
Stimmt es wirklich, daß in den Jahren, in denen die Muslime die Herren von Sizilien waren, auf der Insel Toleranz und Frieden herrschten?
Die Antwort scheint aufgrund dessen, was man landläufig über die muslimische Herrschaft in europäischen Ländern behauptet, eindeutig auszufallen, stimmt aber nicht.
Historische Fakten
Zunächst einige Fakten. Die Muslime konnte nur Herren von Sizilien werden, weil ihnen Christen aus Machtinteressen die Tore geöffnet haben. Sizilien gehörte im Frühmittelalter zum Byzantinischen Reich. Seit 740 versuchten die Muslime erfolglos die Insel zu erobern. 812 gelang ihn nur die Eroberung von Lampedusa. Einer Insel, die auch heute wieder eine nicht unbedeutende Rolle spielt. 826 überwarf sich Kaiser Michael II. mit Euphemios, einem Turmarchen (Befehlshaber) der byzantinischen Flotte.
Euphemios stammte aus einer der reichsten Familien Siziliens. Der Kaiser beschuldigte ihn, eine Ordensfrau aus einem Kloster entführt und geheiratet zu haben. Er setzte Euphemios ab und wollte ihn verhaften lassen. Dieser zettelte auf Sizilien eine Rebellion gegen den byzantinischen Kaiser an und rief sich selbst zum Kaiser von Sizilien aus. Die Rebellion war erfolgreich, weil sich das Reich damals in einer Schwächephase befand. Als einige seiner Statthalter gegen ihn selbst rebellierten, und um seine Stellung gegenüber dem Kaiser halten zu können, rief er den Emir von Tunis zu Hilfe. Im Gegenzug erkannte er für Sizilien die Oberhoheit des Emirs an, dem er sich zu Tributzahlungen verpflichtete.
Während Euphemios im Kampf um seine Macht fiel, nützten die herbeigerufenen Muslime die Gelegenheit und eroberten die Insel Dank seiner Hilfe. Die christliche Bevölkerung leistete gegen die muslimischen Eroberer heftigen Widerstand und mußte einen hohen Blutzoll bezahlen. Im Osten und Nordosten der Insel konnten sich die Christen noch lange halten. Die Muslime konnten erst 965 die letzte christliche Stellung erobern. Der Großteil der Insel stand jedoch 150–200 Jahre unter islamischer Herrschaft, bis die Normannen 1061 mit der Rückeroberung begannen. Hatten die Muslime es in 230 Jahren nicht geschafft, den letzten christlichen Widerstand zu brechen, gelang es den Normannen innerhalb von 30 Jahren die gesamte Insel zu befreien.
Soweit die Fakten. Wie stand es nun aber mit der islamischen Herrschaft?
Michele Amari, verpolitisierter Historiker
Bei der Beantwortung dieser Frage wird in der Regel auf den Historiker und Orientalisten Michele Amari verwiesen. Amari (1806–1889), der auch Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war, zeichnete mit seinem dreibändigen Hauptwerk die „Geschichte der Muslime von Sizilien“ (1853–1873), das 1942 mit dem Titel „Die Muslime in Sizilien“ eine Neuauflage erlebte. Amari legte darin den Grundstein zu einer verklärten Sicht der muslimischen Herrschaft auf Sizilien, die er geradezu als strahlende Zeit darstellte. Der gebürtige Sizilianer war ein erklärter Gegner der bourbonischen Herrschaft in Süditalien und der Kirche. Als Freimaurer und Anhänger der radikalen Ideen Giuseppe Mazzinis mußte er nach Paris ins Exil gehen. 1860 mit Giuseppe Garibaldi zurückgekehrt, wurde er dessen Minister, als Garibaldi auf Sizilien eine Diktatur errichtete. Nach der italienischen Einigung wurde er Senator auf Lebenszeit und italienischer Unterrichtsminister.
Inwieweit ist aber Amaris Darstellung historisch zutreffend, der die muslimische Herrschaft als ein „goldenes Zeitalter“ schilderte?
Sagen wir es einmal so: Amari war ein großer Intellektueller seiner Zeit. Mehr noch war er aber ein Politiker. Seine Kultur war Tochter jenes Empfindens, das viele Männer des 19. Jahrhunderts prägte. Ihr großes Anliegen war der Kampf gegen die Traditionen und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer eigenen Länder und Völker. Sie sahen darin Obskurantismus, den sie nach Kräften bekämpften. Dazu gehörte für sie auch die katholische Kirche.
Der erklärte Antiklerikale war auch Freimaurer. Als solcher waren ihm die Kirche und deren Einrichtungen ein rotes Tuch. Die Abneigung war so groß, daß schon mal die Sicherungen durchgehen konnten.
Es darf daher nicht verwundern, daß auch seine Arbeit als Historiker von seinen starken ideologischen und kulturellen Vorurteilen beeinflußt wurde. Wie meinte schon Goethe, die Geschichte zu schreiben, sei eine Art, sich der Vergangenheit zu entledigen. Bei Amari ging das soweit, daß seine Abneigung gegen sein christliches Sizilien dazu führte, eine Vergangenheit „wiederzuentdecken“, die ihm zur Rechtfertigung seiner eigenen Ideen diente.

Da Amari Wasser auf die Mühlen seiner eigenen Weltanschauung leiten wollte, befaßte er sich besonders mit einer – glücklicherweise nur kurzen – Epoche der sizilianischen Geschichte, der muslimischen Herrschaft, die er unverhältnismäßig positiv aufblähte, um sie in einen umso radikaleren Gegensatz zur christlich-monarchischen Zeit zu setzen, die er überwinden wollte. Er projizierte das, was er selbst politisch anstrebte, in die Vergangenheit, um zu sagen: Das solle und wolle man wieder anstreben. Die Muslime waren dabei mehr ein zufälliges Mittel zum Zweck.
Trotz neuem Wissensstand hartnäckige Verklärung
Da sich die Geschichtsschreibung bis dahin nicht mit der muslimischen Zeit befaßt hatte, wurde die verklärte Darstellung des namhaften Intellektuellen widerspruchslos hingenommen und kann bis heute nachwirken.
Inzwischen sieht es anders aus. Namhafte Historiker haben sich in jüngerer Zeit der islamischen Zeit auf Sizilien angenommen und ein deutlich differenzierteres Bild entstehen lassen. Die Bücher „Das muslimische Sizilien“ von Alessandro Vanoli und „Die Insel Allahs“ von Salvatore Tramontana haben eine Bresche in die bisherige Geschichtssicht geschlagen. Sie haben die paradiesische Sichtweise Amaris nicht nur entzaubert, sondern weitgehend zerschlagen. Wenn sich Amaris verklärtes Bild des muslimischen Siziliens dennoch so hartnäckig halten kann, dann wiederum mehr aus politisch-ideologischen und nicht aus wissenschaftlichen Gründen.
Kehren wir also zur anfänglich gestellten Frage zurück: Stimmt es wirklich, daß in den Jahren, in denen die Muslime die Herren von Sizilien waren, auf der Insel Toleranz und Frieden herrschten? Laut heutigem Wissensstand steht fest, daß Amaris These einer kritischen Überprüfung nicht standhält.
Das Dhimmi-System und der Pakt von Umar
Sizilien war unter der Herrschaft des Islams mitnichten toleranter. Es war ein Land, in das sich Eroberer gewaltsam festgesetzt und die einheimische Bevölkerung gewaltsam unterworfen hatten. Allein die 140 Jahre andauernden militärischen Kämpfe weisen bereits darauf hin, daß das islamische Sizilien alles andere als ein Idyll war. Die Christen leisteten hartnäckigen Widerstand. Sie wußten warum. Im Jahrhundert zuvor hatten sie oft genug blutige Erfahrung mit islamischen Plünderern und Eroberern gemacht. Die Muslime errichteten ein hartes Regiment gegen die Christen. Vor allem waren sie mitnichten desinteressiert an einer Islamisierung der Insel. Die Institutionen der Insel wurden ebenso islamisiert wie die Architektur. Die Errichtung eines islamischen Emirats und die Umwandlung von Kirchen, aber auch Synagogen in Moscheen zeigt eine klare Stoßrichtung. Die Islamisierung richtete sich nicht nur auf Einrichtungen, sondern noch weit mehr auf die Menschen.
