Professor Endre A. Bárdossy legt eine überarbeitete, erweiterte Fassung seines bemerkenswerten, grundlegenden Aufsatzes zum Verhältnis von Kapitalismus und Liberalismus vor, eine nicht nur wirtschaftspolitische, sondern vor allem kulturhistorische Abhandlung, die der Frage nachgeht, was tragend für die Gemeinschaft und die Nation ist, und was im Widerspruch zum Tragenden steht oder dieses sogar bekämpft. Die ältere Fassung wird damit vom Netz genommen.
Gastkommentar Endre A. Bárdossy*
Das XVIII. Jahrhundert des „Lichtes“ und der sogenannten, historischen „Aufklärung“ (Condorcet, Kant, Rousseau etc.) ist nicht das Goldene Zeitalter, sondern der Beginn der Loslösung der Rationalität von der Moral, woran wir bis heute immer mehr und mehr leiden. Paradoxerweise hat die Entfesselung der reinen Vernunft eine Epoche finsterer Irrationalität und die Illusion einer vermeintlichen, bereits hin und her taumelnden Autonomie eingeleitet:
„Es gibt nichts Gutes und nichts Schlechtes,
absolut gesprochen.
Alles ist relativ,
das ist der einzige absolute Satz.“
(Auguste Comte, 1817)
Der Geisteswandel wurde von eiskalten Rationalisten diktiert. Dieselbe gott- und erbarmungslose Rationalität wird freilich vom moralisch verrotteten Liberalismus als Sentimentalität der schönen Gefühle vermarktet. Liberalismus tendiert – leider – immer und überall zur linksliberalen Demagogie.
Liberalismus und Sozialismus sind eineiige Zwillinge der Aufklärung
Es gab nie eine „liberal-konservative“ Partei oder Zeitung, weil das ein begrifflicher Widerspruch ist. Konservative Werte und liberale Ansichten schließen sich gegenseitig aus. Die rund 300 Jahre dauernde Prosperität (1688–1900) im Vereinigten Königreich beruhte auf der Überwindung des von Furcht und Unsicherheit geprägten Naturzustandes dank Thomas Hobbes‘ Staatsphilosophie, die einen bürgerlichen Pakt unter königlicher Autorität beschwor. Seither gibt es das größte Kuriosum der politischen Kultur nach feinster englischer Art: „Seiner Majestät Allertreueste Opposition“. Der jakobinisch-republikanische „Contrat social“ ist dagegen spiegelverkehrt konzipiert: Rousseau interpretiert die Zivilisation als Übel und den Urzustand der Wilden als Gutmenschentum. Unter anderem auch als wollüstige Promiskuität.
Nach der Glorious Revolution konsolidierte die „Bill of Rights“ eine stabile, konstitutionelle Monarchie, deren Vorzüge in jener Zeit auf kontinentaleuropäischem Boden ganz und gar unbekannt waren. Diese geordneten Verhältnisse waren das Erfolgsgeheimnis der konservativen Tories und der „halbliberal“ eingebremsten Whigs auf der Höhe der damaligen politischen Philosophie.
Die funktionierende Marktwirtschaft war keine „liberale“ Erfindung, sie gab es bereits im griechisch-römischen Altertum. Die Vorzüge der komparativen Kosten dürften bereits den seefahrenden Phöniziern nicht unbekannt gewesen sein und stellten die eigentliche Motivation für den blühenden Tauschhandel im Mittelmeerraum dar.
Der Kapitalismus ist zwar in England des XVIII. Jahrhunderts kontemporär mit dem französischen Liberalismus entstanden, die beiden sind aber untereinander inkomparabel und inkompatibel zugleich. Die Unverträglichkeit des exzessiven Liberalismus zeigt sich überzeugend in der Tendenz zur maßlosen Monopolbildung und in der Verrohung der guten Sitten und der handelsüblichen Usancen. Die kapitalistische Produktionsweise ist eine rein technische Angelegenheit der fortschrittlichen Betriebswirtschaft. Der Liberalismus ist dagegen politische Revolution und wirtschaftliches Chaos, Dekadenz und antikatholische Verschwörung der internationalen Freimaurerei.
