
Schon kurze Zeit nach Beginn des Russland-Krieges organisierte die SS-Führung ein Mordprogramm unvorstellbaren Ausmaßes. Keine zehn Jahre später wurden mit einem SPIEGEL-Artikel die schlimmsten Verbrechen und Verbrecher von Himmlers Vernichtungskrieg hinter der russischen Front beschönigt, verharmlost, verdreht und sogar ins Positive gewendet.
Ein Gastbeitrag von Hubert Hecker.
Am Sonntag, dem 6. Juli 1941, ließen die Bischöfe der katholischen Kirche von allen Kanzeln der deutschen Pfarreien einen gemeinsamen Hirtenbrief verlesen. Der Kernsatz des Lehrschreibens lautete: „Nie, unter keinen Umständen, darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“
Diese Einschärfung zum fünften Gebot Gottes: „Du sollst nicht töten!“ war in erster Linie gerichtete gegen die nationalsozialistischen Massentötungen von behinderten und kranken Menschen in den sechs reichsdeutschen „Euthanasie“-Anstalten. Nach zahlreichen Eingaben und Protestschreiben von Bischöfen, dem oben genannten gemeinsamen Hirtenbrief aller deutschen Bischöfe sowie insbesondere den drei Protestpredigten des Bischofs von Galen aus Münster wurde die Gasmordaktion am 24. August 1941 gestoppt.
Zwei Wochen vor Verlesung des Hirtenbriefs hatte Adolf Hitler den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion befohlen. Schon kurze Zeit nach den ersten Angriffswellen begann Heinrich Himmlers SS in den eroberten Sowjet-Gebieten mit einem Mordprogramm zur Tötung von Zivilisten. Auch das waren Tötungen ‚außerhalb der Kriegs- und Kampfhandlungen und nicht in Notwehr-Gefahr’, die der bischöfliche Hirtenbrief verurteilte.
Ein SS-Massenmörder lässt in drei Monaten 45.000 Zivilisten ermorden
Einer der Hauptverantwortlichen für diese Massenmorde an sowjetischen Bürgern war der SS-Führer Artur Nebe (+1945). Er war seit 1939 zu der technischen Erprobung und Durchführung der Krankenmorde im Deutschen Reich einbezogen worden und wurde im Juli 1941 nach Russland versetzt.
Der Kriegsverbrecher Nebe ließ bei seinem Einsatz als verantwortlicher Chef der Einsatzgruppe B hinter dem Mittelabschnitt der Front innerhalb von drei Monaten mehr als 45.000 Zivilisten ermorden – zum Großteil Juden, aber auch Zigeuner und Russen.
Anfang August 1941 nahm Reichsführer SS, Heinrich Himmler (+1945), an einer Erschießungsaktion von Nebes Brigade teil, anschließend besuchte er eine russische Heilanstalt. Dabei wies er den SS-Führer Nebe an, die russischen Kranken möglichst effektiv zu liquidieren. Die Anstaltsinsassen sollten aber nicht erschossen werden, da eine solche unmittelbare Tötungsaktion die SS-Exekutoren unerträglich belasten würde.
Geringe Tötungseffizienz mit Krankensaal-Sprengungen

Nebe gehörte zu dem Typ von Himmlers willigen Vollstreckern der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den der Nationalsozialismus geformt hatte: ein Kriminalist mit krimineller Energie, ein SS-Führer mit technischer und organisatorischer Intelligenz, ein Nazi-Scherge in erbarmungsloser Durchsetzung der NS-Rassenideologie gegen „Fremdvölkische“.
Zu Himmlers Tötungsanweisung hatte Nebe zunächst den Einfall, die Kranken direkt in den Heilanstalten in die Luft zu sprengen. Bei zwei Probesprengungen ließ der brutale SS-Führer in einem Bunker ein Dutzend Geisteskranke mit Sprengstoff in die Luft jagen. Diese Aktion verlief aber bezüglich der Tötungseffizienz nicht zufriedenstellend.
Danach – Mitte August 1941 – ordnete der SS-Führer an, in einer russischen Heilanstalt einen gefliesten Laborraum als luftdichten Gastötungsraum herzurichten. Solche Gaskammern hatte Nebe in Deutschland schon ab Januar 1940 für die Mordaktion an deutschen Kranken einrichten lassen. In den sechs deutschen „Euthanasie“-Anstalten waren die Kranken mit Kohlenmonoxyd aus Gasflaschen umgebracht worden.
