(Amsterdam) Zwei christliche Kirchengebäude werden jede Woche geschlossen. Die Niederlande sind „Spitzenreiter“ bei der Säkularisierung. Ein Land, das sich seiner Freiheit rühmt, das in Europa als das freieste, liberalste Land gilt, aber auch als sehr libertin. Erzbischof Willem Jacobus Eijk von Utrecht beklagte, daß „jährlich 100 Kirchen geschlossen werden, in den vergangenen zehn Jahren waren es 1000“.
Es ist inzwischen keine Seltenheit, religiöse Einrichtungsgegenstände und andere Gegenstände aus holländischen Kirchen in der Dominikanischen Republik, in Indonesien, im Kongo, auf den Philippinen oder in ehemals kommunistischen Staaten des Ostens wie der Ukraine zu finden. Die Niederlande sind inzwischen zum aktivsten Markt für den Verkauf und die Ausfuhr von religiösen Gegenständen geworden. An Niederrhein, Maas und Schelde ist die Säkularisierung das erste Mal seit 200 Jahren wieder ein großes Geschäft geworden. Vorerst. Holland ist ein Land, in dem sich die sozialen Veränderungen sehr leicht feststellen lassen. Dies vor allem deshalb, weil die Aufteilung der Gesellschaft auf drei Pfeiler, die zuilen, nämlich Protestanten, Katholiken und Laizisten, das grundlegende Merkmal für die Nachkriegszeit war. Ein Katholik wurde in einem katholischen Krankenhaus geboren, besuchte eine katholische Schule, las katholische Zeitungen (de Volkskrant), hörte katholische Radiosender (RKK) und wählte katholische Parteien. Noch heute tragen Schulen, Krankenhäuser und Medien ihre katholischen, protestantischen oder laizistischen Etiketten je nach ihrem Ursprung.
Teilnahme an Sonntagsmesse: 1959 90 Prozent, 2012 10 Prozent
„In Holland war die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst der Katholiken die höchste von ganz Europa. Sie lag bei 90 Prozent“, sagte der Jesuit Jan Stuyt von Nimwegen. „Jetzt liegt sie bei zehn Prozent.“
Vor wenigen Tagen hat die niederländische Regierung beschlossen, den Religionsunterricht an den Grundschulen abzuschaffen. Grund ist die durch dieselbe Regierung gestrichene Finanzierung des konfessionellen Unterrichts. „Sparzwänge“ heißt das Stichwort. Niemand scheint sich wirklich aufzuregen. Es müsse gespart werden. Man spare eben dort, wo es am wenigsten wehtue. Die Reaktion ist aussagekräftig für den Zustand, in dem sich das orange Königreich befindet.
Von den 7000 Kirchen, die es in den Niederlanden gibt, stehen 4000 unter Denkmalschutz. Die anderen, die von immer weniger Gläubigen aufgesucht werden, wechseln ihren Bestimmungszweck.
Jedes Jahre werden Gotteshäuser geschlossen, verkauft oder abgebrochen. Das betrifft auch katholische Kirchen. Von 1970 bis 2008 wurden 205 katholische Kirchen abgebrochen und 148 profaniert und in Buchhandlungen, Restaurants, Turnhallen, Wohnungen und Moscheen umgewandelt.
Man schätzt, daß von den verbliebenen Kirchen, ob protestantische oder katholische, etwa 25 Prozent in der Hand von Pfarrgemeinden mit weniger als hundert praktizierenden Gläubigen sind. Sollte die derzeitige Entwicklung anhalten, sind auch sie dazu bestimmt, zu verschwinden.
Kauf und Verkauf von Kirchen und Klöstern – Immobilienmakler spezialisieren sich
Die „toten Kirchen“, wie sie genannt werden, können auch im Internet gekauft werden über die Portale www.redres.nl und www.reliplan.nl. Beide Immobilienmakleragenturen sind spezialisiert auf koop of verkoop van kerken en kloosters, auf den Kauf oder Verkauf von Kirchen und Klöstern. Das niederländische Ministerium für Unterricht, Kultur und Wissenschaft, das seit Jahrzehnten von sozialistischen oder linksliberalen Ministern geleitet wird, hat eigene Richtlinien erarbeitet, wie bei der Umwidmung aufgelassener Kirchen vorgegangen werden soll.
Die Moschee Fitih Camii in Amsterdam war eine katholische Kirche. In Holland wurde sie die „Grabeskirche“ genannt, weil sie niemand mehr aufsuchte.
Schillebeeckx „moderne“ Kirche führte in die Selbstauflösung
In den Niederlanden ist nicht nur der Atheismus ausgesprochen akzentuiert. Auch das Christentum hat eine Geschichte radikaler Gegensätze hinter sich. Die Verfallserscheinungen der katholischen Kirche werden am deutlichsten vom dominikanischen Theologen Edward Schillebeeckx symbolisiert. In den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils stieg er zu einem Star mit weltweiter Beachtung auf. Der Vertreter der Nouvelle Théologie marschierte im Gleichschritt mit der vorherrschenden progressiven Kultur seiner Zeit. Und er versuchte die Kirche auf denselben Weg zu bringen. Viele sind ihm dabei gefolgt. Im Konflikt mit Rom zu stehen war geradezu eine Auszeichnung und „sicheres“ Indiz, daß der Gemaßregelte angeblich auf der „Höhe der Zeit“ war. Mit der Zeit geriet der gebürtige Flame Schillebeeckx einfach in Vergessenheit, weil der Weg, den er eingeschlagen hatte, die Christen, die ihm folgten, in ein Christentum Light und häufig in der nächsten Generation in den Agnostizismus führte. Er wurde letztlich zum Opfer seiner eigenen Theologie, einer Theologie der Selbstauflösung.
Auf dem Konzil trat ein anderer Niederländer als Wortführer auf. Es war der Erzbischof von Utrecht, Bernard Jan Kardinal Alfrink, den Johannes XXIII. zum Kardinal kreiert hatte. Er trieb die Veröffentlichung eines Niederländischen Katechismus voran, den Schillebeeckx maßgeblich ausarbeitete. Der Katechismus ritt alle geistigen Wellen seiner Zeit vom Feminismus über die sexuelle Revolution bis hin zu dem mit religiöser Gewißheit erwarteten Endsieg des Marxismus. Entsprechend wurden Homosexualität, Abtreibung, künstliche Verhütungsmittel, Frauenpriestertum und die Abschaffung des Priesterzölibats begrüßt und beworben.
Alfrinks Niederländischer Katechismus – Konnte man noch mehr leugnen?
Aber nicht nur das: Der Katechismus leugnete faktisch fast alle Dogmen der katholischen Kirche von der Transsubstantiation über die Erbsünde bis zur Jungfrauengeburt Mariens. Die Glaubenskongregation verurteilte den Katechismus, was von den progressiven Kräften in der Kirche als unerhört autoritäre Machtdemonstration angefeindet wurde. Man konnte in radikalen Kreisen sogar das Wort vom „römischen Faschismus“ hören. „Konnte man noch mehr leugnen?“ fragen sich heute junge gläubige Katholiken.
Der Konflikt zwischen Alfrink und Kardinal Alfredo Ottaviani, dem Präfekten der Glaubenskongregation (1959–1968) [1]Von 1959–1965 übte Kardinal Ottaviani das Amt in der Funktion eines Sekretärs aus, wie der Präfekt genannt wurde, während die Glaubenskongregation bis zur Umbenennung durch Papst Paul VI. … Continue reading ließ die Widersprüche in der katholischen Kirche der Niederlande explodieren, die durch die Herausforderung durch den niederländischen Ultraliberalismus heraufbeschworen worden waren. Ein Teil der Kirche in den Niederlanden suchte die Lösung durch Anpassung. Der Spagat mußte reißen und er führte nicht so sehr zum Konflikt mit dem außerkirchlichen Liberalismus, sondern zu einem harten innerkirchlichen Zusammenprall.