Die Dampfmaschine eröffnete das neue Zeitalter (1764)
Seit der Fortentwicklung der ersten Dampfmaschine durch James Watt sind die Erfordernisse nach Anlagegütern sprunghaft angestiegen. Die einfache Kapitalausrüstung hat sich in allen herkömmlichen Betrieben nicht nur im Handwerk, sondern sogar in der naturnahen Land- und Forstwirtschaft neben allen Facetten des Verkehrs und der Kommunikation vervielfacht. Ab Mitte des XIX. Jahrhunderts verbinden immer dichter werdende Eisenbahn- und später Autobahnnetze die kleiner werdende Welt. In den entlegenen Provinzen Argentiniens stehen die roten Backsteinhäuser der englischen Ingenieure heute noch entlang der stillgelegten Eisenbahnlinien, die auf Schmalspur sogar über die 6.000 Meter hohen Andenketten nach Santiago de Chile führten. Ohne Ozeandampfer hätte sich der Welthandel nie so kräftig entfalten können. Dass die irreversible Industrialisierung in der Psyche der Massen auf großes Befremden stieß, ist bis heute am Maschinen- und Automobilhass der sogenannten „Grünen“ abzulesen.
Der steigende Kapitaleinsatz brachte auf allen Sektoren eine enorme Produktivität hervor. Es ist nicht wahr, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. In absoluten Zahlen gerechnet, ist das Gegenteil der Fall. Dank des Kapitalismus gibt es, trotz steigender Weltbevölkerung, eine abnehmende Tendenz der absoluten Armut. In reicheren Regionen wird, statistisch gerechnet, jemand als armutsgefährdet ausgewiesen, wenn er weniger als 60% des Medianeinkommens erwirtschaftet bzw. erhält. Wem also nicht alle Güter, Dienste und Rechte in diesem Ausmaß gleichzeitig zukommen, der kann sich relativ arm fühlen, obwohl seine Position durchaus nicht unbehaglich oder gar leidvoll (sondern eher neidvoll) erachtet werden muss.
Einen „Antikapitalismus“ können sich daher nur wirtschaftlich Ungebildete leisten, da eine kapitalstarke Wirtschaft als solche in absoluten und relativen Zahlen ungeahnte Fortschritte gebracht hat.
Im ideologischen Puzzle passen Kapitalismus und Liberalismus inhaltlich nicht zusammen
Die beiläufige Zugabe des (Neo-) Liberalismus zum Kapitalismus als Attribut (Wesenseigenschaft) scheint verräterisch dafür zu sein, dass sich in die allgemeine Begriffsbildung eine weitverbreitete Konfusion eingeschlichen hat. Sie koinzidieren nur darin, dass sie als Neologismen im XIX. Jahrhundert kontemporär entstanden sind.
Der hochkomplexe Kapitalbedarf ist eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit. Das Fließband als symbolträchtiger Inbegriff der neuen Fabrikationsweise (im Gegensatz zur ziselierten, aber leider erbärmlich unproduktiven Manufaktur) ist also weder eine unnatürliche, künstliche „Entfremdung“ des Alten und Gediegenen noch eine „Ausbeutung“ des Proletariats. Im Gegenteil, die Produktivität des Kapitalismus hob den Lebensstandard der Lohnarbeiter sehr bald auf ein Niveau, ohne dessen Früchte sie im Auslaufmodell des Feudalismus hätten verhungern müssen. Thomas Robert Malthus war in diesem weiten Sinne der erste „grüne“ Ideologe und Menschenfeind, der die enorme Leistungsfähigkeit der Industriellen Revolution nicht erkannte. Marxens und Engels‘ einfältige Prophezeiungen sind geradezu nicht in den fortschrittlichsten Industrienationen, sondern in rückständigen Agrarländern wie Russland und China in Erfüllung gegangen. Die letzten Bannerträger dafür sind nunmehr jene Volks- und Befreiungstheologen, die eine retrograde 68er Generation in Lateinamerika (zur Zeit leider auch im Vatikan) hartnäckig überlebten.
Es ist nicht erstaunlich, dass in der Regel alle Sozialisten vollkeynesianistisch angehaucht sind. Der argentinische Ex-Präsident Néstor Kirchner, Bruno Kreisky und Österreichs neugebackener Bundespräsident Alexander Van den Bellen sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Van den Bellen bekannte sich während seines Wahlkampfes 2016 im Linzer Kepler-Saal öffentlich zu den Irrlehren von Lord Maynard Keynes, die von Friedrich August von Hayek bereits 1932 eindrucksvoll widerlegt wurden.
