(Rom) Kein kirchliches Dokument ist derzeit umstrittener als Amoris laetitia. Nie herrschte eine solche Verwirrung über die Auslegung eines päpstlichen Dokuments. Auf der einen Seite stehen weltliche Massenmedien, die einen permanenten Druck zugunsten einer „progressiven Weichenstellung“ (Bayerischer Rundfunk, 8. April 2016) erzeugen. Auf der anderen Seite gibt es progressive Kreise in der katholischen Kirche, die diesem Druck gerne nachgeben möchten.
Glaubenspräfekt Kardinal Gerhard Müller versuchte Ordnung und Klarheit in das Durcheinander zu bringen, zuletzt am 4. Mai mit einer Lectio magistralis zu Amoris laetitia im spanischen Oviedo. Papst Franziskus ignoriert jedoch den Glaubenswächter der Kirche und verweist stattdessen auf den Wiener Erzbischof. Dessen Vorstellung von Amoris laetitia am 8. April in Rom sei die authentische Interpretation.
Was aber genau sagte Schönborn in Rom? Die vollständige, wörtliche Niederschrift der Schönborn-Präsentation und der anschließenden Antworten auf die Journalistenfragen.
Interpretations-Chaos
Papst Franziskus übertrug Kardinal Christoph Schönborn die Aufgabe, das nachsynodale Schreiben Amoris laetitia am 8. April in Rom der Weltöffentlichkeit vorzustellen. Der Kardinal hatte in den letzten Synodentagen wesentlich dazu beigetragen, daß es nicht zu einem Bruch gekommen ist. Das nachsynodale Schreiben gehört zu den umstrittensten Dokumenten der jüngeren Kirchengeschichte. Es hat zwar laut ausdrücklicher Erklärung des Papstes keinen verbindlichen Charakter. Jener Teil der Kirche, der eine Änderung der Sakramentenordnung anstrebt, unter anderem durch die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, beruft sich jedoch auf Amoris laetitia und hat bereits mit der Umsetzung der Änderungen in der Praxis begonnen. Selten herrschte eine solche Interpretationsvielfalt und entsprechende Verwirrung unter Katholiken wie über dieses Dokument.
Welches ist also die vom Papst selbst gewünschte, aber vielleicht mißverständlich formulierte Lesart?
Am 16. April auf dem Rückflug von Lesbos und am 19. Mai gegenüber dem Präsidium des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) betonte Papst Franziskus, daß die Präsentation Schönborns für ihn die authentische Lesart von Amoris Laetitia ist.
Was also genau sagte Kardinal Schönborn bei seiner Vorstellung von Amoris laetitia in Rom?
Katholisch.at, die Internetplattform des Medienreferats der Österreichischen Bischofskonferenz veröffentlichte einen deutschen Text. Den Pressevertretern in Rom wurde am 8. April ein schriftlicher Text vorgelegt. Kardinal Schönborn sprach bei der Präsentation italienisch. Der Vatikanist Sandro Magister veröffentlichte am Montag die wörtliche Niederschrift des Originalmitschnitts des gesprochenen Wortes. Die vom schriftlich vorgelegten Text abweichenden Stellen und spontanen Ergänzungen wurden durch eckige Klammern gekennzeichnet.
Katholisches.info übertrug diese Niederschrift ins Deutsche und verglich sie mit der Veröffentlichung des Medienreferats der Österreichischen Bischofskonferenz.
Im Anschluß an die Präsentation folgten Journalistenfragen, die von Kardinal Schönborn beantwortet wurden. Da auch sie Teil der Präsentation sind, auf die Papst Franziskus verweist, werden auch sie wörtlich wiedergegeben.
Pressekonferenz im Pressesaal des Heiligen Stuhls
Präsentation des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens
„Amoris Laetitia“ von Papst Franziskus durch Kardinal Christoph Schönborn
[Am Abend des 13. März 2013 waren die ersten Worte des neugewählten Papstes Franziskus zu den Menschen am Petersplatz und in der ganzen Welt: „Buona Sera!“ [1]Italienisch für „Guten Abend!“, Anm. d. Red. So einfach wie dieser Gruß sind Sprache und Stil des neuen Schreibens von Papst Franziskus. Nicht ganz so kurz wie dieser schlichte Gruß, aber so lebensnahe. Papst Franziskus spricht auf diesen 200 Seiten „Über die Liebe in der Familie“, und er tut es so konkret, so schlicht, so herzerwärmend wie dieses „Buona sera“ des 13. März 2013. Das ist sein Stil, und er wünscht sich, dass über die Dinge des Lebens so lebensnahe wie möglich gesprochen wird, besonders wenn es um die Familie geht, die zu den elementarsten Wirklichkeiten des Lebens gehört.
Zuallererst möchte ich meine Freude zum Ausdruck bringen, über die Art, mit der Papst Franziskus über die Liebe in der Familie spricht. Für mich ist Amoris laetitia ganz einfach ein wunderschöner Text. Ich wage zu sagen, daß unsere kirchlichen Dokumente manchmal ein bißchen anstrengend zu lesen sind. Trotz der Länge dieses Textes, handelt es sich um eine wunderschöne Lektüre, jedenfalls für mich. Ich möchte in sehr persönlichem Namen den Grund nennen, warum ich ihn mit großer Freude, mit Dankbarkeit und immer auch mit starker Ergriffenheit gelesen habe. Ich muß es sagen.]
In der kirchlichen Rede über Ehe und Familie besteht oft eine Tendenz, vielleicht unbewusst, die Rede über diese Lebenswirklichkeiten zweigleisig zu führen. Da gibt es die Ehen und Familien, die „in Ordnung“ sind, die den Regeln entsprechen, in denen alles „stimmt“ und „passt“, und dann gibt es die „irregulären“ Situationen, die ein Problem darstellen. Schon mit dem Wort „irregulär“ wird suggeriert, dass diese Unterscheidung so feinsäuberlich getroffen werden kann.
Wer also auf der Seite der „Irregulären“ zu stehen kommt, wird damit leben müssen, dass die „Regulären“ auf der anderen Seite sind. Wie schmerzlich das für die ist, die selber aus einer Patchwork-Familie stammen, ist mir persönlich vertraut durch die eigene Familiensituation. Die kirchliche Rede kann hier verletzend sein, ja das Gefühl geben, ausgeschlossen zu sein.
Papst Franziskus hat sein Schreiben unter das Leitwort gestellt: „Es geht darum, alle zu integrieren“ (AL, 297). Denn es geht um eine Grundeinsicht des Evangeliums: Wir bedürfen alle der Barmherzigkeit! „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8,7). Alle, in welcher Ehe- und Familiensituation wir uns befinden, sind unterwegs. Auch eine Ehe, bei der alles „stimmt“, ist unterwegs. Sie muss wachsen, lernen, neue Etappen schaffen. Sie kennt Sünde und Versagen, braucht Versöhnung und Neubeginn, und das bis ins hohe Alter (vgl. AL, 134).
Es ist Papst Franziskus gelungen, wirklich alle Situationen anzusprechen, ohne katalogisieren, ohne kategorisieren, mit jenem Blick eines fundamentalen Wohlwollens, der etwas mit dem Herzen Gottes, mit den Augen Jesu zu tun hat, die niemanden ausschließen (vgl. AL, 291), alles annimmt und allen die „Freude des Evangeliums“ zuspricht. Deshalb ist die Lektüre von Amoris Laetitia so wohltuend. Keiner muss sich verurteilt, keiner verachtet fühlen. In diesem Klima des Angenommenseins wird die Rede von der christlichen Sicht von Ehe und Familie zur Einladung, zur Ermutigung, zur Freude über die Liebe, an die wir glauben dürfen und die niemanden, wirklich und ehrlich niemand ausschließt.
Für mich ist deshalb Amoris laetitia vor allem und zuerst ein „Sprachereignis“, wie es schon Evangelium Gaudium war. Etwas im kirchlichen Diskurs hat sich gewandelt. Dieser Wandel der Sprache war schon während des Synodalen Weges spürbar. Zwischen den beiden Synodensitzungen von Oktober 2014 und Oktober 2015 ist deutlich erkennbar, wie der Ton wertschätzender geworden ist, wie die verschiedenen Lebenssituationen einfach einmal angenommen werden, ohne sie gleich zu be- oder verurteilen. In AL ist dies zum durchgehenden Sprachstil geworden. Dahinter steht freilich nicht nur eine linguistische Option, sondern eine tiefe Ehrfurcht vor jedem Menschen, der nie zuerst ein „Problemfall“ in einer „Kategorie“ ist, sondern eine unverwechselbare Person mit ihrer Geschichte und ihrem Weg mit und zu Gott. Papst Franziskus sagte in Evangelium Gaudium, wir müssten „die Schuhe ausziehen vor dem heiligen Boden des Anderen“ (EG 36).
Diese Grundhaltung durchzieht das ganze Schreiben. Sie ist auch der tiefere Grund für die beiden anderen Schlüsselworte: unterscheiden und begleiten. Sie gelten nicht nur für die „sogenannten irregulären Situationen“ (Papst Franziskus betont dieses „sogenannt“!), sondern für alle Menschen, für jede Ehe, für jede Familie. Denn alle sind unterwegs und alle bedürfen der „Unterscheidung“ und der „Begleitung“.
Meine große Freude an diesem Dokument ist, dass es konsequent die künstliche, äußerliche, fein säuberliche Trennung von „regulär“ und „irregulär“ überwindet und alle unter den gemeinsamen Anspruch des Evangeliums stellt, gemäß dem Wort des Hl. Paulus: „Er hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“ (Röm 11,32).
Dieses durchgehende Prinzip der „Inklusion“ macht freilich manch einem Sorgen. Wird hier nicht dem Relativismus das Wort gesprochen? Wird die so oft angesprochene Barmherzigkeit nicht zur Beliebigkeit? Gibt es nicht mehr die Klarheit von Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, von Situationen, die objektiv als irregulär, ja als sündhaft zu bezeichnen sind? Wird dieses Schreiben nicht einem gewissen Laxismus Vorschub leisten, einem „everything goes“? Ist Jesu eigene Barmherzigkeit nicht oft eine durchaus strenge, anspruchsvolle Barmherzigkeit?
Um das klarzustellen: Papst Franziskus lässt keinen Zweifel an seiner Absicht und unserer Aufgabe: Als Christen dürfen wir nicht darauf verzichten, uns zugunsten der Ehe zu äußern, nur um dem heutigen Empfinden nicht zu widersprechen, um in Mode zu sein oder aus Minderwertigkeitsgefühlen angesichts des moralischen und menschlichen Niedergangs. Wir würden der Welt Werte vorenthalten, die wir beisteuern können und müssen. Es stimmt, dass es keinen Sinn hat, bei einer rhetorischen Anprangerung der aktuellen Übel stehen zu bleiben, als könnten wir dadurch etwas ändern. Ebensowenig dient es, mit der Macht der Autorität Regeln durchsetzen zu wollen. Uns kommt ein verantwortungsvollerer und großherzigerer Einsatz zu, der darin besteht, die Gründe und die Motivationen aufzuzeigen, sich für die Ehe und die Familie zu entscheiden, so dass die Menschen eher bereit sind, auf die Gnade zu antworten, die Gott ihnen anbietet. (AL, 35)
[Darum denke ich, daß hier der entscheidende Punkt ist, die Motivation. Papst Franziskus ist ein Pädagoge, und er weiß, daß nur die Motivation die christliche Vorgabe der Ehe und der Familie lieben läßt.]
Papst Franziskus ist überzeugt, dass die christliche Sicht von Ehe und Familie auch heute eine ungebrochene Anziehungskraft hat. Aber er fordert „eine heilsame selbstkritische Reaktion“: „Zugleich müssen wir demütig und realistisch anerkennen, dass unsere Weise, die christlichen Überzeugungen zu vermitteln, und die Art, die Menschen zu behandeln, manchmal dazu beigetragen haben, das zu provozieren, was wir heute beklagen“ (AL, 36).
„Wir haben haben ein zu abstraktes theologisches Ideal der Ehe vorgestellt, das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien, so wie sie sind, entfernt ist.