1970 beschloß der niederländische Pastoralrat mit großer Mehrheit die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat abzuschaffen. Der Beschluß wurde von Papst Paul VI. als persönlicher Affront aufgefaßt. Erst zwei Jahre zuvor hatte er mit der Enzyklika Sacerdotalis coelibatus die Bedeutung und die Verbindlichkeit des Zölibats bekräftigt.
Das Wort vom „schismatischen Holland“
Seit diesem Zeitpunkt macht das Wort vom „schismatischen Holland“ die Runde. Vom leuchtenden Vorbild unter den katholischen Gemeinschaften war das Schmuddelkind der Kirche geworden.
Wie die „toten Kirchen“ der Niederlande, ist auch diese „schismatische“ niederländische Kirche tot. Ihr Idol war Hadrian VI., der einzige aus den heutigen Niederlanden stammende Papst. Im 16. Jahrhundert bestieg er den Thron Petri. Er entzog der Römischen Kurie Privilegien und entsandte einen Delegaten auf den Reichstag, um über Luthers Thesen zu diskutieren. Das ist alles richtig und dennoch hätte Hadrian VI. nicht deutlicher mißverstanden werden können. Als Schutzpatron modernistischer Theologen und libertiner Katholiken eignete er sich jedenfalls nicht.
Atheistische Pastoren – Die Niederlande glauben an das „Irgendetwas“
Folgt man einem Bericht der Tageszeitung Trouw, soll heute jeder sechste protestantische Pastor in den Niederlanden, Reformierte und Lutheraner zusammengenommen, Atheist oder Agnostiker sein.
Einer der führenden Vertreter dieses „neuen säkularisierten Klerus“ ist Pastor Klaas Hendrikse, der den Sonntagsgottesdienst an der Kirche von Gorinchem der Protestantischen Kirche in den Niederlanden abhält [2]Die Protestantische Kirche der Niederlande ging 2004 aus dem Zusammenschluß der calvinistischen Niederländisch-reformierten Kirche, der calvinistischen Gereformeerde Kerken und der … Continue reading. Der Pastor wurde 2007 durch sein Bekenntnis bekannt, an keinen personalen Gott zu glauben, „weil es einen solchen gar nicht gibt“.
Seinen Atheismus legte Hendrikse inzwischen in zwei Bücher vor: Geloven in een God die niet bestaat. Manifest van een atheï stische dominee (Glauben an einen Gott den es nicht gibt. Manifest eines atheistischen Pastors, 2007) und God bestaat niet en Jezus is zijn zoon (Es gibt keinen Gott, und Jesus ist sein Sohn, 2011). Für den protestantischen Pastor existiert weder ein Leben nach dem Tod noch ist Jesus von den Toten auferstanden. Dennoch denkt er nicht an einen Rücktritt von seinem Pastorenamt. Er sehe sich vielmehr als Dienstleister, da er menschliche Bedürfnisse befriedige. Man könnte von einem fortgeschrittenen Stadium der Schizophrenie sprechen oder perfektem Gauklertum.
Der Religionssoziologe Hjime Stoffels von der Freien Universität Amsterdam schrieb, daß die Niederlande heute an das „Irgendwas“ glaube, eine Mischung aus progressivem Christentum und postmodernem Agnostizismus mit individuellen esoterischen oder andersreligiösen Einsprengseln. Auch die katholische Kirche habe sich dem Synkretismus geöffnet.
