(Den Haag) Albert Heringa hat seine Mutter ermordet. Für die niederländischen Richter hat er damit zwar gegen das Gesetz verstoßen, wurde aber dennoch freigesprochen. Denn hätte er die 99jährige Frau nicht getötet, so die Richter, „hätte er mit Schuldgefühlen leben müssen“.
Als die Richter des Berufungsgerichts in Arnhem das Urteil verkündeten und Albert Heringa in allen Anklagepunkte freisprachen, gab es im Gerichtssaal lautstarken Beifall. „Ich bin überglücklich“ erklärte der Freigesprochene der Presse.
Gesetzesbruch
Der 74 Jahre alte Albert Heringa hatte im Juni 2008 seine damals 99 Jahre alte Mutter Marie (Moek) getötet. Es war vorsätzlicher Mord. Doch weil er nicht aus Haß, sondern „aus Liebe“ handelte, denn er habe „so gelitten“, wurde er in den Niederlanden freigesprochen.
Dabei befand sich die Mutter weder im Endstadium einer unheilbaren Krankheit noch litt sie unter unerträglichen Schmerzen. Sie war altersschwach, erblindet und altersbedingt lebensmüde. Auf Ersuchen des Sohnes sollte die Mutter euthanasiert werden, doch der Vertrauensarzt der Frau weigerte sich die Euthanasie zu bewilligen. Keine der im Euthanasiegesetz von 2002 vorgesehenen Voraussetzungen war gegeben.
Da das Gesetz die Euthanasierung untersagte, legte der Sohn selbst Hand an und beförderte seine Mutter kurzerhand ins Jenseits. Damit verstieß der Sohn nicht nur gegen das Euthanasiegesetz, sondern verübte nach dem niederländischen Strafgesetzbuch einen vorsätzlichen Mord.
Der letzte Wunsch
Sohn Albert hatte sorgfältig einen tödlichen Medikamentencocktail vorbereitet, mit dem er seine Mutter vergiftete. Vor dem Todesgetränk hatte er die Mutter gefragt, ob sie lieber leben oder sterben würde. Das Ganze nahm der Sohn auf Video auf, was die vorsätzliche Handlung bestätigte. Das Video wurde inzwischen zum Dokumentarfilm und vom niederländischen Fernsehen mit dem Titel „Der letzte Wunsch von Moek“ ausgestrahlt. Der ganze Prozeß gegen den Sohn war von diesem medialen Verständnis für den Täter überschattet. Die Berufungsrichter würdigten schließlich in ihrem Freispruch „die absolute Transparenz“, mit der Sohn Albert vorgegangen sei.
Verfahren ersten Grades
Der Staatsanwalt lobte auch die „gute Absicht“ des Muttermörders, forderte aber dennoch dessen Verurteilung: nicht wegen Mordes, sondern wegen Verstoßes gegen das Euthanasiegesetz. Die erstinstanzlichen Richter verurteilten Sohn Albert zwar, verhängten aber keine Strafe. Das veranlaßte die Staatsanwaltschaft Berufung einzulegen und zumindest eine symbolische Strafe von drei Monaten bedingter Haft zu fordern.
Unbedeutende Details
Am 13. Mai sprach das Berufungsgericht den Angeklagten stattdessen vollkommen frei, weil “er in einer Situation von höchster Dringlichkeit gehandelt“, alle gesetzlichen Kriterien eingehalten und seiner Mutter den „richtigen“ Medikamentenchocktail verabreicht habe. Daß Albert Heringa kein Arzt ist, wie es das Gesetz verlangt, und zudem die negative Entscheidung des Hausarztes seiner Mutter mißachtete, der eine Euthanasierung abgelehnt hatte, wurde von den Berufungsrichtern einfach übergangen.
Wer „aus Liebe“ handelt, wird auch bei Mord freigesprochen, lautet die Botschaft, die durch das Urteil verkündet wird. Welcher Angeklagte würde vor Richtern etwas anderes behaupten? Die Folgen des Urteils sind nicht abzusehen. Es besteht die begründete Sorge, daß es gewieften Erbschleichern, Verwandten, denen die Pflege eines älteren Familienmitglieds lästig wird, oder anderen dunklen Absichten Tür und Tor öffnet.
Die Staatsanwaltschaft reagierte auf das Urteil mit einer Presseerklärung. Darin wird „ausdrücklich“ betont, daß die Euthanasie nur unter den gesetzlich vorgeschriebenen Bestimmungen erlaubt und zwingend von einem Arzt gebilligt und durchgeführt werden müsse. Die Staatsanwaltschaft kündigte zudem Einspruch beim Obersten Gerichtshof an. Allerdings scheinen die Würfel gefallen zu sein. Beobachter sprechen von einem „politischen Urteil“, weshalb kaum damit gerechnet werden könne, daß das Höchstgericht das Urteil noch einmal kippen wird.
Schuldgefühl
Seit 2008 der Mord geschah, hat sich in den Niederlande, vor allem dank einseitiger Mediendarstellungen, ein starkes „Mitgefühl“ und eine Sichtweise ausgebreitet, die in der Tötung eines mehr oder weniger gesunden, aber vielleicht altersschwachen Menschen etwas „Gutes“ sieht. Seit vier Jahren gilt eine Ergänzung des Euthanasiegesetzes laut der, weder eine unheilbare Krankheit im Endstadium noch unerträgliche Leiden notwendig sind, um eine tödliche Spritze gesetzt zu bekommen. Ein „psychologisches“ Leiden genügt bereits, das aber ist objektiv schwer faßbar und damit ein Gummiparagraph.
Die Folge sind objektiv meßbar: eine Zunahme der Euthanasiefälle im Jahr 2013 um mindestens 156 Prozent gegenüber 2002, als das Euthanasiegesetz in Kraft trat. Es wird in den Niederlanden auf Nachfrage von kaum jemand bezweifelt, daß die Dunkelziffer wesentlich höher liegt, als die gemeldeten Fälle.
Beweis für die sich ausbreitende Euthanasierungsmentalität ist das Urteil des Berufungsgerichts. Die Richter erkannten das „psychologische“ Leiden an, aber offenbar des Sohnes und nicht der Mutter. Wörtlich befanden sie im Urteil: Wenn Albert Heringa seine Mutter nicht getötet hätte, „hätte er bis zum Ende seiner Tage mit einem Schuldgefühl leben müssen“.
„ ‚Zum Glück hat er sie getötet‘, wollen die Richter damit sagen“, so das Wochenmagazin Tempi sarkastisch.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi