Kardinal Kurt Koch, römischer „Ökumeneminister“ und mit-maßgebliches Mitglied der Glaubenskongregation, ist in jüngster Zeit wiederholt dadurch aufgefallen, daß er sich (als einziger) öffentlich sehr restriktiv geäußert hat, was nämlich das Anforderungsprofil für eine Versöhnung der Piusbruderschaft mit Rom angeht; Wortmeldungen, die bei allem Tenor diplomatischer Zurückhaltung nicht unbedingt als sonderlich konziliant zu werten sind. – Nun muß man zumal bei Referaten Dritter, die ihrerseits alles andere als unparteiisch sind, Vorsicht walten lassen. Auf alle Fälle ergibt jedoch das medial transferierte Gesamtbild in etwa die Botschaft: vorbehaltlose Akzeptanz des ganzen Zweiten Vatikanums – und zwar einschließlich der Erklärungen „Unitatis redintegratio“, „Nostra aetate“ und „Dignitatis humanae“ – oder Draußen-Bleiben.
Im Kontext dieser Wortmeldungen ist Kardinal Kochs groß angelegte Rede im römischen Angelicum vom vergangenen Mittwoch verortet, welche die bleibende Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs vor dem Hintergrund von „Nostra aetate“ zum Gegenstand hat.
In diesem Zusammenhang stellte Kardinal Koch dezidiert fest, daß Katholisch-Sein und Nichtakzeptanz des Zweiten Vatikanums unvereinbar seien. In dem Maße nun, als diese Grenzmarkierung maximalistisch (im obigen Sinne) verstanden sein will, veranlaßt dies zu knappen, selektiv-kritischen Notizen zu Kardinal Kochs besagter Rede. Zu dieser Rede, insofern sie nämlich Aufschluß darüber gibt, wie der Kardinal seinerseits das Konzil und seine Einzeldokumente verstanden wissen will, sei es im Sinne bloßer Interpretation, sei es im Sinne einer konnotativen Fortschreibung. – Ich beziehe mich im folgenden auf die englische Originalfassung der Rede.
Zu würdigen ist nun sicher die relative Deutlichkeit, mit welcher der Kurienkardinal unter Nr. 6 die absolut-universale Heilsrelevanz Christi und in etwa auch noch seiner Kirche („and consequently the universal mission of the church“), und zwar just in ihrer hochneuralgischen Relevanz für das christlich-jüdische Verhältnis, unterstreicht. Angesichts einer ziemlich aggressiv gewordenen öffentlichen Meinung hierzu respektiere ich den Mut des Kardinals, der dazu durchaus gehört.
Einmal abgesehen von den nicht unproblematischen Salvierungen und Relativierungen in Nr. 6 zu diesem Punkt: Wohl mehr als einer Nachfrage bedürftig bleibt Kochs perspektivische Ein-Ordnung dieser konfrontativen Spannung – in welche die Jünger Christi nun einmal wie allen so auch den Juden gegenüber von ihrem göttlichen Herrn und Meister versetzt sind – in die allumfassende Klammer des Dialogs. Das Motto des Ganzen gibt der nicht umsonst an den Schluß der ganzen Rede gestellte Passus wieder: „so that Jews and Christians as the one people of God bear witness to peace and reconciliation in the unreconciled world of today and can thus be a blessing not only for one another but also jointly for humanity“ („so daß Juden und Christen als das eine Volk Gottes Zeugnis ablegen für Frieden und Versöhnung in der unversöhnten Welt von heute und von daher ein Segen sein können, nicht nur füreinander, sondern auch zusammen für die Menschheit“). Die Katholizität der Kirche Christi, die in ihrer Konkurrenzlosigkeit jeden Rahmen sprengt, erscheint hier noch einmal eingetragen in ein noch universaleres Unternehmen, nämlich des Segen-Seins für die Welt, in welchem sich Ecclesia Christi und Synagoge komplementär verhalten sollen. – Dies mag zwar einer weniger glücklichen Komposition, bedingt durch das Thema, geschuldet sein. Jedoch kann es schwerlich damit allein erklärt werden, eben weil wiederholt das Motiv „Juden und Christen als das eine Volk Gottes“ bemüht wird; ein Motiv, das angesichts seines insgesamt mindestens dreimaligen Vorkommens im Text (s. Nr. 3 und Nr. 6) und seines finalen Aufrufs geradezu als Leitmotiv angesehen werden kann.
Ich frage nun unverblümt: Ist diese Einspannung des Katholischen denn ihrerseits noch wirklich katholisch? Des Katholischen nämlich, das doch selber schon die eschatologische Spannung der universal konfrontierenden Partikularität schlichthin ist.
Was sagt denn das Zweite Vatikanische Konzil dazu? Laut Kardinal Koch: „The concept of two parallel paths of salvation would in the least call into question or even endanger the fundamental understanding of the Second Vatican Council that Jews and Christians do not belong to two different peoples of God, but that they form one people of God.“ (Nr. 6; dt.: „Das Konzept zweier paralleler Heilswege würde schlußendlich das grundlegende Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils infragestellen oder gar gefährden, daß [nämlich] Juden und Christen nicht zu zwei Völkern Gottes gehören, sondern daß sie ein Volk Gottes bilden.“) Really?
Nun: Gewiß spricht das Zweite Vatikanum (in LG cap. 2 passim) von der Kirche als dem neuen Volk Gottes; dies aber im Rahmen der Geschichte des, sagen wir einmal:, einen Sachverhaltes „erwähltes Volk Gottes“. Und letzterer wiederum hat exklusiv zwei Rollen: die des Volkes des ersten Bundesschlusses (Israel) mit der Funktion, die Kirche Christi vorzubereiten (LG nr.2 u. nr.9), einerseits und eben die der Kirche Christi, des Volkes des neuen und ewigen Bundes, das aus Juden und Heiden zu sammeln ist, andererseits. Eine dritte Rolle für diesen Sachverhalt ist sprichwörtlich nicht „vorgesehen“. – Dem entspricht das alte ekklesiologische Theologoumenon, das auch in der Kontroverstheologie infolge der Reformation eine nicht ganz unwichtige Rolle spielte: Die Kirche reicht bis in die Zeit des Stammeltern zurück („ecclesia ab Abel“); die Kirchengründung Christi ist nicht die Initiierung eines schlichthin Neuen, sondern eine „quaedam transmutatio status“ („eine gewisse Wandlung des Status“) gemäß dem Übertritt vom alten in den neuen und ewigen Bund. Entsprechend greift der in der Gegenwartstheologie beliebte Vorwurf einer „Substitutionstheorie“ an die Adresse der konventionellen Beschreibung des Verhältnisses Israel – Kirche fehl: Israel, die Heilsgemeinde des Alten Bundes, wird nicht ersetzt, sondern überführt in die neue Heilsgemeinde und hierdurch universal geöffnet. [1]Vergleiche dazu: Robert Bellarmin: Kontroverse IV,3,16 arg/ad1 sowie IV,4,5: Opera omnia II, Paris 1870 / Frankfurt 1965, 353b, 354a/b, 367a/b. Beziehungsweise: Israel soll. Da es sich nach seiner Gesamtheit, wie sie institutionell greifbar wird, dem verweigert, erfolgt besagte Wandlung, Überführung „parte pro toto“ („mit dem Teil für das Ganze“): Es ist der heilige Rest Israels (bestehend vor allem aus der jungfräulichen Mutter des Gottessohnes Jesus Christus, sodann aus den Aposteln und den anderen Jüngern aus dem israelitischen Volk), in dem sich Gottes Treue zum Volk Israel auch noch beim neuen Bundesschluß niederschlägt, niederschlägt angesichts der unbegreiflicherweise zugelassenen Selbstverweigerung der institutionalisierten Ganzheit. Mit dieser Ruptur zwischen heiligem Rest und institutionalisierter Ganzheit ist aber mit letzterem eine Größe in der Welt, die eben nicht mehr Gottes Heilsgemeinde ist, die aber als von Gott gesetzte heilsgeschichtliche Größe nicht zu einem Nichts geworden ist: Das „Restvolk“ bleibt das von Gott erwählte Volk mit seiner Teleologie in Christus, welche Teleologie nun aber unabgegolten ist, jedoch als noch abzugeltende bleibt (und als dereinst abgegolten werdende durch den Rest verbürgt ist): das große Thema von Römer 9–11. – Man kann diesen Sachverhalt, will man ihn treffend auf den Punkt bringen, eigentlich nicht ohne Verzicht auf scholastische Technizität umschreiben: Demnach ist jetzt exklusiv die Kirche Christi das Volk Gottes „simpliciter“ („einfachhin“); das alte Israel, das jüdische Volk ist Gottes Volk „secundum quid“ („unter gewisser Hinsicht“).