Diese technische Lösung war in den eroberten Gebieten Russlands aus praktischen und ökonomischen Gründen nicht durchführbar. Daher ersann der SS-Führer die Methode, die russischen Kranken durch Einleitung von LKW-Abgase zu ermorden. Bei einem Probedurchgang wurden in dem gasdicht abgeschirmten Laborraum einer Krankenanstalt fünf Geisteskranke über ein flexibles Gasrohr umgebracht. Nebe berichtete Himmler stolz von dieser von ihm erdachten, erfolgreichen und effizienten Abgastötungsaktion an „fremdvölkischen“ Anstaltsinsassen.
Das alles geschah in den gleichen Wochen, als in Deutschland die deutschen Bischöfe mit Denkschrift, Hirtenbrief, Eingaben und Predigten gegen die Tötung von kranken und behinderten Menschen protestierten.
Ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer bringt das SPIEGEL-Sturmgeschütz in Stellung – zum ideologischen Flankenschutz für den SS-Vernichtungskrieg
Ein Stellvertreter von Arthur Nebe im Berliner Reichskriminalpolizeiamt was SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner (+1995). Wehner wurde 1949 vom SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein (+2002) angeheuert, in einer 30teiligen Serie die Arbeit der deutschen Kriminalpolizei im NS-Staat zu beschönigen.
In der Serie „Das Spiel ist aus – Artur Nebe“ beschreibt der SPIEGEL-Schreiber den SS-„Kollegen Nebe“ als Muster deutscher Polizeimenschlichkeit. Von den 45.000 Ermordungen an russischen Zivilisten unter Nebes Verantwortlichkeit finden sich in der 30teiligen Serie allerdings nur relativierende Randnotizen. Ausführlicher stellt der SPIEGEL-Autor die Tötungsaktion an einigen hundert russischen Anstaltskranken dar. Der ehemalige SS-Hauptsturmfüher Wehner schreibt darüber in einer Weise, mit der er um viel Verständnis wirbt für das Vorgehen seines Vorgesetzten, des SS-Gruppenführers Nebe. Der organisierte im eroberten Westrussland Hitlers rassistische ‚Aktion Gnadentod’. SS-Kollege Wehner beschönigte diese Massenmordaktion in der 18. Folge der SPIEGEL-Serie im Februar 1950:
Der SPIEGEL schreibt im Jargon der Landserhefte:
„Irrenhaus in Minsk. Irrenhaus in Smolensk. Hunderte ärmster Menschen, irre, tobsüchtige, in Lumpen gehüllte und heruntergekommene Menschen, ohne Nahrung und ohne Pflegepersonal.“
Wehner schwelgt im scheinauthentischen Landserheftjargon in Phantasiedarstellungen: Die Aussage „ohne Nahrung und Pflegepersonal“ ist eine Lüge; die Verelendungsthese liegt auf der Linie des NS-Propagandabilds von „heruntergekommenen“ Russen und soll die spätere Ermordung rechtfertigen.
„Nebe funkt an Heydrich. Antwort: „Liquidieren!“
Ebenfalls eine Lüge: Himmler ordnete die Krankenmorde an – ausdrücklich nicht durch Erschießungen.
„Nebe ist konsterniert. Er geht selbst in das Irrenhaus. Unmöglich! Wie sollte man diese Leute erschießen? Man müßte sie festhalten, binden, um den Schützen einen einigermaßen sicheren Schuß zu ermöglichen. Wer sollte das aushalten?“
Der SPIEGEL stilisiert den Massenmörder zu einem rücksichtsvollen Vorgesetzten
SS-Mann Wehner baut den „Kollegen“ Nebe als nachdenklich-rücksichtsvollen Menschen auf, der entgegen den grausamen Anweisungen Heydrichs eine humane Problemlösung entwickeln würde:
„In Nebe entsteht ein Plan. Er läßt einen Teil der Kranken in eine kleine Holzbaracke, eine Garage, bringen und einen starken Pkw vorfahren. Der auf hohen Touren laufende Wagen strömt seine Auspuffgase in den Raum.“
Die Holzgarage ist eine Phantasie-Erfindung Wehners. Wie sollten eigentlich die Auspuffgase in die Garage „einströmen“?