[Ich betone: so wie sie sind!]
„Diese übertriebene Idealisierung vor allem, wenn wir nicht das Vertrauen auf die Gnade wachgerufen haben, hat die Ehe nicht erstrebenswerter und attraktiver gemacht, sondern das völlige Gegenteil bewirkt. (AL, 36)
[Notwendige Selbstkritik!]
Ich erlaube mir, hier eine Erfahrung der Synode vom vergangenen Oktober zu erzählen: So weit ich weiß, haben zwei der dreizehn „Circuli minores“ ihre Arbeit damit begonnen, dass alle Teilnehmer zuerst einmal erzählt haben, wie ihre eigene Familiensituation ist. Dabei zeigte sich schnell, dass fast alle der Bischöfe oder der anderen Teilnehmer des „Circulus minor“ in ihrer eigenen Familie mit den Themen, Sorgen und „Irregularitäten“ konfrontiert sind, von denen wir in der Synode meist viel zu abstrakt gesprochen haben. Papst Franziskus lädt uns alle ein, über unsere Familien zu sprechen, „so, wie sie sind“. Und nun das Großartige des Synodalen Weges und dessen Weiterführung durch Papst Franziskus: Weit davon entfernt, dass dieser nüchterne Realismus über die Familien „so, wie sie sind“, uns vom Ideal wegführt! Im Gegenteil: Papst Franziskus schafft es, zusammen mit den Arbeiten der beiden Synoden, einen zutiefst hoffnungsvollen, positiven Blick auf die Familie zu werfen.
Doch erfordert dieser ermutigende Blick auf die Familie jene pastorale Neuausrichtung, von der Evangelii Gaudium so eindrucksvoll sprach. Der folgende Text aus Amoris laetitia (Nr. 37) zeichnet die großen Linien dieser „pastoralen Neuausrichtung“: „Lange Zeit glaubten wir, dass wir allein mit dem Beharren auf doktrinellen, bioethischen und moralischen Fragen und ohne dazu anzuregen, sich der Gnade zu öffnen, die Familien bereits ausreichend unterstützten, die Bindung der Eheleute festigten und ihr miteinander geteiltes Leben mit Sinn erfüllten. Wir haben Schwierigkeiten, die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist. Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen. (AL, 37)
Aus Papst Franziskus spricht ein tiefes Vertrauen in die Herzen und die Sehnsucht der Menschen. Sehr schön kommt das in seinen Ausführungen über die Erziehung zum Ausdruck. Man spürt darin die große jesuitische Tradition [Das sage ich als Dominikaner!] der Erziehung zur Eigenverantwortung. Zwei entgegengesetzte Gefahren spricht er an: das „Laissez-faire“ und die Obsession, alles kontrollieren und beherrschen zu wollen. Einerseits gilt: „Die Familie darf nicht aufhören, ein Ort des Schutzes, der Begleitung, der Führung zu sein… Stets bedarf es einer Aufsicht. Die Kinder sich selbst zu überlassen, ist niemals gesund“ (AL, 260).
Aber die Wachsamkeit kann auch übertrieben werden: „Übertriebene Sorge erzieht nicht und man kann nicht alle Situationen, in die ein Kind geraten könnte, unter Kontrolle haben… Wenn ein Vater versessen darauf ist zu wissen, wo sein Sohn ist, und alle seine Bewegungen zu kontrollieren, wird er nur bestrebt sein, dessen Raum zu beherrschen. Auf diese Weise wird er ihn nicht erziehen, er wird ihn nicht stärken und ihn nicht darauf vorbereiten, Herausforderungen die Stirn zu bieten. Worauf es ankommt, ist vor allem, mit viel Liebe im Sohn Prozesse der Reifung seiner Freiheit, der Befähigung, des geistlichen Wachstums und der Pflege er echten Selbständigkeit auszulösen.“ (AL, 261)
Ich finde, es ist sehr erhellend, diese Gedanken über die Erziehung mit denen über die pastorale Praxis der Kirche in Verbindung zu bringen. Denn genau in diesem Sinn spricht Papst Franziskus immer wieder das Vertrauen in das Gewissen der Gläubigen an: „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch erheben, sie zu ersetzen“ (AL, 37). Die große Frage ist freilich: Wie wird das Gewissen geformt?
[Ein Thema, das bereits Papst Johannes Paul und Papst Benedikt sehr beschäftigt hat.]
Wie kommt es zu dem, was ein Schlüsselbegriff des ganzen großen Dokumentes ist, der Schlüssel zum rechten Verständnis des Anliegens von Papst Franziskus: „die persönliche Unterscheidung“, besonders in schwierigen, komplexen Situationen? Die Unterscheidung ist ein zentraler Begriff der Ignatianischen Exerzitien. Denn diese sollen helfen, den Willen Gottes in den konkreten Lebenssituationen zu unterscheiden. Die Unterscheidung macht die reife Persönlichkeit aus, und zu dieser Reifung der Persönlichkeit will ja der christliche Weg helfen: Keine fremdgesteuerten Automaten, sondern in der Freundschaft mit Christus gereifte Menschen.
[Ein großes Thema von Papst Benedikt!]
Nur wo das persönliche Unterscheiden gewachsen ist, kann es auch zu dem „pastoralen Unterscheiden“ kommen, das vor allem wichtig ist „angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt“ (ALm 6). Um dieses „pastorale Unterscheiden“ geht es im 8. Kapitel, das vermutlich am meisten die kirchliche Öffentlichkeit, aber auch die Medien interessiert.
[Ich wage es nicht, zu fragen, wer von Euch bereits das 8. Kapitel gelesen hat. Ich lade euch herzlich ein, vorher das 4. Kapitel zu lesen!]
Der Papst selbst sagt, daß das 4. und das 5. Kapitel „die zentralen Kapitel“ sind, nicht nur im geographischen Sinn, sondern wegen ihres Inhalts: „Denn wir können nicht zu einem Weg der Treue und der gegenseitigen Hingabe ermutigen, wenn wir nicht zum Wachstum, zur Festigung und zur Vertiefung der ehelichen und familiären Liebe anregen“ (AL, 89). Diese beiden zentralen Kapitel von Amoris laetitia werden wohl von vielen übersprungen werden, [auch von uns Theologen und Bischöfen], um gleich zu den sogenannten „heißen Eisen“, den kritischen Punkten zu kommen. Als erfahrener Pädagoge weiß freilich Papst Franziskus, dass nichts so stark motiviert und anzieht, wie die positive Erfahrung der Liebe. „Von der Liebe sprechen“ (AL, 89) – das macht Papst Franziskus offenbar große Freude, und er spricht von der Liebe mit großer Lebendigkeit, Anschaulichkeit, Einfühlung. Das 4. Kapitel ist ein ausführlicher Kommentar zum „Hohenlied der Liebe“ aus 1 Kor 13. Allen sei die Meditation dieser Seiten ans Herz gelegt. Sie ermutigen, an die Liebe zu glauben (vgl. 1 Joh 4,16) und auf ihre Kraft zu vertrauen. Hier hat ein weiteres Schlüsselwort von Amoris laetitia seinen „Hauptsitz“: wachsen: Nirgendwo wird so deutlich wie in der Liebe, dass es um einen dynamischen Prozess geht, in dem die Liebe wachsen, aber auch erkalten kann. Ich kann nur einladen, diese köstlichen Kapitel zu lesen und zu verkosten!
Es ist mir wichtig, auf einen Aspekt eigens hinzuweisen: Mit seltener Deutlichkeit spricht Papst Franziskus auch vom Anteil der „passiones“, der Leidenschaften, der Emotionen, des Eros, der Sexualität in der ehelichen und familiären Liebe. Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus sich hier besonders auf den hl. Thomas von Aquin bezieht.
[Ich muß meine Freude über die Lektüre dieses Dokumentes zum Ausdruck bringen, das zutiefst thomistisch ist. Es stimmt, ich kann es beweisen, systematisch. Es ist die große Vision des hl. Thomas von der Glückseligkeit als Lebensziel. Und der ganze menschliche Weg, das Sein im Bewegung, es ist das Gehen in Richtung dieser Seligkeit, die uns verheißen ist und uns anzieht. Nur das Gute zieht an, und diese pädagogische Art wurde vom hl. Thomas sehr entfaltet. Deshalb spricht der hl. Thomas so oft von der Bedeutung der Leidenschaften in der Erziehung und dem Zugehen auf eine glückliche Ehe. Es ist ein von der modernen Moraltheologie sehr vernachlässigtes Thema, das es fast nicht mehr gibt: die Leidenschaften. Im Katechismus der katholischen Kirche beharrte Kardinal Ratzinger sehr darauf, daß ausdrücklich über die Bedeutung der Leidenschaften im moralischen Leben gesprochen werde. Und Sie werden wunderschöne Seiten darüber bei Papst Franziskus finden.]
Hier findet der Titel des päpstlichen Schreibens seine volle Entfaltung: Amoris laetitia! Hier wird deutlich, wie es gelingen kann, „den Wert und den Reichtum der Ehe zu entdecken“ (AL, 205). Hier wird aber auch schmerzlich sichtbar, wie weh die Verwundungen der Liebe, wie verletzend die Erfahrungen vom Scheitern der Beziehungen sind. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass besonders das Kapitel VIII die Aufmerksamkeit und das Interesse anzieht. Denn die Frage, wie die Kirche mit solchen Verwundungen, mit dem Scheitern in der Liebe umgeht, ist für viele zur Testfrage geworden, ob die Kirche wirklich der Ort erfahrbarer Barmherzigkeit Gottes ist.
Dieses Kapitel verdankt viel der intensiven Arbeit der beiden Synoden, der ausgiebigen Diskussion in der kirchlichen und weltlichen Öffentlichkeit. Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit der Vorgangsweise von Papst Franziskus. Er wollte ausdrücklich eine offene Diskussion über die pastorale Begleitung von komplexen Situationen, und er konnte sich weitgehend auf die von den beiden Synoden ihm vorgelegten Texte stützen.
[Diese Methode der Synode, der beiden Synoden, ist sehr wichtig, um gemeinsam zu gehen, um vorwärts zu kommen.]
Papst Franziskus macht sich ausdrücklich die ihm vorgelegten Aussagen der beiden Synoden zu eigen: „Die Synodenväter haben einen allgemeinen Konsens erreicht, den ich unterstütze“ (AL, 297). Betreffend die zivil wiederverheirateten Geschiedenen sagt er: „Ich nehme die Bedenken vieler Synodenväter auf, die darauf hinweisen wollten, dass (…). Die Logik der Integration ist der Schlüssel ihrer pastoralen Begleitung… Sie sollen sich nicht nur als nicht exkommuniziert fühlen, sondern können als lebendige Glieder der Kirche leben und reifen, indem sie diese wie eine Mutter empfinden, die sie immer aufnimmt…“ (AL, 299).
Was heißt das aber konkret? Diese Frage wird zu Recht von vielen gestellt. Die entscheidenden Aussagen stehen in Amoris laetitia 300. Sie bieten sicher noch Stoff für Diskussion. Sie sind aber auch eine wichtige Klärung und Weichenstellung für den zweiten Weg. Zuerst eine Klarstellung: „Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen (…) berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte.“ Viele haben sich eine solche Norm erwartet. Sie werden enttäuscht bleiben.
[Ich bin überzeugt, daß es die notwendige Wahl ist, die der Papst getroffen hat.]
Was ist möglich? Der Papst sagt es mit aller Klarheit: „Es ist nur möglich, eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle“.
Wie diese persönliche und pastorale Unterscheidung aussehen kann und soll, ist Thema des ganzen Abschnitts Amoris Laetitia 300–312. Schon auf der Synode 2015 wurde, im Anschluss an die Formulierungen des Circulus Germanicus ein Itinerarium der Unterscheidung, der Gewissensprüfung vorgeschlagen, das Papst Franziskus sich zu eigen macht. [Kardinal Baldisseri hat dieses Itinerarium eben in sechs Punkten zusammengefasst]. „Es handelt sich um einen Weg der Begleitung und der Unterscheidung, der ‚diese Gläubigen darauf aus[richtet], sich ihrer Situation vor Gott bewusst zu werden“. Aber Papst Franziskus erinnert auch daran: „…wird diese Unterscheidung niemals von den Erfordernissen der Wahrheit und der Liebe des Evangeliums, die die Kirche vorlegt, absehen können“ (AL, 300).
