(Rom) Mit einem langen, am 25. August in der Tageszeitung Il Foglio veröffentlichten Artikel regte Giuliano Ferrara, laut Eigendefinition ein frommer Atheist, die Veröffentlichung eines „neuen Syllabus“ an. Ein Verzeichnis der „besorgniserregendsten zeitgenössischen Blödsinne“. Die Anregung wurde am 20. September vom katholischen Publizisten Francesco Agnoli in einem Beitrag in derselben Zeitung aufgegriffen. Agnoli verweist auf eine empfehlenswerte Ausgabe des Syllabus von Papst Pius IX. aus dem Jahr 1998 mit einem Vorwort von Gianni Vannoni, einem ausgewiesenen Experten für Geheimgesellschaften. Im Anhang wurde ein Brief von Juan Donoso Cortés abgedruckt, des wahrscheinlich scharfsinnigsten katholischen Denkers des 19. Jahrhunderts, den dieser 1852 an Kardinal Raffaele Fornari, den Präfekten der Kongregation für das katholische Bildungswesen an der Römischen Kurie schrieb.
In dieser Ausgabe des Syllabus des Verlagshauses Cantagalli sind die grundlegenden Konzepte erfaßt und dargestellt, die das richtige Verständnis des päpstlichen Dokumentes ermöglichen, das so oft und so gerne mißverstanden und verunglimpft wurde.
In erster Linie wird daran erinnert, daß „Irrtum nicht gleich Irrtum“ ist. Indem Papst Pius IX. eine Sammlung bereits verurteilter Irrtümer präsentierte, verwies er auf vorhergehende Verurteilungen, die nicht alle die selbe Rechtsverbindlichkeit haben. Von den im Syllabus angeführten Irrtümern sind „einige mit dogmatischer Autorität verurteilt, und damit unfehlbar, andere nur mit menschlicher Autorität und daher fehlbar“. Die Unterscheidung ist keineswegs unbedeutend, wie Vannoni betont, zumal sich die katholische Welt häufig in zentralen Fragen spaltet zwischen jenen, die im Grund nicht an die göttliche Mission der Kirche glauben (für diese Richtung befinden sich Papst und kirchliche Hierarchie fast immer im Unrecht), und jenen, die jegliche Erklärungen jedes einzelnen Papstes verabsolutieren, und damit ebenfalls der Kirche keinen guten Dienst erweisen.
Lange Entstehungsphase des Syllabus: Donoso Cortés und der Ursprung der Irrtümer
Vannoni erinnert an die schwierige Entstehungsphase des Dokuments beginnend von einem Schreiben, mit dem Kardinal Fornari im Auftrag von Papst Pius IX. verschiedene katholische Persönlichkeiten aufforderte, an der Verfassung des Dokumentes mitzuwirken. Unter den Angeschriebenen befanden sich auch zwei Laien von herausragender Bedeutung und Intelligenz, wie der Franzose Louis Veuillot und der schon genannte Spanier Cortés.
Pius IX. veröffentlichte den Syllabus am 8. Dezember 1864 ausdrücklich zum 10. Jahrestag der Verkündung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis. Der Papst stellte damit einen direkten und bewußten Zusammenhang zwischen der Verurteilung der modernen Irrtümer (in religiösen, politischen oder anthropologischen Fragen) und dem Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens her. Mehr noch als über die verschiedenen, richtigen und prophetischen Verurteilungen des Kommunismus, des Nationalismus oder der staatsvergötternden Statolatrie nachzudenken, die alle, sobald man sie verabsolutiert, ihr grausames Gesicht offenbarten und sie taten es alle im 20. Jahrhundert, scheint es notwendig, diesen vom Papst gewollten Zusammenhang zu ergründen.
Warum Pius IX. Dogma und Syllabus koppelte: die Ursünde
Die Frage, warum der Papst diesen Zusammenhang herstellte, ist schnell beantwortet. Pius IX. hatte sehr gut verstanden, daß der große Betrug der modernen Kultur darin bestand und besteht, an einen von Natur aus guten Menschen zu glauben, das heißt, einen Menschen ohne Ursünde, der keiner Gnade Gottes bedarf, die ihm durch die Sakramente gewährt wird, weder für sein persönliches, noch familiäres, soziales oder politisches Leben. Eine Verurteilung der wichtigsten Irrtümer, durch die daran erinnert werden sollte, daß der Mensch zwischen richtig und falsch und damit zwischen Gut und Böse entscheiden kann und muß, war daher eine perfekte Ergänzung zum verkündeten Dogma, das eine Glaubenswahrheit in Erinnerung rufen sollte, nämlich daß alle Männer und Frauen, mit Ausnahme Mariens, mit der Ursünde geboren werden und daher der Reinigung, der Vergebung und der Gnade bedürfen.