Wer sich bis heute nach allen Inflationsschüben und der Schuldenpolitik im XX. Jahrhundert nicht schämt zu verkünden: „Ich bin ein Keynesianer!“, der hat sich als Wirtschaftsprofessor disqualifiziert. Die mehr als 30 Jahre lang praktizierten Staatsausgaben auf Grundlage der Notendruckerei und Staatsverschuldung führten in Argentinien zu einem spektakulären Staatsbankrott (2002). Aber auch dank der Geldschwemme der Europäischen Zentralbank und der dubiosen Rettungsschirme wird es nicht anders kommen.
Die österreichischen Briefkartenwähler (deren Stimmen mysteriöserweise immer wieder überwiegend den Grünen zugute kommen…) und die feineren Künstler & Intellektuellen (die es gewohnheitsmäßig schick finden links zu wählen…) haben noch nichts davon gehört, dass die Wettbewerbsfähigkeit der „bösen“ Unternehmer (Kapitalisten) bei dünnen Kapitalanlagen und schwindender Kaufkraft zurückgeht, dass die Arbeitslosigkeit bei Wirtschaftsfeindlichkeit, Übersozialisierung und Verschwendung steigt, etc. etc. Kluge Arbeiter und Bauer wissen das anscheinend besser einzuschätzen als die Schickeria der Intellektuellen oder jene, die sich dafür halten. Deshalb wandern die Arbeiter massenweise weg aus der SPÖ, und die Landbevölkerung weg aus der ÖVP – in Richtung FPÖ.
Präzisierung des kontinentalen Liberalismus ist nötig
Der aus Frankreich verströmende Liberalismus – den ich unermüdlich als linke „Libertinage“ definieren möchte – ist keine betriebswirtschaftliche Angelegenheit, sondern das bereits oben erwähnte Problem der losgelösten Rationalität von den guten Sitten und den überlieferten ethischen Werten während der französischen Aufklärung. „Wirtschaftliberal“ ist ein sinnloses Kompositum der Journalistensprache. Es hat weder zur Glorious Revolution noch zur Industriellen Revolution einen genetischen Bezug. Die fest verbrieften und minutiös gelebten Spielregeln der „Bill of Rights“, die Institutionen und das Zeremoniell des Staatswesens im Vereinigten Königreich sind geradezu das Gegenteil des kontinentalen Liberalismus. Unter den geordneten Verhältnissen des Commonwealth war die Freizügigkeit des Handels nur eine Facette unter vielen anderen wesentlicheren Aspekten.
Vernünftigerweise sollte ein regelloser, chaotischer FREIHANDEL (span. „Librecambismo“) – der überstrapazierte Refrain aller „Wirtschaftsliberalen“ – mit überlegenen Ausländern im Inland nicht zu einem „TTIP-liberalen“ FREITOD der Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU), Handwerker und Bauern führen. Wenn die komparativen Produktionskosten von Gütern, Diensten und Rechten im Außenhandel keine angemessenen Vorteile indizieren, die für beide Seiten (vor allem aber zuhause im eigenen Ländle, wo das Hemd näher ist als der Rock!) eine wechselseitige Win-Win-Situation erlauben, dann dürften nicht alle Handelsschranken, Schutzzölle, Kontingente radikal ausgemerzt werden. Die KMU verdienen es, erhalten zu bleiben, da sie dem Kunden eine andere Aufmerksamkeit, andere Dienstleistungen und Service entgegenbringen als die anonymen Konzerne. Überdies sind sie die effizientesten Kräfte im Kampf gegen das Übel der Arbeitslosigkeit.
Eine funktionstüchtige, wertgebundene, konservative Marktwirtschaft der ordentlichen Kaufleute (oder wenn man es so sagen will: Ein gemeinsamer Markt der europäischen Vaterländer) ist kein Privileg der moralisch entfesselten Neoliberalen. Bereits im griechisch-römischen Altertum, aber auch im blühenden Mittelalter und in der angehenden Neuzeit, vor allem in Italien, den Niederlanden, England, Schweden… ja, entlang der Meere und Ströme sogar im entlegenen Rào de la Plata der Spanischen Krone gab es Moral, Handel und Handelsverträge. Gerechterweise kam aber der Welthandel, dort wo der Schuh drückte, nie ohne nationale Schutzzölle aus. Auch die Amerikaner praktizierten Protektionismus, sooft es ihnen darauf ankam.
Die Öffnung des Hafens von Buenos Aires durch das „Reglamento de libre comercio“ (1778) war der erste bedeutende Schritt für den Welthandel der kommenden Jahrhunderte. [1]Das Königliche Patent (1778) von Carlos III. von Spanien hieß mit vollem Namen: Reglamento y Aranceles Reales para el Comercio Libre de España a Indias. Dafür wurden im Mutterland 13 und in den … Continue reading Wo die Zivilisation zum Durchbruch kam, dort war dies immer wieder dank des Naturrechts und der schiffbaren Gewässer möglich geworden. Karawanen in der Sahara oder in der Wüste Gobi, quer über den Himalaya im Herzen Asiens, Schlitten in Sibirien oder Schneisen in tropischen Urwäldern waren dafür weniger prädestiniert. Argentinischer Weizen nährte aber bald die Fabrikarbeiter von Manchester – und die Porteñas flanierten in den eleganten Kleidern der englischen Textilindustrie.
Liberalismus und Sozialdarwinismus
Der historische Liberalismus realisierte die Ideenwelt Darwins in der Gesellschaft – oder war der Darwinismus die Übertragung der liberalen Ideen auf die Flora und Fauna? Das ist eine müßige Frage wie jene, ob das Ei oder die Henne früher war. Die reine Erfolgsethik als Durchsetzungsvermögen des Faktischen und Zufälligen wäre demnach der Motor sowohl der biologischen wie auch der kulturellen „Evolution“.
Als Advokat des Liberalismus zieht Martin Rhonheimer [2]Hochwürden Martin Rhonheimer ist Numerarier der katholischen Personalprälatur Opus Dei, Professor für Ethik und Politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom und … Continue reading in einem zwiespältigen Gastbeitrag „Welche Wirtschaft tötet?“ die Sinnhaftigkeit von Selbstschutzmaßnahmen als eine Reinkultur
„von Rent-Seeking und Verteilungskämpfen um den staatlichen Kuchen –
unter Vernachlässigung, ja Bestrafung der produktiven, unternehmerischen Kräfte“
in Zweifel. Rhonheimer sieht in den Selbstschutzstrategien der jungen, aufstrebenden Schwellenländer – insbesondere im „Desarrollismo“ [3]Aus dem Spanischen sinngemäß übersetzt, bedeutete „Desarrollismo“ in den 50er Jahren ein wirtschaftspolitisches Entwicklungspostulat durch Importsubstitutionspolitik, die insbesondere Raùl … Continue reading des Argentiniers Raùl Prebisch, – nur unnütze Anstrengungen korrupter Politiker. Er übersieht dabei die destruktive Übermacht der Stärkeren aus dem hochentwickelten Ausland in den Prozessen der sogenannten „Schöpferischen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter), die an den Kragen ungezählter Familien und aufstrebender junger Betriebe gehen können.
So einfach verliefen jedoch die Sachen in Theorie und Praxis nicht. Eine realitätsgerechte Darstellung müsste zeigen, dass Prebischs Tenor, wonach der Kapitalismus am Rande der Welt die Armen aus der Entwicklung ausschließt und Konflikte schürt…, ein unwissenschaftlicher ideologischer Standpunkt ist. Andererseits wäre gegen Rhonheimers Diktum des Rent-Seeking’s festzuhalten, dass Prebischs Anknüpfungen an die Preiselastizität der Nachfrage und an die schwindende Einkommenselastizität der inferioren Güter doch nicht aus der Luft gegriffen waren. Prebisch und Rhonheimer sprengen aber beide, weil sie allzu akademisch sind, den Rahmen meines vorliegenden Aufsatzes. In einem anderen Herangehen an dieses Kernproblem werden wir vielleicht eine Lösung nachholen, um zu erforschen: „Welche Wirtschaft tötet?“ wirklich, nicht nur verbal, sondern in der Tat.