Zwei Fehlhaltungen benennt Papst Franziskus: Die eine ist der Rigorismus: „Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufrieden geben, gegenüber denen, die in ‚irregulären‘ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft. Das ist der Fall der verschlossenen Herzen, die sich sogar hinter der Lehre der Kirche zu verstecken pflegen“ (AL, 305). Andererseits darf die Kirche auf keine Weise „darauf verzichten, das vollkommene Ideal der Ehe, den Plan Gottes in seiner ganzen Größe vorzulegen“ (AL, 307).
Natürlich wird die Frage gestellt: und was sagt der Papst über den Zugang zu den Sakramenten für Personen, die in „irregulären“ Situationen leben?
[Man hat sich zu sehr auf diese Frage konzentriert. Der Papst sagte es: Sich auf diese Frage zu fixieren, kann zu einer Falle werden.]
Schon Papst Benedikt hatte gesagt, dass keine „einfache Rezepte“ (AL, 298, Anmerkung 333) existieren.
[Er sagte es in Mailand, beim Familienkongreß.]
Und Papst Franziskus erinnert noch einmal an die Notwendigkeit, die Situationen gut zu unterscheiden in der Linie von „Familiaris consortio“ (Nr. 84) von Papst Johannes Paul II. (AL, 298).
[Der Nr. 84, ein berühmter Text. In dem sagt Papst Johannes Paul II., aus Liebe zur Wahrheit sind die Hirten gezwungen, die Situationen zu unterscheiden. Und er listet drei sehr unterschiedliche Situationen auf.]
„Die Unterscheidung muss dazu verhelfen, die möglichen Wege der Antwort auf Gott und des Wachstums inmitten der Begrenzungen zu finden. In dem Glauben, dass alles weiß oder schwarz ist, versperren wir manchmal den Weg der Gnade und des Wachstums und nehmen den Mut für Wege der Heiligung, die Gott verherrlichen (AL, 305). Und Papst Franziskus erinnert an ein so wichtiges Wort, das er in Evangelii Gaudium 44 geschrieben hatte: „Ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen“ (AL, 304).
[Ich habe es nicht in meinen Text aufgenommen, aber ich würde folgendes sagen: Ein Schlüssel zum Verständnis von Amoris laetitia ist für mich die Erfahrung der Armen, weil man im Leben der Armen, der armen Familien, genau das erlebt, diese kleinen Schritte auf dem Weg der Tugend, die sehr viel größer sein können als der „tugendhafte“ Erfolg jener, die in einer bequemen Situation leben. Und man spürt hinter diesem Text die ganze Lebenserfahrung von Papst Franziskus, der mit vielen leidenden, armen Familien gegangen ist. Es ist für uns auch ein Ruf zur Umkehr.]
Im Sinne dieser „via caritatis“ (AL, 306) sagt der Papst dann schlicht und einfach in einer Fußnote (351), dass auch die Hilfe der Sakramente in gewissen Fällen gegeben werden kann, wenn „irreguläre“ Situationen vorliegen. Dazu bietet er keine Kasuistik, keine Rezepte, sondern erinnert einfach an zwei seiner bekannten Worte: „Die Priester erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn“ (EG, 44), und die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen (EG, 47).
[Zum Zweck, daß hier eine Klarheit erreicht wird, hilft uns die Kasuistik nicht. Es hilft uns die Unterscheidung, die Begleitung.]
Ist das nicht eine Überforderung der Hirten, der Seelsorger, der Gemeinden, wenn die „Unterscheidung der Situationen“ nicht genauer geregelt ist? Papst Franziskus weiß um diese Sorge: „ Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittliche Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt“ (AL, 308). Dem hält er entgegen: „Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen“ (AL, 311).
Papst Franziskus vertraut auf die „Freude der Liebe“. Die Liebe weiß den Weg zu finden.
[Ich habe den heiligen Augustinus nicht zitiert, aber man könnte seinen berühmten Satz zitieren: „Dilige et fac quod vis.“ Wirklich! Liebe und tu, was du willst.]
Sie ist der Kompass, der uns den Weg zeigt. Sie ist das Ziel und der Weg zugleich, weil Gott die Liebe ist, und weil die Liebe aus Gott ist. Nichts ist so anspruchsvoll wie die Liebe. Sie ist nicht billig zu haben. Deshalb braucht niemand zu fürchten, dass Papst Franziskus mit Amoris laetitia auf einen allzu einfachen Weg einlädt. Leicht ist er nicht. Aber voller Freude!
[Dank an Papst Franziskus für diese wunderschöne Dokument!]
Journalistenfragen und Antworten von Kardinal Schönborn
Nach der Präsentation durften die Journalisten Fragen an Kardinal Schönborn stellen:
Jean-Marie Guénois, Le Figaro: Warum ist das Schlüsselthema von Amoris laetitia in einer kleinen Fußnote am Ende der Seite behandelt und nicht im Text?
Kardinal Schönborn: Das weiß ich nicht. Ich habe den Text nicht geschrieben, es ist der Papst, der ihn gemacht hat. Wir können den Heiligen Vater fragen, warum er es dorthin gesetzt hat. Jeder kann seine Interpretation geben. Zum Beispiel, wie ich schon sagte, habe ich den Papst einmal sagen hören: „Es ist eine Falle, alles auf diesen Punkt zu fokussieren, weil man das Ganze der Frage vergißt. Deshalb würde ich empfehlen, daß es nach Amoris laetitia viele weitere Fragen zu diskutieren gibt und einer der Punkte, ist eine Erneuerung unserer Sakramentenpraxis im Allgemeinen, insgesamt. 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wäre es gut, auch daran zu denken, was das sakramentale Leben bedeutet, nicht nur für eine bestimmten Fall, den der wiederverheirateten Geschiedenen, sondern für uns alle.
Francis Rocca, The Wall Street Journal: Sie haben Familiaris consortio von 1984 zitiert, aber in diesem Dokument schreibt der Papst in der Nr. 84, daß die Kirche ihre auf der Schrift gegründete Praxis bekräftigt, die wiederverheirateten Geschiedenen nicht zur eucharistischen Kommunion zuzulassen, außer wenn sie sich verpflichten, in völliger Enthaltsamkeit zu leben. Dann aber, schwarz auf weiß, fragt einer sich: Hat sich etwas gegenüber vor 35 Jahren geändert? Gibt es eine von Johannes Paul II. nicht vorgesehene Möglichkeit im päpstlichen Lehramt? Und wenn dem so ist, gibt es in der Kontinuität des päpstlichen Lehramtes ein Motiv, weshalb ein künftiger Papst es nicht mehr für opportun und notwendig halten könnte, diese Praxis zu bekräftigen?
Kardinal Schönborn: Kurz gesagt: In Familiaris consortio Nr. 84 spricht der heilige Papst Johannes Paul II. von drei verschiedenen Situationen, die dritte davon ist der Fall, in dem die Wiederverheirateten die moralische Überzeugung haben, daß ihre erste Ehe ungültig ist. Er hat keine Schlußfolgerungen aus diesem Umstand gezogen, aber ich denke, daß es Situationen gibt, die wir alle in der pastoralen Praxis kennen, wo es nicht möglich ist, eine kanonische Lösung zu finden, wo aber in der moralischen Gewißheit, daß die erste Ehe nicht sakramental war, auch wenn sich der Fall kirchenrechtlich nicht klären läßt, mit dem Hirten und den Eheleuten, die in ihrem Gewissen überzeugt sind, von dem Papst Johannes Paul spricht, und die nicht sakramental verheiratet sind, es schon seit langer Zeit Praxis war, sie zu den Sakramenten zuzulassen, die weder Papst Johannes Paul noch Papst Benedikt ausdrücklich in Frage gestellt haben. Und die Tatsache, daß er vom Zusammenleben wie Bruder und Schwester spricht, ist bereits ein außergewöhnlicher Fall, weil sie auf andere Weise ehelich zusammenleben, die Ehe reduziert sich nicht auf die sexuelle Vereinigung, es ist das ganze Leben, das geteilt wird, und daher leben sie völlig in einer zweiten Verbindung, außer der sexuellen Beziehung haben sie ein Eheleben. Und Papst Johannes Paul sagte bereits, daß sie in diesem Fall, wenn es nicht Ärgernis gibt, zu den Sakramenten zugelassen sind. Diese Grauräume bestanden daher schon immer und Papst Franziskus geht nicht auf die Kasuistik ein, sondern weist grundsätzlich eine Richtung, über die auch wir weiter nachdenken müssen.
Zenit, Spanische Ausgabe: Wenn ein Bischof nicht zwischen Wahrheit und Liebe unterscheiden kann, an wen muß man sich wenden, gibt es jemand, der ihm helfen soll?
Kardinal Schönborn: Die Unterscheidung bringt wegen ihrer Natur eine gewisse Unsicherheit mit sich, weil der hl. Thomas sagt, und der Papst zitiert ihn im Text, daß die Grundsätze offensichtlich sind, klar sind, sehr klar sind, klar verkündet, doch je mehr man in die Handlung, in die konkreten Situationen vordringt, desto heikler wird es, zu unterscheiden, und deshalb ist die Übung der Ignatianischen Exerzitien gerade die Unterscheidung der Geister. Der hl. Thomas sagt, daß das auch mit einer gewisse Angst und Sorge verbunden ist, für den, der unterscheiden muß. Auch deshalb wird das immer so sein: Ein Priester wird vielleicht ein bißchen aufgeschlossener ist, ein anderer wird vielleicht etwas ängstlicher sein, strenger in der Unterscheidung, aber das wird immer so sein, auch im Familienleben. Die Unterscheidung ist ein delikates, aber notwendiges Werk.
Washington Post: Kann das Prinzip der Unterscheidung, von dem Sie sprachen, wegen dem man einem Priester mit aufgeschlossener Sichtweise oder einem ängstlicheren antreffen könnte, Ihrer Meinung nach als neuer Ausgangspunkt gesehen werden, ein neues Gesetz, von dem man ausgeht, oder bleibt es eine offene Frage?
Kardinal Schönborn: Der Papst hat es deutlich gesagt: Es ist keine neue kanonische Anweisung, und ich kann daran erinnern, daß genau in diesem Saal, 1981, vor langer Zeit, ein deutscher Kardinal, der wegen der doktrinellen Klarheit berühmt war, Kardinal Höffner, auf eine solche Frage geantwortet hatte: Klärt es mit eurem Beichtvater. Jeder von uns hat eine Verantwortung. Man darf nicht mit den Sakramenten spielen, das stimmt, man darf nicht mit dem Gewissen spielen. Der Papst spricht viel vom Gewissen: Wie geht es dir oder wie geht es euch im Paar in Schwierigkeiten? Wie steht ihr in eurem Gewissen vor Gott? Darauf kann weder die kanonische Regel im Detail antworten noch der Hirte. Ihr müßt wissen: Ihr könnte nicht mit Gott spielen. Daher listet der heilige Papst Johannes Paul in der Nr. 84 von Familiaris consortio den Fall eines wiederverheirateten Paares auf, dessen Ehe „definitiv zerbrochen“ ist, so der Papst, er verwendet dieses Wort: Wenn sie im Gewissen überzeugt sind, daß ihre Ehe nicht gültig war, ist es eine andere Situation als im anderen Fall, den der heilige Papst Johannes Paul zitiert, von jemandem, der die gültige Ehe wirklich aus Leichtfertigkeit gebrochen hat: Das ist eine andere moralische Situation vor Gott und vor der Gemeinschaft und vor der Kirche, vor ihrem Gewissen. Daher führt der Papst mit diesem Dokument keine Neuerung ein, das ist wichtig zu sagen, er führt keine Neuerung ein, er steht in der großen pastoralen, vorsichtigen Tradition der Kirche. Es ist die pastorale Vorsicht, die jeder Priester, jeder Bischof zu üben hat.