Augustinerkirche Nimwegen: Pastor und katholischer Laie feiern „demokratischen“ Gottesdienst
In Nimwegen wird in der dortigen Augustinerkirche der Gottesdienst von einem Protestanten und einem Katholiken gemeinsam gefeiert, die sich im Rotationsverfahren abwechseln, so daß einmal der eine den Wortgottesdienst leitet und der andere den pseudo-eucharistischen Teil und umgekehrt. Beim Stichwort Augustiner kommt der jüngst erfolgte, zwei Millionen teure eliminatorische Umbau der Augustinerkirche in Würzburg in Erinnerung, den ein inzwischen zum Priester geweihter Augustiner mit zweifelhaften Ansichten vorangetrieben hatte.
Der Katholik ist ein einfacher Laie, meist eine Frau. Statt des Eucharistischen Hochgebetes des Römischen Missale verwenden die beiden lieber frei „komponierte“ Texte progressiver Jesuiten. Brot und Wein werden an alle ausgeteilt. Von einer gültigen Meßfeier kann ohnehin keine Rede sein. Die Macher nennen das Ganze „demokratische Kirche“.
Antwort auf Summorum Pontificum war „Alternativritus“ von Kerk en Ambt
Als Papst Benedikt XVI. 2007 das Motu proprio Summorum Pontificum ankündigte, antworteten die niederländischen Kirchen mit Kerk en Ambt (Kirche und Amt), einer Art Handbuch für einen niederländischen Weg des Christentums. Der von Schillebeeckx vertretene Geist, der selbst nicht mehr daran beteiligt war, ist kräftig in die Broschüre eingeflossen. Faktisch handelt es sich um einen „Alternativritus“, in dem unter anderem häufig nicht konsekrierte Hostien unter die konsekrierten gemischt und gemeinsam verteilt werden. Wer was bekommt, weiß keiner. Die Logik jener, die den Glauben an die Realpräsenz Christi den Menschen austreiben wollen. Der hierarchischen Kirche, in diesen Kreisen „Pyramidenkirche“ genannt, müsse eine „Körperkirche“ entgegengesetzt werden, in der die Laien die Hauptrolle spielen.
Das Verständnis der Eucharistie ist zwangsläufig auch „alternativ“. „Die Vorstellung, daß die Messe ein ‘Opfer’ ist, ist an ein ‘vertikales’, hierarchisches Modell eines zölibatären männlichen Priesters gebunden, wie es eine antiquierte Sexualtheorie vorschreibt“, heißt es in der Broschüre.
Sechs Prozent Moslems: Tendenz steigend – Kirchen werden zu Moscheen
Auf 16 Millionen Einwohnern kommen heute 900.000 arabisch-moslemische Einwanderer und 20 Moscheen allein in Amsterdam. Der moslemische Bevölkerungsanteil wird 2013 auf sechs Prozent geschätzt. Tendenz steigend. Die Oude Kerk, die Alte Kirche, ist die älteste Kirche der Stadt. Die 1306 dem heiligen Nikolaus geweihte Kirche war 1345 Schauplatz eines eucharistischen Wunders. 1578 wurde nach dem Sieg der Calvinisten eine reformierte Kirche daraus, die sie eine zeitlang parallel auch als Börse nützten. Heute befindet sich die Kirche mitten im Rotlichtdistrikt der Stadt und ist fast ausschließlich von Bordellen umgeben. Die Kirche selbst dient für Kunstausstellungen oder wird bei Bedarf auch für Gala-Essen vermietet. In der Advent- und Weihnachtszeit sind die roten Weihnachtsmannkapuzen, die von den Prostituierten getragen werden, die einzigen Hinweise auf das christliche Hochfest.
Die ebenfalls einst katholische, heute reformierte Nieuwe Kerk, die aus dem 15. Jahrhundert stammende, der Gottesmutter Maria geweihte spätgotische Krönungskirche der niederländischen Könige (seit 1811) ist hingegen ein Museum.
Ende der 60er Jahre: Seminaristen hielten Priestertum für erledigt – und gingen
Wirft man einen Blick in das Verzeichnis des katholischen Priesterseminars von Haarlem, fällt auf, wie die Priesterweihen Ende der 60er Jahre dramatisch einbrechen. 1968 wurde nur ein Neupriester geweiht. Das Priestertum schien selbst den Seminaristen von damals am Ende. Sie suchten sich einen anderen Weg.
Das Ordenswesen erlebte gleichfalls einen radikalen Einbruch. Allein seit 1996 ist die Zahl der Ordensmänner und Ordensfrauen in den Niederlanden von 1.779 auf 1.259 zurückgegangen. Die Zahl der Priester sank von 3.131 auf 2.431. Die Zahl der Seminaristen erlebte einen Rückgang von 31 Prozent.
Die Folge war ein innerkirchlicher Umbau, der vom damals allgegenwärtigen Modernismus zu einem neuen glaubens- und kirchentreuen Nachwuchs führte. Priester- und Ordensberufungen erwachsen in den Niederlande heute fast nur mehr aus traditionellen katholischen Familien. Mit dem Schrumpfungsprozeß setzte damit bereits eine Gesundung der Kirche, wenn auch auf zahlenmäßig stark reduziertem Niveau ein. Heute wird in Haarlem sogar wieder die außerordentliche Form des Römischen Ritus zelebriert.
Aus Kirche wird Luxuswohnraum – „Der Mann, der die Kirchen schließt“
Das Erzbistum Utrecht gilt als Wiege des holländischen Katholizismus. Die Zahl der Pfarreien wurde jedoch von 316 auf 232 reduziert. Die gotische Jacobuskerk, eine der größten und ältesten Kirchen von Utrecht wurde zwischen 2007 und 2009 vom Architektenstudio Zecc in eine Luxusresidenz umgebaut. Zecc ist spezialisiert auf die Umwandlung von leeren Kirchen in Wohn- und Geschäftsräume der Nobelklasse im Bauhaus-Stil. Das Ganze nennt sich WoonkerkXL (WohnkircheXL).
Die Kirchenbänke der niederländischen Kirchen werden nach Längenpreis verkauft. Die kürzeren zu 3,6 Metern Länge werden für 40 Euro angeboten. Die längeren zu 6 Metern für 60 Euro. Marc de Beyer, der Kurator der Kunstmuseen wurde von der Stadtverwaltung mit dem Verkauf der religiösen Gebäude beauftragt. Er ist „der Mann, der die Kirchen schließt“.
1958 waren 42 Prozent der Niederländer katholisch, 2013 noch 26 Prozent
Die Entwicklung betrifft vor allem die Katholiken. Sie riskieren in den nächsten Jahren die Hälfte ihrer Kirchen zu verlieren. Das scheint ein Paradox, da die Protestanten die Mehrheitsbevölkerung stellten. Deshalb waren ja die Niederlande als eigener Staat entstanden. 1830 waren 34,5 Prozent der Niederländer katholisch. 63 Prozent protestantisch. 1958 erreichte der Katholikenanteil mit knapp 42 Prozent seinen Höhepunkt. Die Entchristlichung erfaßte die Protestanten jedoch viel früher als die Katholiken, weshalb es heute mehr Katholiken als Reformierte und Lutheraner in den Niederlanden gibt. Laut jüngsten Angaben (die allerdings etwas voneinander abweichen), die folgende stammt aus dem Jahr 2008, sind heute 26 Prozent der Niederländer katholisch, aber nur mehr 17 Prozent protestantisch.
Die protestantischen Kirchen verlieren jedes Jahr 60.000 Angehörige. Hält der Rhythmus an, wird die liberale protestantische Mehrheitsrichtung in den Niederlanden 2050 ausgestorben sein, wie die Vertreter der Protestantischen Kirche der Niederlande selbst sagen. Übrigbleiben werden die streng calvinistischen Gruppen des sogenannten Bibelstreifens, der sich historisch entlang der Grenze zum katholischen Süden und Südosten des Landes herausgebildet hatte. Sie verfügen über die Christen Unie (CU) und die Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP) auch über einen politischen Arm. Sie erzielten bei den jüngsten Parlamentswahlen zusammengezählt 5,2 Prozent der Stimmen.