Vorerst stellen wir jedoch fest, dass die totale Entfesselung aller moralischen und kommerziellen Hemmungen nach der Einschätzung der traditionellen katholischen Lehre immer schon eine Todsünde war. Die Schuld daran kann nur dem Liberalismus, nicht der technisch-kapitalistischen Produktionstechnik angelastet werden. Prebisch würde für meine vorläufige Feststellung vielleicht applaudieren, und Rhonheimer könnte schwer dagegen opponieren. Es ist eine wahrhaft königliche Funktion noblen Understatements klug und gerecht, maßvoll und tapfer gegen die nackte MACHTGIER & HABGIER einzuwirken. Im Bereich von Wirtschaft, Politik und Recht sollte jeder „progressive“ Umbruch – ich meine jede in der Tat fortschrittliche und nicht bloß hinterhältige Schlaumeierei, – graduell und nicht überstürzt zugelassen werden, damit Fehlinvestitionen rechtzeitig vermieden und Anpassungsprozesse tunlichst schmerzlos eingeleitet werden können. Es geht nicht an, jede zeit- und ortsbegründete restriktive Wirtschaftspolitik als korrupt hinzustellen, damit für die berüchtigte „Unsichtbare Hand“ Adam Smiths freie Bahn geschaffen wird. Selbst ein großer konservativer Geist wie F. A. von Hayek tappte zeitlebens in die liberalen Fallen der „Spontanen Ordnungen“, die zufallsbedingt aus dem Nichts entstehen und die Welt nach darwinistischen Mustern regieren sollten. Der Zufall als Selektions- und Entwicklungsgrund ist meinetwegen für Bakterien oder Dinosaurier zulässig, aber nicht für zivilisierte Gemeinschaften.
Der Untergang der KMU in der Wirtschaft, ungerechte Entlohnung der Arbeiter, Zersetzung der Familienmoral, Missachtung der öffentlichen Ordnung, eine dem Traditionsprinzip widerstrebende, „liberale“ (willkürliche) Theologie u. a. m. sind die übelsten Missetaten des Liberalismus. Historisch ist das Wort dermaßen belastet, dass es geradezu einem Synonym der Apostasie gleichkommt. Es ist strikt unmöglich diesen Begriff und seine Konnotationen für den Segen der Katholischen Kirche zu beschönigen oder umzudeuten.
Besonnenheit der Lehrschrift „Centesimus annus“ (1991)
Johannes Paul II. – reichlich spät für die Kirche, aber doch definitiv – anerkannte dagegen, dass „Kapitalismus & Marktwirtschaft“ an und für sich als zeitgemäße Produktions- und Verteilungsmodi in Verbindung mit den traditionellen Werten und Tugenden als moralisch einwandfrei zu betrachten sind. Für die persönliche Weiterbildung des Wissens und Gewissens der Politiker & Unternehmer, Arbeiter & Angestellten, Anbieter & Konsumenten gibt es natürlich einen enormen Handlungsbedarf, damit die ideologiefreien Grundpositionen eine breitere Verbreitung finden mögen.
Das Gute auf diesem komplexen Gebiet, wie überall, kann nicht von einem „Wahrheitsministerium“ im Zentralen Superstaat der Bürokraten geplant und verordnet, sondern muss in subsidiären Einheiten erkannt, sorgfältig erwogen und angeeignet werden. Ein hoffnungsloses Unterfangen? Vielleicht doch nicht, denn das Unkluge und Ungerechte, das Maßlose und Feige liegen haufenweise an jeder Straßenecke herum. Eine höhere Frequenz von Volksbefragungen wäre der einzige effiziente Weg für die Entlarvung öffentlicher Miss-Stände. Die Nutznießer der verlogenen repräsentativen Demokratie, die hinter Polstertüren der Gremien und Parteien schalten und walten können, was sie wollen, fürchten die „Vox populi – vox Dei“ wie der Teufel das Weihwasser. Daher wäre einzig und allein die vielgeschmähte, überschaubare „Kleinstaaterei“ der Europäischen Vaterländer mit direkter Demokratie wie sie in der Schweizer Eidgenossenschaft üblich ist, der einzige Ausweg aus der „Neosyndikalistischen Meinungsdiktatur“ [4]Christian Zeitz ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Politische Ökonomie. Die Erstfassung seines Aufsatzes erschien in Andreas Unterbergers Tagebuch, die in den starren Institutionen der EUdSSR immer höhere Sturmböen der Unzufriedenheit schlägt.
Die stets mögliche Gier beschränkt sich nicht allein auf den Kreis der Wirtschaftstreibenden, wenn auch diese ausgeprägte Unfreiheit auf diesem Gebiet keine Seltenheit ist. In diesem Sinne gab es „libertär“ entfesselte Despoten bereits im alten Rom, Athen und Sparta auf allen Sektoren des Lebens, zu allen Zeiten der Haus- und Hofwirtschaft, im Feudalismus ebenso wie in der klassischen Marktwirtschaft seit abertausend Jahren.
Wer liefert die Fundamente einer umfassenden Erneuerung?
Nach allen Indizien aus letzter Zeit scheint es sicher zu sein, dass uns nur eine Rückbesinnung auf die griechisch-römische Katholizität des Abendlandes noch einmal erretten könnte, wenn wir inzwischen vom Islam nicht weggefegt werden.
Fassen wir zusammen. Im Zuge der letzten drei Jahrhunderte bildeten sich drei verwirrende Dichotomien aus. Eine Vielzahl verschiedenster Entitäten mit ungezählten, schillernden Facetten waren die Lieferanten dafür:
1. KAPITALISMUS versus KREISLAUFWIRTSCHAFT
Kapitalismus ist die industrialisierte, technisch hochentwickelte Produktionsweise im Gegensatz zur vorkapitalistischen, vorindustriellen Haus- und Hofwirtschaft, wobei der erste der drei elementaren Produktionsfaktoren dominant geworden ist:
- Güter (Kapital),
- Dienste (physische und geistige Arbeit) und
- Rechte (kodifizierte und sanktionierte Moral).
2. MARKTWIRTSCHAFT versus PLAN- bzw. BEFEHLSWIRTSCHAFT
Eine flotte, konservative Marktwirtschaft steht mit Privateigentum, Privatinitiative, Privatverfügung dem schwerfälligen Staatskapitalismus gegenüber, der
- mit exklusivem (oder überwiegendem) Staatseigentum;
- mit exklusiv (oder überwiegend) politischer und bürokratischer Initiative;
- mit exklusiver (oder überwiegender) „sozialer“ Staatsversorgung
nur bleierne Füße hat.
Nur in unkündbaren, tief in der Seele verwurzelten „Gemeinschaften“ (Communio) der Familie, Nation, Kirche kann die Vollentfaltung der Persönlichkeit auf Treu und Glauben eine Gewähr, einen festen Grund und Boden, sowie die Erfüllung des Lebens finden. In losen „Gesellschaften“ (Societas, Socialismus, Sociale Demokratie) können sich die Vorzüge des „Civis romanus“ keineswegs entfalten. Zwischen „Communio & Societas“ besteht eine ontologische Differenz.
Die abgedroschenen Floskeln der „freien“ oder der „sozialen“ Marktwirtschaft, der „erbarmungslosen“ oder der rückgratlosen „sozialen“ Gerechtigkeit sind gleichwertige Kontradiktionen in Adjecto! Sub specie aeternitatis werden nur „Bürger“ (Vollpersonen) eigenverantwortlich vor dem Jüngsten Gericht bestehen können, nicht kollektive „Gesellschaften, Vereine und Parteien“.
Eine „liberale “ (d. h. auf gut Deutsch eine gewissen- und verantwortungslose, moralfreie) Marktwirtschaft und die fixe Idee des schrankenlosen „Freihandels“ als Panazee sind ebenfalls bewusste Irreführungen der öffentlichen Meinung. Der spektakuläre Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft war nicht nur die Konsequenz einer dilettantischen Wirtschaftspolitik der sogenannten „Sozialen Gerechtigkeit“ im Chorgesang der Kirche mit dem Peronismus, sondern vor allem eine allgemeine Moralkrise von den halbfeudalen Kräften angefangen, über den bürokratischen Staat bis zu allen Institutionen der Öffentlichkeit.
Argentiniens exemplarische Tragödie war nicht nur dem Unvermögen des Peronismus, sondern ebenso den rezenten Regierungen des Sozialdemokraten Raùl Alfonsìn (1983–1989) und des Neoliberalen Carlos Saùl Menem (1990–2000) sowie den unrühmlichen Volks- und Befreiungstheologen zuzuschreiben. Die linkslinken Autokraten Néstor und Cristina Kirchner (2003–2015) waren die letzten Masseverwalter des Ruins. Die geistesgeschichtlichen Antezedenzien dazu können bei Friedrich August von Hayek nachgelesen werden: „Missbrauch und Verfall der Vernunft“ (1959, 21979). Von Hayek war – nach eigener Aussage – ein „Old Whig Boy“, dessen konservative Kernaussagen überzeugender sind als die unlösbaren Aporien des Liberalismus. Der „Ordo-Liberalismus“ der Freiburger Schule war eo ipso ein so eklatanter Widerspruch wie eine vermeintliche „ordentliche Unordnung…“ wo auch immer.
Eine unfreie Markt- und Tauschwirtschaft gibt es nicht. Die bürgerlichen Freiheiten der Unternehmer und Kaufleute brauchen daher nicht pausenlos deklamiert zu werden. Unter Bedingungen der Unfreiheit entsteht unweigerlich ein „freier“ Schwarzmarkt. Ein unfreier Handel wäre ebenfalls ein Widerspruch, wenn nämlich der Besitzwechsel unter unfreien Bedingungen stattfindet, dann ist er nicht mehr Handel und Tausch, sondern „Abgabe, Ablieferung, Raub“ (Zum Beispiel: Finanzabgabe, Enteignung, etc). Unfreie Unternehmer sind solche, die im paralysierten Status geradezu nichts unternehmen können.
3. KATHOLIZISMUS versus LIBERALISMUS
Nach ältester Tradition im Einklang mit der Lehre des hl. Paulus [5]Cf. Galaterbrief (2,11): „Als dann … trat ich [Petrus] Auge in Auge entgegen, weil er im Unrecht war.“ ist die Freiheit jeder volljährigen, vernünftigen Person das „Praestantissimum donum“ schlechthin. In seinem Lehrschreiben (1888) bekräftigte Papst Leo XIII. unzweideutig:
„Die Freiheit ist die vorzüglichste Gabe unter den natürlichen Gütern“.
Deshalb zählt das Argument von Erik von Kuehnelt-Leddihn nicht, wonach die Konservativen eigentlich nur verkappte „Liberale“ wären, denn bei näherem Zusehen hat der historische Liberalismus mit den wohlverstandenen Freiheiten herzlich wenig zu tun.
Der Liberalismus ist ein Etikettenschwindel, der geradezu auf Unfreiheiten (Libertinage) beruht, der von Anfang an gegen die Eine, Heilige, Katholische Kirche gerichtet war – egal, ob während oder nach dem Englischen Bürgerkrieg, während oder nach der Französischen Revolution oder im Deutschen Kulturkampf. Seit König Henry VIII. (1509–1547) bis heute, wo auch immer eine antiklerikale Bewegung des Liberalismus ausgebrochen ist, ist sie mit ihren nächsten Schritten in der Gosse der Immoralität verkommen. So sind viele Anglikaner, Lutheraner, Calvinisten meistens bereitwillig „liberal“ geworden. Heute ist der Liberalismus sogar ins Herz und den Schoß der Katholischen Kirche eingedrungen.
Unter Patronanz der Freimaurerei wurde die Wortfamilie „Liberalismus, liberal“ vom Linksliberalismus mit allen Nuancen in Beschlag genommen.
Wer noch ein wenig LATEIN gelernt hat, der weiß, dass die Herkunft der Wortfamilie „Liber, Libertas, Liberalitas“ im Altertum bis zum Herbst des Mittelalters eine leuchtende Sinnfülle repräsentierte: nämlich Freiheit, Edelmut und Großzügigkeit, die früher einmal die Charakterzüge und der Stolz eines Römischen Bürgers waren.
Wer noch ein wenig GESCHICHTE gelernt hat, der weiß auch, dass diese Sinnfülle während der Französischen Revolution (1789–1799), im Keimzustand aber bereits vorher in der Protestantischen, und schließlich in der Proletarischen Revolution des finsteren XX. Jahrhunderts definitiv vernichtet worden ist.
Alle libertären Bewegungen des XIX. Jahrhunderts (z.B. General Josef Bem in Polen für Napoleon, danach in Ungarn gegen Österreich, schließlich als konvertierter Muselmann zu Diensten des türkischen Sultans; oder der ungarische „Freiheitskämpfer“ Lajos Kossuth 1848/49) unter Ägide der „Liberalen Freimaurerei“ dienten der Aushöhlung der abendländisch-katholischen Überlieferung, und bekämpften insbesondere den souveränen Päpstlichen Kirchenstaat und das katholische Österreich.
Die Pariser Vorortverträge (1919 / 20)
- von Versailles mit dem Deutschen Reich,
- von Saint-Germain mit Deutschösterreich,
- von Neuilly-Sur-Seine mit Bulgarien,
- von Trianon mit Ungarn,
- von Sà¨vres mit dem Osmanischen Reich
präsentierten die Endabrechnung der Freimaurerei und den Dolchstoß für uns. Papst Benedikt XV. (1914–1922) forderte Gerechtigkeit für die Besiegten. In seiner Enzyklika „Pacem Dei munus“ (1920) bezeichnete er die Friedensverträge als „rachsüchtiges Diktat“. Freilich, seine Worte waren vergeblich!
„Liberté, Égalité, Fraternité“ sind heute – leider Gottes – Synonyme von Linksliberalismus, Hedonismus und Verantwortungslosigkeit. Ein Liberaler, d. h. Freidenker zu sein, heißt heute klar und deutlich, frei von überlieferten Werten und Tugenden zu handeln. Das Ringen des Guten mit dem Bösen sind zwei grundverschiedene Welten: Einmal muss man aber – spätestens am Ende des Lebens – Farbe bekennen und die Geister unterscheiden. Der kompromisslose Schutz des werdenden Lebens, der wohlverstandene Schutz des geistigen und materiellen Eigentums der Familie, der Betriebe und des Vaterlandes gehören dazu.
*Endre A. Bárdossy war o. Universitätsprofessor in San Salvador de Jujuy, Argentinien, für Landwirtschaftliche Betriebswirtschaftslehre und Leiter eines Seminario de Aplicación Interdisciplinaria im Departamento de Ciencias Socio-Económicas an der Universidad Nacional de Cuyo, Mendoza. Die vorliegende, leicht erweiterte Arbeit erschien erstmalig am 30. Mai bei Katholischofs.info.
Bilder: Wikicommons
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↑1 | Das Königliche Patent (1778) von Carlos III. von Spanien hieß mit vollem Namen: Reglamento y Aranceles Reales para el Comercio Libre de España a Indias. Dafür wurden im Mutterland 13 und in den überseeischen Kolonien 27 Häfen geöffnet. |
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↑2 | Hochwürden Martin Rhonheimer ist Numerarier der katholischen Personalprälatur Opus Dei, Professor für Ethik und Politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom und Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien. |
↑3 | Aus dem Spanischen sinngemäß übersetzt, bedeutete „Desarrollismo“ in den 50er Jahren ein wirtschaftspolitisches Entwicklungspostulat durch Importsubstitutionspolitik, die insbesondere Raùl Prebisch (1901–1986), dem ehemaligen Generaldirektor der Argentinischen Zentralbank (1935) zugeschrieben wird. Im Zeitraum von 1923–1948 war er Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Buenos Aires. Er ging ins chilenische Exil, da er sich dem General Juan Domingo Perón widersetzte. Als Alt-Keynesianer von einem schnell wachsenden, linkslastigen Neo-Desarrollismo angetan, war er später Direktor bzw. Generalsekretär (1949–1969) der United Nations Conference on Trade and Development. Im hohen Alter, zwei Jahre vor seinem Ableben kehrte er nach Argentinien zurück (1984), um die sozialdemokratische Regierung von Raùl Alfonsìn (1983–1989) zu beraten. Alfonsàn scheiterte im wirtschaftlichen Chaos einer spektakulären Inflation, die monatlich zuletzt bis zu 30% erreichte. |
↑4 | Christian Zeitz ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Politische Ökonomie. Die Erstfassung seines Aufsatzes erschien in Andreas Unterbergers Tagebuch |
↑5 | Cf. Galaterbrief (2,11): „Als dann … trat ich [Petrus] Auge in Auge entgegen, weil er im Unrecht war.“ |