Gianfranco Svidercoschi: Ich habe das vierte Kapitel gelesen und war schockiert, weil sich in den Fußnoten nicht ein Hinweis auf die Synode findet. Über die Sexualität, den Eros, die Leidenschaft, beschränkt es sich, Johannes Paul II. zu zitieren, die Katechesen über den Körper und Benedikt XVI. Noch schockierender ist, daß das dem entspricht, was bei der Synode geschehen ist. Wir haben einen Papst, der die Sexualität als einen großen Wert betrachtet und eine Synode, die nicht einmal darüber spricht. Daher kommt mir ein Zweifel, wie die Kleriker wissen sollen, über die Probleme der Familien zu sprechen.
Kardinal Schönborn: Es hat auch mich betroffen gemacht, daß sich nichts von diesem wunderschönen 4. Kapitel in den beiden Synodenberichten findet. Ich denke aber, daß das etwas aussagt. Die Synodenväter waren fast alle ledig, mit einer Ausnahme, dem Generaloberen der Petits Freres de Jesus, nein, nein, nicht einmal er, er war kein Priester, aber ledig. Die Verheirateten waren Experten, aber nicht Synodenväter. Das ist das Problem, Sie haben recht. Gott sei Dank hat Papst Franziskus Abhilfe geschaffen und das wunderschön.
Frankfurter Allgemeine Zeitung (die Frage wurde auf deutsch gestellt und von Vatikansprecher Pater Lombardi zusammengefaßt übersetzt. Hier die Zusammenfassung Lombardis): Warum findet sich der Hinweis auf die Kommunion für die wiederverheirateten Geschiedenen nur in der Fußnote 351?
Kardinal Schönborn: Ein Umstand, der mich erstaunt ist, daß alle diese Fußnote lesen. Eine Fußnote zu setzen, erstaunt und weckt also das Interesse. Ich bleibe fest in diesem Punkt: Papst Franziskus will eine Gesamtsicht darlegen und sich nicht auf einen speziellen Punkt fixieren, der wichtig, aber speziell ist. Und ohne die Gesamtkriterien zur Unterscheidung, auch die Unterscheidung zu „in bestimmten Fällen „auch die Hilfe der Sakramente“, würden ohne Zusammenhang mit dem Ganzen vom Himmel fallen.
Elisabetta Povoledo, New York Times: Wer gehörte der Kommission an, die das Dokument geschrieben hat?
Kardinal Schönborn: Ich weiß es nicht. Ich nicht, und ich habe nicht gefragt. Und ich kann nicht lügen, wenn ich sage, daß ich es nicht weiß.
Felipe Domànguez, San Paolo del Brasile: Es scheint, daß das Dokument die Formung der Paare und die Begleitung in der Ehe betont. Gleichzeitig sprechen sie aber von einer übertriebenen Idealisierung des Familienlebens. Was können wir den Paaren in praktischer Hinsicht auf diesem Weg der Begleitung bringen, was nicht nur Begegnungen, Katechesen, die üblichen Dinge sind?
Kardinal Schönborn: Ganz kurz: In diesem Moment, wo es auch viele Angriffe gegen die Familie gibt, ist es bereits eine sehr starke Botschaft für die Gesellschaft von heute, wenn der Papst mit lauter Stimme und Schönheit und Nachdruck sein Vertrauen in die Ehe und die Familie ausspricht.
Diane Montagna, Aleteia: Nur um es zu klären: Ich denke, daß alle im Zusammenhang mit dem Paragraph 84 von Familiaris consortio wissen wollen: Hat sich etwas in Bezug auf diesen Paragraphen im Ganzen geändert? Ist alles noch so, wie es in Familiaris consortio Nr. 84 geschrieben steht?
Kardinal Schönborn: Ich sehe nicht, daß es eine Änderung gäbe, aber mit Sicherheit eine Entwicklung, eine organische Entwicklung, zu dem wie Papst Johannes Paul die Lehre darlegte. Ich mache ein Beispiel: Nie in der Geschichte der Lehre der Kirche wurde das Paar, Mann und Frau, als solches als Abbild Gottes gesehen. Papst Johannes Paul machte daraus den Mittelpunkt seiner Ehelehre. Ich fordere aber alle Experten der Theologie heraus, zu sagen, wo in der Tradition das je gemacht wurde. Es ist also normal, ja, es gibt eine Entwicklung. John Henry Newman hat uns erklärt, wie diese organische Entwicklung der Lehre funktioniert. Gewiß, in diesem Sinn entwickelt Papst Franziskus die Dinge weiter. Der Satz, den Sie gesagt haben, findet sich implizit in Familiaris consortio, implizit, ich bin bereit, es zu beweisen. Für mich ist die Entwicklung die, daß Papst Franziskus es eindeutig, ausdrücklich sagt. Das ist der klassische Fall einer organischen Entwicklung der Lehre. Es gibt Innovation und Kontinuität. Lesen Sie deshalb die berühmte Rede von Papst Benedikt über die Hermeneutik der Kontinuität. In diesem Dokument finden sich für mich wirkliche Neuheiten, aber keine Brüche, so wie das kein Bruch ist, was Johannes Paul mit dem auf Mann und Frau angewandten Abbild Gottes getan hat. Es ist kein Bruch, sondern eine Entwicklung.
Andrea Gagliarducci, CNA, ACI Stampa: Was die Nummer 301 betrifft bezüglich der irregulären Paare, die nicht im Stand der Todsünde sind, und zur Rede über die Innovation der Lehre, von der Sie sprachen: Auf welche Weise läßt sich das mit Veritatis splendor von Johannes Paul II. vereinbaren, wo von einem „in sich Bösen“ die Rede ist?
Kardinal Schönborn: Veritatis splendor spricht sicher mit Klarheit von den Normen des intrinsece malum, aber Papst Franziskus hat hier im Dokument eine Reihe von Andeutungen zur Frage der Anrechenbarkeit, sehr wichtig, und er zitiert den Katechismus der katholischen Kirche: die Anrechenbarkeit, die eine der Bedingungen ist, um zu wissen, ob es sich um eine Todsünde handelt oder nicht. Man muß daher diese Stellen über die Anrechenbarkeit lesen, die klassisch sind: der Großteil dieser Zitate kommen aus dem Katechismus und vom hl. Thomas.