Auf mehr oder weniger strenge Weise wurde die Dhimma oder der Aman praktiziert, der von Kalif Omar eingeführt wurde, jenem islamischen Herrscher, der die berühmte Bibliothek von Alexandria in Brand steckenließ, eines der größten Verbrechen der Weltgeschichte gegen das geistige Erbe der Menschheit.
Das islamische Recht, die Scharia, gesteht Nicht-Muslimen nur die Möglichkeit zu, zum Islam überzutreten oder zum Dhimmi zu werden, andernfalls droht die Todesstrafe oder im besseren Fall die Vertreibung. Die Dhimma ist die Rechtsform, die es Nicht-Muslimen erlaubt, ständig in der islamischen Welt zu leben. Es sicherte ihnen ein „Recht auf Leben“ zu. Der Aman ist die Rechtsform, die es Nicht-Muslimen aus dem Dar al-Harb, der nicht-muslimischen Welt, vom Islam als „Haus des Krieges“ bezeichnet, vorübergehend erlaubt in der islamischen Welt zu leben. Zwischen dem Dar al-Harb und der islamischen Welt, dem Dar al-Islam kann nach islamischer Lehre nie Frieden herrschen, bestenfalls ein vorübergehender Waffenstillstand
Beide Rechtsformen zwischen den Nicht-Muslimen führen zur Unterwerfung unter eine Reihe von einschränkenden und zum Teil auch demütigenden Bedingungen. Das Dhimmi-System wurde auch auf die Christen und Juden Siziliens angewandt. Dazu gehörte auch zwangsweise auferlegte Kleiderbestimmungen für Christen und Juden, um sie in der Öffentlichkeit für jeden Muslimen kenntlich zu machen. Von den muslimischen Zwangsmaßnahmen rührt die gelbe Farbe in der Kleidung für Juden her, die erstmals im 9. Jahrhundert auf Sizilien belegt ist, und als Anleihe beim Islam von den Nationalsozialisten in Form eines gelben Davidsterns aufgegriffen wurde.
Um sich die eingeschränkten Rechte zu sichern, zuallererst das Recht überhaupt noch leben zu dürfen, mußte jeder Dhimmi eine Kopfsteuer bezahlen, die Dschizya. Hatte er zudem Besitz, zum Beispiel Grund und Boden, dann hatte zusätzlich eine Grundsteuer (Kharag) bezahlt zu werden, die von den Muslimen nicht bezahlt werden mußte. Es waren vor allem die Einschränkungen des „Paktes von Umar“ (Omar), die auf den Dhimmis lasteten. 17 extrem belastende Verbote und teilweise sogar demütigende Bestimmungen hatten laut Pakt eingehalten zu werden.
Dazu gehörte das Verbot, den eigenen Glauben öffentlich bekennen zu können, das Verbot Kirchen oder Synagogen errichten oder bestehende renovieren zu dürfen. Manche betrafen direkt das Privatleben der Einzelnen. Dhimmis waren verpflichtet, Muslime aufzunehmen und zu bewirten, wenn diese es forderten. Sie mußten den Platz für Muslime freimachen. Demütigend beispielsweise war der Zwang, sich den Vorderkopf zu scheren. Von der besonderen Kleiderordnung war bereits die Rede.
Die Einhaltung der Bestimmungen wurde nicht immer gleich streng gehandhabt und die Steuerlast wurde zum Vehikel der Islamisierung, die als Daumenschraube manchmal angezogen, manchmal gelockert wurde. Je nachdem, welches Ziel gerade verfolgt wurde, ob man viele Muslime haben wollte, oder hohe Steuereinnahmen.
Diese drückende Situation war weit entfernt von einem Staat der Toleranz und des Friedens, wie ihn Amari aus den genannten Gründen fälschlich skizzierte. Sie erklärt auch den außergewöhnlichen Erfolg der normannischen Befreiung der Insel, die mit der Reconquista der iberischen Halbinsel zu vergleichen ist.
Höchstens tausend schwere normannische Reiter setzten auf die Insel über, begleitet von einer unbekannten Schar von Fußvolk. Mag sein, daß sie die innerislamischen Streitereien geschickt nützten. Sie allein hätten aber nie die islamischen Truppen besiegen können, ohne die Hilfe der einheimischen christlichen Bevölkerung.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons