischer werden.
Eine so grundlegende Veränderung hat natürlich politische Auswirkungen. In einem Land mit einer Geburtenrate der Dritten Welt ist es recht unwahrscheinlich, daß die Frauen irgendeine Form von Bildung suchen oder ihnen eine solche gewährt wird: es ist eindeutig klar, daß der Weg ihrer Karriere der von Müttern sein wird. In der Zwischenzeit vermehren sich die Heranwachsenden und Jugendlichen und werden zu einem großen Reservoire für Armeen und Milizen, da ihr Leben ausgesprochen wenig kostet (im Jemen und in Somalia, wo die Geburtenrate bei 5 und 6,4 liegt).
Aber versuchen wir uns eine Gesellschaft vorzustellen, die wir „europäischer“ nennen können, in der die Männer und Frauen um ihre Familien besorgt sind und ihre Liebe und Aufmerksamkeit lediglich in ein oder zwei Kinder investiert haben. Immer besser ausgebildet werden sie nicht mehr bereit sein, die demagogische und systematische Korruption zu akzeptieren, die von den Regierungen in diesen Gegenden praktiziert wird. Sie werden sich selbst als verantwortliche Glieder einer Zivilgesellschaft sehen mit Erwartungen und Interessen, deren Anerkennung sie einfordern werden. Sie werden das Bedürfnis nach einer vollständigen demokratischen Teilnahme spüren. Daher rühren die Aufstände, die zum Beispiel in Tunesien begonnen haben, einem Land, das eine niedrige Geburtenrate und starke Bindungen zu Frankreich hat.
Es scheint, daß die so schnellen demographischen Veränderungen auch mit der Säkularisierung zusammenhängen, einem potentiell sehr bedeutungsvollen Aspekt im Nahen Osten. Eine kleine Familie kann das Ergebnis eines Rückgangs religiöser Ideologien sein. Es kann aber auch umgekehrt sein, daß eine sinkende Geburtenrate zu diesem Rückgang führt, wie es im christlichen Europa der Fall war. Als es viele Kinder gab, wie in den 50er Jahren, hielt dieser Durck von einer gewissen Bedeutung die Familien nahe an den religiösen Institutionen, da sie eine gemeinsame religiöse Erziehung und gemeinsame religiöse Riten suchten. Das Ansehen der Kirche wuchs beachtlich, wenn die Priester jährlich Hunderte von Kinder auf die Firmung vorbereiteten. Als die Kinder seit den 70er Jahren immer weniger wurden, haben die Kirchen begonnen sich zu leeren. Gleichzeitig haben die Paare, die besonders um ihre Selbstverwirklichung besorgt waren, begonnen sehr ungeduldig gegenüber jedem klerikalen Versuch zu sein, die Moralgesetze einhalten zu machen. Besonders die Frauen begannen sich von den Kirchen zu abzuwenden.
Wenn ein europäischer Präzedenzfall als Modell dienen kann, dann könnte er als Hypothese für die religiöse Entwicklung des Maghreb in den kommenden 10 oder 20 Jahren dienen. Eine in den Schulen und der Arbeitswelt dermaßen von den Frauen abhängige Gesellschaft wie die europäische kann einfach nicht jenen Typus unnachgiebiger Orthodoxie ertragen, wie ihn die Islamisten im Bereich der Familie anbieten. Die Extremisten können nicht über Nacht verschwinden, aber sie werden ihre Botschaft in einer Zivilgesellschaft, die einen starken Sinn für die demokratischen Werte und die Gleichheit zwischen Mann und Frau hat, auf grundlegende Weise an die Gegenwart anpassen müssen.
Die Demographie erklärt natürlich nicht die gesamte Frage, spielt aber eine wichtige Rolle für jeden Versuch, die derzeitigen politischen Revolutionen im Nahen Osten zu verstehen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Asianews
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↑1 | Fruchtbarkeitsraten, die durch die bereits in diesen Ländern lebenden Einwanderer erzielt werden, auf die einzelnen einheimischen Völker bezogen, aber noch niedriger liegen, Anm. Katholisches.info |
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