Der Satz, wonach Juden und Christen das eine Volk Gottes bilden, ist demnach schlicht unzulässig, insofern er einfachhin, ohne präzisierende Einschränkung gesagt ist. Wenigstens, insofern er einfachhin gesagt ist: Wie sich nämlich dieses Volk Gottes „simpliciter“ und Volk Gottes „secundum quid“ näherhin zueinander verhalten, müßte eigens erörtert werden. Mindestens aber soviel: Das verbliebene alte Israel ist immer noch Gottes Volk nur, insofern es seine bislang unabgegoltene Teleologie in Christus und seiner Kirche hat! – Entsprechend erklärt das Zweite Vatikanum in lakonischer, nichts zu wünschen lassender Deutlichkeit: „Diejenigen endlich, die das Evangelium noch nicht angenommen haben, werden auf das Volk Gottes in verschiedenen Hinsichten hingeordnet. Und zwar vor allem jenes Volk, dem der Bund und die Verheißungen gegeben worden sind und aus welchem Christus dem Fleische nach seinen Ursprung genommen hat, das gemäß der Erwählung um der Väter willen [Gott] überaus liebe Volk: ohne Reue nämlich sind die Gaben und die Berufung Gottes.“ [2]LG 16, Anfang Wer oder was auf Gottes Volk (bloß) hingeordnet ist, ist eben nicht dieses Volk, wie auch konsequent darauf verzichtet wird, das Volk der ersten Erwählung Volk Gottes zu nennen!
Das Zweite Vatikanum widerspricht also Kochs These, wonach Juden und Christen das eine Volk Gottes bilden. Und diese These widerstreitet der eindeutigen Lehrtradition, auf die das Konzil Bezug nimmt.
Entsprechend beschwört das Konzil auch nicht das christlich-jüdische Common-wealth zum Segen für die Welt, sondern (in einem schier kusanischen Anflug) die „katholische Einheit des Volkes Gottes, welche den universalen Frieden vorausbezeichnet und befördert und zu welcher alle Menschen berufen werden“, um in verschiedener Weise ihr zuzugehören beziehungsweise (bloß) auf sie hingeordnet zu sein. [3]LG 13, Ende Spätestens mit dieser Leseanweisung für die folgenden Artikel (14–16/17) ist dann auch gesagt, wie die nachfolgenden Würdigungen der schuldlosen Nichtkatholiken zu verstehen sind: Unvollkommene Verbindung mit der Kirche Christi (= der katholischen Kirche) und (bloße) Hinordnung auf sie sind (freilich zusammen mit dem subjektiven „votum ecclesiae“) Gestalten des Ersatzes („Suppletion“) der (vollen) tatsächlichen Kirchengliedschaft bei denen, die ohne eigene Schuld (einfachhin) außerhalb der Kirche befindlich sind.
Um es noch einmal ganz pointiert zu sagen: Kochs Perspektive der kooperativen Einheit des „Volkes Gottes“ aus Juden und Christen stellt das Konzil in ‚Lumen gentium‘ gegenüber die Perspektive Gottes, des katholischen Gottes, will heißen: des einen dreifaltigen Gottes mit seinem universalen Heilswillen, der (dem Angebot nach) alle umfaßt und dessen alleiniges Sakrament (= wirksames Zeichen zur Realisierung) die entsprechend katholische („allumfassende“) Kirche ist, und zwar in Christus ist [4]vgl. LG 1 u. 2.
Von daher „lange Rede, kurzer Sinn“: Ich habe kein Verständnis dafür, daß Kardinal Koch die Verbindlichkeit des Konzils samt „Nostra aetate“ mit Blick auf die Piusbruderschaft und deren anstehende Regulierung in so hohem Maße (um nicht zu sagen: intransigent) urgiert, wenn ich sehe, welche Konnotationen dies für ihn hat, nämlich ausweislich seiner Rede im Angelicum; Konnotationen und Folgerungen, denen die Lehre des Konzils, im Einklang mit der Tradition, geradewegs widerspricht und an denen die Piusbruderschaft mit größtem Recht Anstoß nimmt. Zumindest der Verdacht legt sich nahe, daß hier eine Lehramtstreue eingefordert wird aus Motiven, denen von just demselben Lehramt widersprochen wird; und dies noch mit Blick auf das Konzil selber.
Dr. theol. Klaus Obenauer ist Privatdozent an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Bild: Die Bergpredigt von Carl Bloch