Buchhandlung, Supermarkt, Skate Park, Lap Dance – Die neue Nutzungsbandbreite
In Helmond, einer Stadt mit 90.000 Einwohnern in Nordbrabant, das zum katholischen Süden des Landes gehört, ist ein Supermarkt in eine entweihte Kirche eingezogen. In der einstigen Dominikanerkirche von Maastricht hat eine Buchhandlung geöffnet und je eine Kirche in Utrecht und Amsterdam wurde in eine Moschee umgewandelt.
In der Josephskirche in Arnheim befindet sich seit Ende November ein Skate Park mit Rampen und Hürden im Hauptschiff. Die Eintrittskarte für die Skater kostet vier Euro. Dafür kann man einen ganzen Tag lang zwischen Heiligenstatuen rollschuhlaufen.
Die Katharinenkirche von Doetinchem in Geldern hat der protestantische Pastor Klaas Bakker der örtlichen Karnevalsgesellschaft für ihre Karnevalssitzung überlassen. Im Hauptschiff der Kirche, die bis zur reformatorischen Kirchenspaltung einer der Hauptorte der katholischen Kirche der Gegend war, wurde eine Stange befestigt und dann trat eine Lap Dance-Tänzerin auf, die sich an der Stange zur Ergötzung des Publikums abreagierte.
In Amsterdam hat der Gebäudekomplex, den die Einwohner De Liefde (Die Liebe) nannten und ein Kloster mit Kirche und Pfarrhaus umfaßte, einer Wohnanlage weichen müssen.
Fast die Hälfte bezeichnet sich als „konfessionslos“
Die größte Gruppe in den Niederlanden sind heute die Buitenkerkelijk, die Konfessionslosen. Auch in den katholischen Gebieten und Arbeitergegenden wie Limburg nahe zu Deutschland, wo die Menschen auf beiden Seiten der Grenze noch dieselbe Mundart sprechen, ist die Zahl der Gläubigen drastisch zurückgegangen. Eine erschütternde Entwicklung für ein Land, in dem bis in die Nachkriegszeit hinein, das Leben fast jedes Einzelnen vom Calvinismus oder vom Katholizismus traditioneller Prägung geformt wurde. Der Sonntag galt allen unter calvinistischem Einfluß in so strengem Maße als heilig, daß man kaum die Betten machen oder die Zeitung lesen durfte.
Neue Religiösität
Religionswissenschaftler und Kirchenexperten machen seit Jahren darauf aufmerksam, daß die Religion einerseits aus dem öffentlichen Leben verschwindet, aber in den Häusern neue Formen der Blüte zeigt.
Das Buch De Toekomst van God (Die Zukunft Gottes) erzählt von Unternehmen, internationalen Firmen und Industriebetrieben, in denen in immer größerer Zahl nach amerikanischem Stil ein Morgengebet gehalten wird.
Eine Blüte erleben auch die Hauskirchen. Das Phänomen ist im katholischen Bereich erst im Entstehen und zeigt andere Charakteristiken als im protestantischen Bereich. Dort sind Hauskirchen eine Art Do it your self-Kirchen.
Erosionsprozeß am Beispiel christlicher Parteien
Auf die streng calvinistischen Parteien im niederländischen Parlament wurde bereits hingewiesen. Die Katholiken kennen nichts dergleichen. Die Katholische Volkspartei (KVP) ging 1980 im Christen Democratisch Appà¨l (Christdemokratischen Aufruf, CDA) auf, einem Zusammenschluß mit zwei protestantischen Parteien. Die KVP allein erreichte bei den Parlamentswahlen 1963 noch 32 Prozent der Stimmen. Im Durchschnitt errang sie 30 Prozent, die sie seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gehalten hatte. Die beiden protestantischen Parteien erzielten 1963 gemeinsam weitere 17 Prozent der Stimmen. Bereits 1977 traten die drei Parteien als gemeinsame CDA-Liste an und erreichten zusammen nur mehr 32 Prozent, statt der 49 Prozent von 1963. 2012 belegte die einst stärkste Partei der Niederlande mit 8,5 Prozent der Stimmen nur mehr den fünften Platz und hat kaum mehr Stimmen als die beiden streng calvinistischen Parteien zusammen.
Nicht nur die liberalen protestantischen Kirchen zeigen Auflösungserscheinungen. Auch die progressistischen Katholiken verschwinden. Sie haben sich gewissermaßen selbst abgeschafft. Die famos-berüchtigte Gruppe 8. Mai, die 1985 gegen den Besuch von Papst Johannes Paul II. in den Niederlanden protestierte, mußte sich 2003 wegen Mitgliedermangels auflösen.
Der Katholikenanteil wird in den Niederlanden, sollte der Trend anhalten, bis 2020 insgesamt auf etwa zehn Prozent fallen.
Besuch Johannes Pauls II.: Proteste machten Abwendung sichtbar
Die während des Zweiten Vatikanischen Konzils von Alfrink und Schillebeeckx eingeläutete „Kulturrevolution“ erlebte beim Besuch von Johannes Paul II. seinen sichtbaren Höhepunkt. Eigentlich war es mehr ein Abgesang. Der Mitte der 60er Jahre mit revolutionärer Umbruchstimmung einsetzende liberale Weg in der katholischen Kirche des Landes führte in die Abwendung von der Kirche. Als Johannes Paul II. Utrecht, die katholische Hauptstadt der Niederlande besuchte, blieben die Straßen leer. Als der Papst vorbeifuhr, sah man auf einem Balkon vier Dominikaner in ihrer Ordenstracht auftauchen. Jeder hielt eine große Fotografie von Leonardo Boff in der Hand, einem der führenden Vertreter der von Rom verurteilten, marxistischen Befreiungstheologie.
In ’s‑Hertogenbosch nahmen an der Prozession mit dem Papst nur 8000 Gläubige teil. Mehrfach wurde das Kirchenoberhaupt mit dem respektlosen Ruf Popie Jopie „begrüßt“. Man sah nur die Kirchenfahne. Die niederländische Fahne wurde aus Protest nicht ausgehängt. Und dies nicht etwa von den calvinistischen Niederländern, sondern in den katholischen Gegenden des Landes.
Seit 1568 bestimmte der calvinistische Bildersturm die niederländische Landschaft
Manche Wissenschaftler führen die radikale Entchristlichung der Niederlande auf die Geschichte des Landes zurück. Kaiser Karl V. von Österreich versuchte die Ausbreitung protestantischer Thesen einzudämmen, unter anderem durch das Verbrennen von Luthers Schriften und die Einrichtung der Inquisition im Jahr 1522.
Zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens, der allerdings nur für die Lutheraner galt, hatte sich der Calvinismus in den Nordprovinzen durchgesetzt, während die Südprovinzen, zu denen damals auch das heutige Belgien gehörte, katholisch blieben. Als Karl V. das habsburgische Erbe zwischen seinem Sohn und seinem Bruder aufteilte, die die spanische und die österreichische Linie des Hauses begründeten, kamen die Niederlande zur spanischen Linie. Ab 1568 kam es zum Aufstand der calvinistischen Niederländer gegen die spanische Herrschaft. Die Calvinisten forderten die Anerkennung wie sie 1555 den Lutheranern gewährt worden war. 1581 erklärten sie die Unabhängigkeit. Ein harter, langwährender Konflikt mit religiösem, politischem, wirtschaftlichem und ethnischem Hintergrund war die Folge, der erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden endete.
Die Niederlande wurden als selbständiger Staat anerkannt. Nur um Habsburg zu schwächen, wurden absurderweise auch katholische Provinzen dem calvinistischen Staat zugeschlagen. Die Katholiken stellten ein gutes Drittel der Einwohnerschaft der nun unabhängigen Republik der Sieben Vereinigten Niederlande. Damit begann die Verfolgung der Katholiken. Den katholischen Gebieten wurde jede Selbstverwaltung verweigert, die die calvinistischen Provinzen genossen. Sie wurden direkt von den Generalstaaten verwaltet. Die katholische Kirche wurde verboten, ebenso die Feier der heiligen Messe oder anderer religiöser Handlungen.
Die antikatholische Unterdrückung durch das „Land der Toleranz“ dauerte drei Jahrhunderte. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde in den Niederlanden das Verbot der katholischen Kirche offiziell aufgehoben.
Heute ist es der atheistische Ikonoklasmus, der die niederländische Landschaft umformt
Als Papst Johannes Paul II. in der Stadt war, versuchte eine Gruppe Jugendlicher das Reiterstandbild des heiligen Willibrord, des Patrons der Niederlande, vom Sockel zu stürzen. Die Geste war ein Signal der Zeit, das einherging mit der Vermottung der kirchlichen Paramente und der feierlichen Meßgewänder, der Ersetzung der Hostien durch Hühnerfleischstückchen, der Verachtung des Altars (auch des Volksaltars) und dessen Ersetzung durch eine lange Tafel, während der Rest der heiligen Geräte und der nicht niet- und nagelfesten Kircheneinrichtung inzwischen auch auf Ebay verscherbelt wird.
Was in diesem kleinen und stark bevölkerten Eck des Alten Kontinents geschieht, wo die Säkularisierung auf fatale Weise fast vollendet ist, kann in dem was man seit Kriegsende Westeuropa nennt, auch anderswo geschehen. Um es mit den Worten des britischen Journalisten Douglas Murray zu sagen: „Dort wo Holland hingeht, folgen auch die anderen europäischen Staaten.“
Katholische Erneuerung findet bereits statt – Die Niederlande sind Missionsland
Rom hat sich seit dem Pontifikat Johannes Pauls II. bemüht, den modernistischen Trend in den Niederlanden zu stoppen. Das Schisma konnte vermieden werden, eine Trendumkehr ist noch nicht gelungen. Dazu war das Vorgehen zu zaghaft, zu sehr daran ausgerichtet eine neue Kirchenspaltung zu vermeiden, die sich, das die große Befürchtung in Rom, auf andere Länder ausweiten konnte.
Neben den vielen Verfalls- und Auflösungserscheinungen sind auch Zeichen der Erholung und eines neuen Aufblühens festzustellen. Italienische Katholiken unterstützen den Aufbau eines Benediktinerinnenklosters in den Niederlanden mit anfangs 12 italienischen Nonnen. Die traditionsverbundene Seite Messainlatino regte jüngst an, daß auch die traditionsverbundenen Katholiken ein Neuevangelisierungsprojekt in den Niederlanden ins Leben rufen und unterstützen könnten.
Text: Il Foglio/Giuseppe Nardi
Bild: Aaron Zwaal/031bmx/RefDag/
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↑1 | Von 1959–1965 übte Kardinal Ottaviani das Amt in der Funktion eines Sekretärs aus, wie der Präfekt genannt wurde, während die Glaubenskongregation bis zur Umbenennung durch Papst Paul VI. Heiliges Offizium hieß. |
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↑2 | Die Protestantische Kirche der Niederlande ging 2004 aus dem Zusammenschluß der calvinistischen Niederländisch-reformierten Kirche, der calvinistischen Gereformeerde Kerken und der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Königreich der Niederlande hervor. |