„Aber die Garage ist nicht dicht. Erschauernd vor einem Guckloch erschrickt Nebe vor seiner eigenen Grausamkeit. Aber er muß irgend etwas unternehmen. Wieder ventiliert er das Erschießen. Unmöglich!“
Der SPIEGEL-Autor scheint ein Drehbuch für einen Film zu schreiben:

„Dann läßt er die Garage vollständig abdichten und wiederholt den Versuch mit einem noch stärkeren Wagen. Erfolgreich.“
Wie soll eine Holzbracken-Garage „vollständig abgedichtet“ werden können? Die historische Wahrheit ist, daß Nebe ein Labor eines steingemauerten Krankenhauses abdichten und dort die ersten Probevergasungen an russischen Anstaltspatienten vornehmen ließ.
„Nebe ist vollends am Ende. Er tröstet sich mit dem Gedanken, ordentliche Männer seiner Einsatzgruppe vor der Durchführung der grauenvollen Exekution bewahrt zu haben.“
Dieser Satz ist das angezielte Ergebnis von Wehners faktenfreier Darstellung, die er aber dramaturgisch geschickt vermittelt – nach Art der frühen „SPIEGELstory“:
Ein deutscher SS-Führer zerreißt sich, um „ordentliche“ deutsche SS-Männer vor grauenvollen Arbeiten zu bewahren.
„Aber Nebe ist ein pflichtgetreuer Mann, der die Anerkennung seiner Oberen gern erringt. Er verfaßt einen Bericht an Heydrich.“
Massenmörderische Aktionen gibt Wehner als ‚Pflichttreue’ aus, für die er gleichwohl speichelleckerisch um Anerkennung bei seinem SS-Vorgesetzten buhlt. Der Bericht war allerdings an Himmler zu schreiben, nicht an Heydrich.
„Er rühmt seinen Einfall, mit dem er den Menschen durch die Materie ersetzt und moralisch ungefährdet gelassen habe.“
Der SPIEGEL-Autor lügt durch Verschweigen und Verdrehen:
„Auch die Gaskammer hat Arthur Nebe in Russland zum ersten Mal ausprobiert“, behauptet Wehner. In Wirklichkeit hatte Neben den „Einfall“, Kranke mit dem Verbrennungsgas Kohlenoxyd zu töten, schon im Oktober 1939.
Wehner lügt auch, indem er den äußerst grausamen Einfall Nebes verschweigt, von dem er mit Sicherheit Kenntnis hatte, dass der SS-Führer zunächst die Kranken mit Sprengstoff direkt in ihren Krankensälen ermorden lassen wollte und dieses Vorhaben mit einer Krankenbunkersprengung ausprobierte.
Der SPIEGEL-Schreiber stellt den äußerst brutal denkenden und grausam handelnden SS-Führer Nebe als einen mitfühlenden Chef dar, dessen einzige Sorge es gewesen sei, seine Untergebenen vor „grauenvollen“ Exekutionen bewahren zu wollen. Die Wahrheit ist, daß diese zivilisatorische Bestie bei der Durchsetzung des nationalsozialistischen Krankenmordprogramms unvorstellbar grauenvolle Mittel anzuwenden bereit war – wie z. B. Krankensaalsprengungen.
All das vertuscht der SPIEGEL in seinem Artikel
Auch mit der kryptischen Umschreibung, die SS-Leute „moralisch ungefährdet lassen“ zu lassen, verschleiert der SS-SPIEGEL-Mann die wirklichen Verhältnisse:
Bei den SS-Erschießungskommandos gab es schon bald nach den ersten Erschießungs-Einsätzen im Juli 1941 erhebliche Schwierigkeit mit Befehlsverweigerungen, Trunkenheitsexzessen, psychischen Erkrankungen und Selbstmorden. Himmler fühlte sich allein schon durch das Besichtigen einer Erschießung „seelisch belastet“. Daher gab er seine Anweisung, technische Alternativ-Tötungen auszuprobieren.
Der mobile Gaskammerwagen – Endlösung für 97.000 russische Zivilisten
Nachdem Nebes SS-Einheiten in den großen Krankenanstalten in Minsk und Smolensk einige hundert Kranke in der stationären Gaskammer mit PKW-Abgasen getötet hatten, stellte sich heraus, dass mit dieser Methode nicht das flache Land von Kranken, Juden und aufsässigen Russen „gesäubert“ werden konnte. Also gab die SS-Führung die Konstruktion eines Abgastötungswagens an eine deutsche Firma in Auftrag. Dabei sollten die Motorverbrennungsgase während einer Fahrt direkt in einen gasdicht geschlossenen Aufbau eingeleitet werden. Diese mobilen Gaskammern sollten „insbesondere zur Liquidierung von Frauen und Kinder genutzt werden“.
Mit den seit Dezember 1941 eingesetzten drei Gaswagen ließen die SS-Führer – Nebe hatte sich inzwischen versetzten lassen – innerhalb von sechs Monaten 97.000 russische Zivilisten umbringen.
Der SPIEGEL vertuschte die schlimmsten NS-Verbrechen und protegierte die Täter
Die SPIEGEL-Serie „Das Spiel ist aus – Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“ aus den Jahren 1949/50 hatte drei Zielsetzungen bzw. Ergebnisse:
„¢ Die schlimmsten Verbrechen von Hitlers Vernichtungskrieg hinter der Front sollen verschwiegen, vertuscht, verharmlost, verdreht und sogar ins Positive gewendet werden.
„¢ Die NS-Täter, Himmlers willige Vollstrecker im Massenmord an „minderwertigen“ Juden, Slawen und Kranken, werden als pflichttreue, einfühlsame und sorgende Vorbilder von Menschlichkeit glorifiziert.
„¢ Insbesondere die SS-Täter aus den Reihen der Kriminalpolizei werden in der SPIEGEL-Serie als rechtschaffen und unbelastet hingestellt, so dass sie unbedenklich für den Neuaufbau der Kriminalpolizei in der jungen Bundesrepublik verwendet werden könnten.
Mit der Reinwaschung der Nazi-Verbrecher wurde der SPIEGEL zum Steigbügelhalter für deren Wiedereinstieg in die BRD-Elite

In einem weiteren SPIEGEL-Artikel vom 14. März 1951 präsentierte Wehner eine Liste von zehn „erfahrenen und maßgeblichen Kriminalisten“ der NS-Zeit, die sechs Jahre nach dem Krieg immer noch von angemessenen Anstellungsverhältnissen ausgeschlossen seien. Von diesen Nazi-Kriminalisten gehörte die Mehrheit zum SS-Führungskader und war als Kriegsverbrecher interniert gewesen. Besonders dreist protegierte Wehner seinen SS-Kumpan Dr. Walter Zirpin, einen ehemaligen Oberregierungs- und Kriminalrat im Range eines Hauptsturmführers.
Zirpin hatte tiefbraunen NS-Dreck am Stecken. 1937 forderte er in einer Publikation, die Polizei müsse stärker als bisher allein das Volksgemeinschaftswohl als Kriterium des Eingreifens ansehen – und nicht die Rechte des Einzelnen schützen. Als kriminalpolizeilicher Leiter des Ghettos Litzmannstadt beschrieb er, wie sich die „jüdische Mentalität“ unter Ghettobedingungen zu „Kriminellen, Schiebern, Wucherern und Betrügern“ entwickelt hätte. Zirpin beteiligte sich an der Ausraubung der vermögenden Juden im Menschenpferch Litzmannstadt. Auch an der Drangsalierung der Juden im Warschauer Ghetto war Zirpin maßgeblich beteiligt.
Dank der Schützenhilfe von SPIEGEL-Autor Wehner wurde Zirpin schon Mitte 1951 vom Niedersächsischen Innenministerium in seinen alten NS-Rang als Oberregierungs- und Kriminalrat eingesetzt, später wechselte er auf den Posten des Leiters der Kriminalpolizei Hannover. Diese Positionen ermöglichten es Zirpin, als führendes Mitglied eines Netzwerkes ehemalige Nazi-Kriminalisten nicht nur die Personalpolitik und die kriminalpolitischen Diskurse der westdeutschen Kripo zu beeinflussen, sondern auch die kriminalistisch-kriminellen Tätigkeiten in der NS-Zeit zu interpretieren: So behauptete der ehemalige SS-Judenverfolger von Litzmannstadt und Warschau 1955 zynisch und wahrheitswidrig, dass die deutsche Kripo von 1933 bis 1945 auch in SS-Rängen „stets Rechtsbewusstsein und Achtung vor der Menschenwürde“ zum Maßstab ihres Handelns gemacht hätte.
Der ehemalige SS-Hauptsturmführer Walter Zirpin bedankte sich für die Schützenhilfe des SPIEGELS, indem er sich später Augstein als SPIEGEL-Autor andiente, der in seiner Serie zum Reichstagsbrand die Nazis vollständig vom Brandgeruch der Mittäterschaft reinwusch (dazu Beitrag (5).
Auch für den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Wehner hatte sich das Schönreden der NS-Kripo durch die SPIEGEL-Serie gelohnt: Er avancierte 1954 zum Leiter der Kriminalpolizei Düsseldorf und blieb bis zu seiner Pensionierung 1970 in dieser Funktion. Zudem wurde er Schriftleiter des Fachblattes Kriminalistik.
Der SPIEGEL nennt den SS-Massenmörder Nebe einen „anständigen Ausrottungshäuptling“
Der Kölner Medienforscher Lutz Hachmeister will in der Wehner-Serie die „unverkennbare Handschrift von Augstein“ erkannt haben, den er als Profi im Redigieren charakterisiert. Der SPIEGEL der frühen Jahre sei „im Stil irgendwo zwischen Time und Landserheften situiert“ gewesen und durchgängig „in einem schnoddrigen Casino-Ton“ geschrieben –etwa wenn der SS-Gruppenführer und Kriegsverbrecher Arthur Nebe als „anständiger, ehrgeiziger, ängstlicher Ausrottungshäuptling“ bezeichnet wird.
Der Fisch stinkt vom Kopf her: Augstein als persönlich Verantwortlicher für diese politische Skandal-Serie
Diese Einschätzung vom starken redaktionellem Eingriff des damaligen Chefredakteurs Augstein in die Serie erscheint mit folgenden Überlegungen plausibel:
Der journalistisch ungeschulte Autor Dr. Bernhard Wehner hatte als Leiter der Dienststelle zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen in der Zentrale des Reichskriminalpolizeiamtes durch seine Arbeit sowie aufgrund von Verbindungen und Erzählungen zwar einen guten Überblick über das Feld der Kriminalistik, aber als langjähriger Stubenbeamter war er mit dem Landserton und Casino-Slang der Soldaten in Feld und Etappe nicht besonders vertraut, die der Serie den linguistischen Stallgeruch der ‚Frontschweine’ gaben.
Augstein dagegen war knapp drei Jahre Wehrmachtsoldat an der Ostfront. Er wurde dort eingesetzt als Kanonier, Funker, Kantinenwirt, Lustwart für Unterhaltung und Zerstreuung der Soldaten und zuletzt als Leutnant für Artilleriebeobachtung. Er kannte also aus eigener Erfahrung den Landser-Jargon der einfachen Soldaten sowie den „schnoddrigen Casino-Ton“ der Wehrmachtsoffiziere.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass der SPIEGEL-Chefredakteur und Herausgeber Rudolf Augstein sich nie von diesem schändlichen Serien-Machwerk distanzierte, da er selbst darin redaktionell verstrickt war.
Statt investigativer Aufklärung betreibt der SPIEGEL zur eigenen Geschichte eine Verklärungs- und Vertuschungsstrategie
Auch nach Augsteins Tod 2002 übte sich die Chefredaktion in vertuschenden Beschönigungsformulierungen über die schmutzig-braune Vergangenheit des Blattes. In einem Rückblick auf die „erste SPIEGEL-Dekade 1947–1956“ berichtete die Chefredaktion im Januar 2007, dass Augstein den „eben noch rassisch Verfolgten Ralph Giordano“ angeworben und „sogar“ zwei Kommunisten kurzzeitig eingestellt hätte. Diese selektive Rückschau war allerdings eine durchsichtige Rückprojizierung des linksliberalen Images von späterer Zeit auf die Gründungsjahre. Die Wahrheit über die Anwerbung von allein einem Dutzend ehemaliger SS-Führer als formelle und informelle Redaktionsmitarbeiter in der ersten SPIEGEL-Dekade verschwieg die Chefredaktion geflissentlich, obwohl es ihr bekannt war. Das ist die spezifische Form der ZerrSPIEGEL-Lüge: Statt der zwölf hochrangigen Vertreter aus dem NS-Täter- und Verfolgersystem in der Redaktion zu nennen, werden drei Vertreter aus den Gruppen der Verfolgten als frühe Redakteure vorgeschoben.
Augstein selbst hatte sein Blatt als „Sturmgeschütz“ bezeichnet – ein kryptischer Hinweis auf die redaktionelle SS-Riege, aus der zwei SS-Kanoniere zu Ressortleitern aufstiegen und damit die Richtung des Blattes maßgeblich mitgestalten konnten.
Die SPIEGEL-Story als politisch obszöner Journalismus: Enthüllungsgeschichten aus der Schlüsselloch-Perspektive
Aufschlussreich ist auch der Blick auf das sogenannten SPIEGEL-Statut für die typische SPIEGEL-Story, nach der auch die Wehner-Nebe-Serie redaktionell bearbeitete wurde:
„Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch. Darum sollten alle SPIEGEL-Geschichten einen hohen menschlichen Bezug haben. Ein SPIEGEL-Artikel ist mit einem aktuellen Aufhänger, einem höchst dramatisch-emotionalen Einstieg, zu beginnen. Danach wird in möglichst personalisierter Form die innere Problematik angerissen. Es folgt eine dramaturgisch derart aufbereitete Schilderung, dass dabei Hintergründe klar werden. Falls es dem Autor nicht an Mut gebricht, darf er nun eine persönliche Prognose der weiteren Entwicklung wagen, bevor er – ganz wichtig! – den Leser mit einem Schlussgag entlässt.“
„Dem Leser wird die Position am Schlüsselloch angeboten“- so Hans Magnus Enzensberger 1957 zu diesem politisch obszönen SPIEGEL-Journalismus.
Auflagensteigerung durch opportunistische Bedienung von Rechtfertigungsbedürfnisse der Kriegsgeneration
Selbstlöbliches Resümee der SPIEGEL-Redaktion im Jahre 2007: „Es war wohl der personalisierte Approach des Magazins, der – damals brandneu – den Lesern gefiel und die Auflage auf 90.000 Stück steigerte.“ Entscheidend ist allerdings, zu welchem Ziel und Zweck dieser aufs Politisch-Gesellschaftliche übertragene Gartenlaubenstil angesetzt wurde – im frühen SPIEGEL zur verständnisvollen Rechtfertigung der NS- und SS-Führer der mittleren bis oberen Ebene.
So neu wie behauptet war diese journalistische Schreibe allerdings auch nicht: Gegenüber dem sachlichen Nachrichtenstil der Tageszeitung in den 20er und 30 Jahren hatten schon die NS-Presseorgane den emotionalisierten und personalisierten Reportagenansatz entdeckt und entwickelt. Augstein wird diese Methode in seinem einjährigen Volontariat bei der Goebbelspresse in Hannover sicherlich kennengelernt haben. Der ‚stern’-Gründer Henri Nannen hatte den personalisierten Ansatz ebenfalls in der Nazizeit gelernt als Kriegs- und NS-Propagandaschreiber in einer SS-Einheit sowie Autor von Landserheftromanen für die Jugend.
Was die SPIEGEL-Redaktion ebenfalls verschweigt: Die Auflagensteigerung mit der Wehner-Nebe-Serie wurde vor allem durch die opportunistische Bedienung von Reinwaschungs- und Rechtfertigungsbedürfnisse der Kriegsgeneration erreicht, die in der redaktionellen Entnazifizierung und Glorifizierung des Kriegsverbrechers Arthur Nebe zum tragischen Helden ihr eigenes Schicksal als gescheiterte NS-Zeitgenossen wieder finden und sich daran trösten konnte.
Text: Hubert Hecker
Bilder: vom Autor zusammengestellt