Dieser Zusammenhang war auch Donoso Cortés klar, der im genannten Brief betonte, daß zwei Irrtümer am Ursprung aller Irrtümer seien: die Leugnung, daß Gott sich um den Menschen und seine Kreaturen kümmert; die Behauptung, daß der Mensch makellos sei und daher Gott nicht braucht, sondern alles selbst kann und zwar hier und jetzt. Aus diesen Grundirrtümern, so der Spanier, entsteht die derzeitige „Epoche utilitaristischer Systeme, der großen kommerziellen Expansion, des Industriefiebers, der Frechheit der Reichen und der Ungeduld der Armen.“
Hier haben Hedonismus, Rationalismus, Individualismus ihren Ausgangspunkt und führen zu “gigantischen Katastrophen“, wie Cortés schrieb. Er fügte wahrhaft prophetisch hinzu, daß dadurch zum Schaden der „Freiheit des Menschen“ eine „gigantische Ausweitung staatlicher Macht“, „Revolutionen“ und „Tyranneien“ geschaffen werden, wie es tatsächlich seit dem 20. Jahrhundert eingetreten ist, weil das Christentum aus der vorherrschenden Kultur ausgegrenzt wurde. Cortés benennt den Grund dafür und zugleich das Gegenmittel: Der katholische Glauben ist die „einzige Religion der Erde, die den Menschen gelehrt hat, daß kein Mensch Verfügungsgewalt über einen anderen Menschen besitzt, weil jede Autorität von Gott kommt“ und daher unter Respektierung klarer Grenzen auszuüben ist.
Harte Reaktionen auf den Syllabus außerhalb und innerhalb der Kirche
Die Reaktion auf den Syllabus war von unglaublicher Härte, nicht nur außerhalb der Kirche, sondern auch innerhalb. Nicht minder hart ist sie heute, wenn jemand daran erinnert, daß das Leben eines ungeborenen Kindes unantastbar ist, auch für die Mutter oder den Vater, oder daß die Familie auf der Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau gründet. „Es gibt Menschen, die nichts falsch machen, die immer recht haben, die sich für makellos halten. Sagen Sie so jemandem, daß es das Gute und das Böse gibt, daß auch sie, wie alle, Fehler machen und irren können, daß nicht alles, was man tut, bereits gut und jedem Urteil entzogen ist. Sie werden wütend werden und toben. Genauso ist es mit der modernen Kultur, die auf der Ideologie des Fortschritts und der Vergöttlichung des Menschen gründet. Sie duldet keine kritischen Stimmen und bereitet für diese die jakobinische Guillotine, das KZ oder den Gulag vor, oder in ruhigeren Zeiten die kulturelle und soziale Ächtung im Namen einer politischen Korrektheit“, so Francesco Agnoli.
„Und dennoch ist der gesamte christliche Glauben untrennbar mit der Ursünde verbunden. Sie verlangt nach Erlösung, die in der Erwählung Mariens und ihrem Ja auf die Frage des Erzengels begonnen hat, und sie verlangt das Ja eines jeden einzelnen Menschen gegenüber Gott, der in die Welt und die Geschichte eingetreten ist aus Liebe zu uns“, so Agnoli.
Text: Il Foglio/Giuseppe Nardi
Leider ist Papst Pius IX. nicht nur in Vergessenheit sondern auch innerhalb der Kirche in Verruf geraten. Für die Nachkonzilskirche – und ihre Päpste – ist er ein Papst der Vergangenheit, der heute nichts mehr zu sagen hat.
Leider.
Ich denke, er „hat Zukunft“. Eines Tages werden sich die „modernen Päpste“ vor der Kirchengeschichte zu verantworten haben. Die gar nicht mehr versuchen, offene Häresien als solche zu kennzeichnen, geschweige denn, zu bekämpfen.
Und dann: Unser neuer Glaubenspräfekt: Er will jetzt zwischen Traditionalisten und Progressisten vermitteln, sagt er.
Das ist ein Fortschritt, wenn er nicht die Traditionalisten bekämpft…Und hoffentlich dabei bleibt!
Doch mindestens bis Pius XII. war klar, dass der Glaubenspräfekt über die Reinheit der Lehre, die Unversehrtheit des katholischen Glaubens, zu wachen hat. Und seit der frühere Glaubenspräfekt Papst ist, scheint die Stelle des „Glaubenswächters“ irgendwie vakant.