Familiaris consortio
Nr. 84 (1984)
Wiederverheiratete Geschiedene
84. Die tägliche Erfahrung zeigt leider, daß derjenige, der sich scheiden läßt, meist an eine neue Verbindung denkt, natürlich ohne katholische Trauung. Da es sich auch hier um eine weitverbreitete Fehlentwicklung handelt, die mehr und mehr auch katholische Bereiche erfaßt, muß dieses Problem unverzüglich aufgegriffen werden. Die Väter der Synode haben es ausdrücklich behandelt. Die Kirche, die dazu gesandt ist, um alle Menschen und insbesondere die Getauften zum Heil zu führen, kann diejenigen nicht sich selbst überlassen, die eine neue Verbindung gesucht haben, obwohl sie durch das sakramentale Eheband schon mit einem Partner verbunden sind. Darum wird sie unablässig bemüht sein, solchen Menschen ihre Heilsmittel anzubieten.
Die Hirten mögen beherzigen, daß sie um der Liebe willen zur Wahrheit verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob jemand trotz aufrichtigen Bemühens, die frühere Ehe zu retten, völlig zu Unrecht verlassen wurde oder ob jemand eine kirchlich gültige Ehe durch eigene schwere Schuld zerstört hat. Wieder andere sind eine neue Verbindung eingegangen im Hinblick auf die Erziehung der Kinder und haben manchmal die subjektive Gewissensüberzeugung, daß die frühere, unheilbar zerstörte Ehe niemals gültig war.
Zusammen mit der Synode möchte ich die Hirten und die ganze Gemeinschaft der Gläubigen herzlich ermahnen, den Geschiedenen in fürsorgender Liebe beizustehen, damit sie sich nicht als von der Kirche getrennt betrachten, da sie als Getaufte an ihrem Leben teilnehmen können, ja dazu verpflichtet sind. Sie sollen ermahnt werden, das Wort Gottes zu hören, am heiligen Meßopfer teilzunehmen, regelmäßig zu beten, die Gemeinde in ihren Werken der Nächstenliebe und Initiativen zur Förderung der Gerechtigkeit zu unterstützen, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen und den Geist und die Werke der Buße zu pflegen, um so von Tag zu Tag die Gnade Gottes auf sich herabzurufen. Die Kirche soll für sie beten, ihnen Mut machen, sich ihnen als barmherzige Mutter erweisen und sie so im Glauben und in der Hoffnung stärken.
Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht. Darüber hinaus gibt es noch einen besonderen Grund pastoraler Natur: Ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung.
Die Wiederversöhnung im Sakrament der Buße, das den Weg zum Sakrament der Eucharistie öffnet, kann nur denen gewährt werden, welche die Verletzung des Zeichens des Bundes mit Christus und der Treue zu ihm bereut und die aufrichtige Bereitschaft zu einem Leben haben, das nicht mehr im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe steht. Das heißt konkret, daß, wenn die beiden Partner aus ernsthaften Gründen – zum Beispiel wegen der Erziehung der Kinder – der Verpflichtung zur Trennung nicht nachkommen können, „sie sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heißt, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind“ (Johannes Paul II., Homilie zum Abschluß der VI. Bischofssynode (25.10.1980), 7: AAS 72 (1980) 1082).
Die erforderliche Achtung vor dem Sakrament der Ehe, vor den Eheleuten selbst und deren Angehörigen wie auch gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen verbietet es jedem Geistlichen, aus welchem Grund oder Vorwand auch immer, sei er auch pastoraler Natur, für Geschiedene, die sich wiederverheiraten, irgendwelche liturgischen Handlungen vorzunehmen. Sie würden ja den Eindruck einer neuen sakramental gültigen Eheschließung erwecken und daher zu Irrtümern hinsichtlich der Unauflöslichkeit der gültig geschlossenen Ehe führen.
Durch diese Haltung bekennt die Kirche ihre eigene Treue zu Christus und seiner Wahrheit; zugleich wendet sie sich mit mütterlichem Herzen diesen ihren Söhnen und Töchtern zu, vor allem denen, die ohne ihre Schuld von ihrem rechtmäßigen Gatten verlassen wurden.
Die Kirche vertraut fest darauf; daß auch diejenigen, die sich vom Gebot des Herrn entfernt haben und noch in einer solchen Situation leben, von Gott die Gnade der Umkehr und des Heils erhalten können, wenn sie ausdauernd geblieben sind in Gebet, Buße und Liebe.
Post Scriptum
Kardinal Schönborn betonte in seinen Ausführungen mehrfach, daß der heilige Thomas von Aquin in Amoris laetitia zitiert sei. Dabei wird der Eindruck vermittelt, als lasse sich die von Papst Franziskus darin dargelegte Position auch in den umstrittenen Stellen auf den heiligen Thomas zurückführen. Dagegen nahmen namhafte Theologen und Kommentatoren Stellung und werfen Amoris laetitia vor, den hl. Thomas selektiv zu zitieren und vor allem den Kontext zu verzerren. Mit anderen Worten, der Name des großen Heiligen der Scholastik werde bis zu einem bestimmten Punkt mißbraucht, um eine ganz andere Position zu rechtfertigen.
Gleiches gilt für die Berufung auf das nachsynodale Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II., besonders den Paragraphen 84, der bereits während der Synode von Kasperianern selektiv zitiert wurde. Auch in diesem Fall entsteht durch die auffällige Betonung von Familiaris consortio sowie der beiden Vorgängerpäpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. der Eindruck, daß eine unzutreffende Kontinuität behauptet werden soll. Dabei geht es um den unzutreffenden Eindruck, die genannten Päpste hätten bereits irgendwie vorweggenommen, was Papst Franziskus nun umsetze, bzw. den Eindruck, Papst Franziskus führte keine Neuerung ein.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL (Screenshot)
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↑1 | Italienisch für „Guten Abend!“, Anm. d. Red. |
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