von P. Franz Schmidberger (FSSPX)
Der Heilige Vater, Papst Franziskus, hat zum Abschluß des Jahres des Glaubens sein Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute veröffentlicht. Dessen Länge von 289 Punkten fordert dem Leser und Theologen große Anstrengung ab, wenn er es einigermaßen gründlich studieren will. Auch hier wäre weniger mehr gewesen. Wir wollen im Folgenden eine erste und damit sicher unvollständige Übersicht bieten.
Anlaß des Schreibens ist ein Rückgreifen auf die Bischofssynode des vergangenen Jahres in Rom, die sich dort vom 7. – 28. Oktober dem Thema der Neuevangelisierung gewidmet hat. „Ich habe die Einladung der Synodenväter, dieses Schreiben zu verfassen, gerne angenommen.“ (Nr. 16) Gleichzeitig wurde das Schreiben vorgestellt als eine Art Regierungsprogramm des neuen Pontifex. Dieses doppelte Ziel bringt es bei der großen Redseligkeit des Papstes mit sich, daß das Schreiben keine klare Struktur aufweist; es fehlt an Präzision, Prägnanz und Klarheit. Beispielsweise ist ein großer Abschnitt der wirtschaftlichen Lage in der heutigen Welt gewidmet; etwas weiter ist die Rede von der Bedeutung der Predigt, wobei es sogar um Einzelheiten bei deren Vorbereitung geht. An mehreren Stellen wird die Dezentralisierung der Kirche thematisiert; aber auch der ökumenische und interreligiöse Dialog kommt ausgiebig zur Sprache. Das Dokument ist nicht von Widersprüchen frei: Einmal betont es, es gehe nicht um eine Sozial-Enzyklika; dann aber wird in einem Rahmen über die wirtschaftlichen Verhältnisse von heute gesprochen, der einer Sozial-Enzyklika früherer Päpste entspricht.
Der Papst spricht von der Kirche, als habe diese bis heute das Evangelium nicht oder nur ganz unvollkommen weitergegeben. Er klagt über eine bequeme, träge, abgeschottete Haltung. Dieser beständige Tadel berührt unangenehm. Man hat den Eindruck, bisher sei in der Kirche nur sehr wenig geleistet worden, wenn es um die Weitergabe des Glaubens und des Evangeliums geht. Diese Sprache geht Hand in Hand mit einer ständigen Bezugnahme auf die eigene Person: Das Personalpronomen ich kommt nicht weniger als 184 Mal vor, nicht gezählt das mein, mich und mir. Es kommt einem das Gotteswort aus der Apokalypse in den Sinn: Ecce nova facio omnia. – Seht, ich mache alles neu (Off 21, 5).
Ohne jeden Zweifel enthält das Schreiben eine ganze Reihe positiver Gesichtspunkte und Erwägungen, die nicht verschwiegen werden dürfen. Führen wir eine Anzahl von ihnen an, genau in der Folge, wie sie der Text uns bietet: So wird in Nr. 7 gesagt, es sei „der technologischen Gesellschaft gelungen, die Vergnügungsangebote zu vervielfachen“, doch falle es ihr sehr schwer, „Freude zu erzeugen“. Wie wahr diese Feststellung ist! In Nr. 22 wird gesagt, das Wort Gottes trage „in sich Anlagen, die wir nicht voraussehen können. Das Evangelium spricht von einem Samen, der, wenn er einmal ausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn der Bauer schläft“. Tatsächlich geht ja das Wirken der Gnade Gottes über jede menschliche Berechnung hinaus. In Nr. 25 wird festgestellt, jetzt diene „uns nicht eine reine Verwaltungsarbeit“. Wenn sich doch Bischöfe und Priester dieses Wort zu Herzen nähmen und endlich den Kommissionen, Gremien, Formularen, dem ganzen ungeheuren Bürokratismus den Rücken kehrten, um zu wahren Theologen und Hirten zu werden! Einen überaus schönen Abschnitt schenkt uns die Nr. 37 mit einem langen Zitat aus der Theologischen Summe des hl. Thomas von Aquin. Wir können nicht umhin, den Abschnitt in seiner Gänze zu zitieren:
Der heilige Thomas von Aquin lehrte, daß es auch in der moralischen Botschaft der Kirche eine Hierarchie gibt, in den Tugenden und in den Taten, die aus ihnen hervorgehen. [1]Vgl. Summa Theologiae I‑II, q. 66, a. 4–6 Hier ist das, worauf es ankommt, vor allem den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist (Gal 5,6). Die Werke der Nächstenliebe sind der vollkommenste äußere Ausdruck der inneren Gnade des Geistes: Das Hauptelement des neuen Gesetzes ist die Gnade des Heiligen Geistes, die deutlich wird durch den Glauben, der durch die Liebe handelt. [2]Summa Theologiae I‑II, q. 108, a. 1. Darum behauptet der heilige Thomas, daß in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden ist: An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, daß es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, daß darin am meisten seine Allmacht offenbar wird. [3]Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4. Vgl. ebd., q. 30, a. 4, ad 1
In Nr. 42 wird uns gesagt, daß die Verkündigung des Evangeliums vor allem die Herzen erreichen muß; „darum ist daran zu erinnern, daß jede Unterweisung in der Lehre in einer Haltung der Evangelisierung geschehen muß, die durch die Nähe, die Liebe und das Zeugnis die Zustimmung des Herzens weckt“.
Die Nummern 52 – 76 behandeln wirtschaftliche Gesichtspunkte, die manches sehr Zutreffendes herausstellen. Der grenzenlose Kapitalismus wird an den Pranger gestellt, der eine materialistische, konsumorientierte und individualistische Gesellschaft hervorbringt (Nr. 63). „Der postmoderne und globalisierte Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Natur der Familienbande zerstört.“ (Nr. 67) Der Papst folgert dann in Nr. 69, es sei dringend notwendig, die Kulturen zu evangelisieren und das Evangelium zu inkulturieren. Es ist wohl gemeint, es tief in der Gesellschaft und im Leben der Völker zu verwurzeln – jedenfalls kann man es so mit einer gewissen interpretatio benevolentiae verstehen, obwohl der Begriff „Inkulturation“ meist durch modernistisches Gedankengut befrachtet ist. Aber warum spricht er hier nicht vom katholischen Staat und von der christlichen Gesellschaft, wie seine Vorgänger vor dem II. Vatikanischen Konzil sie immer als Frucht des katholischen Glaubens und als Schutz und Verteidigung desselben gesehen haben? Vielleicht hätte man erwarten dürfen, daß bei den berechtigten Klagen über die heutige Wirtschaft ein positiver Hinweis auf Quadragesimo Anno von Papst Pius XI. gegeben wird, um zu gerechten Wirtschaftlichen Verhältnissen zu kommen.
In Nr. 66 wird zwar die Familie erwähnt; aber es wird nicht die Ehe herausgestellt als unauflösliche Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, wie dies der aktuelle Anlaß der eingetragenen Partnerschaften und die jetzt angestrebte Kommunion für „wiederverheiratete“ Geschiedene fordern würde. Auch hätte man erwarten dürfen, daß der christlichen Familie in dem päpstlichen Schreiben ein weit breiterer Platz eingeräuumt wird; ist doch sie es, in der die erste Weitergabe des Evangeliums von Generation zu Generation sich vollzieht.
Auch in den Nummern 78 und 79 findet man eine sehr treffende Beschreibung des geistlichen Lebens in der nachkonziliaren Zeit: „Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbstständigkeit und der Entspannung feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität. (…) Die Medienkultur und manche intellektuelle Kreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber der Botschaft der Kirche und eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin entwickeln viele in der Seelsorge Tätige, obwohl sie beten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre Überzeugungen zu relativieren oder zu verbergen.“ Wie sehr müßten doch alle Diener der Kirche die Waffen des Geistes ergreifen und an die Wirksamkeit und Fruchtbarkeit jener Mittel, die Christus in seine Kirche hineingelegt hat, glauben: an das Gebet, an die unverkürzte Verkündigung des Glaubens, an die Spendung der Sakramente, an die Feier des hl. Meßopfers, an die Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes!
Stattdessen geben sie sich, so sagt die Nr. 85, dem „Gefühl der Niederlage“ hin, „das uns in unzufriedene und ernüchterte Pessimisten mit düsterem Gesicht verwandelt. Niemand kann einen Kampf aufnehmen, wenn er im Voraus nicht voll auf den Sieg vertraut. Wer ohne Zuversicht beginnt, hat von vorneherein die Schlacht zur Hälfte verloren und vergräbt die eigenen Talente. Auch wenn man sich schmerzlich der eigenen Schwäche bewußt ist, muß man vorangehen, ohne sich geschlagen zu geben, und an das denken, was der Herr dem hl. Paulus sagte: „Meine Gnade genügt dir, denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“ (2 Kor 12, 9) Der christliche Sieg ist immer im Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleich ein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpferischen Sanftmut gegen die Angriffe des Bösen trägt.“
Von besonderer Bedeutung ist sodann die in Nr. 104 getroffene Feststellung, das Priestertum sei als Zeichen Christi, des Bräutigams, nur den Männern vorbehalten. Es „ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht“. In Nr. 112 wird die Ungeschuldetheit der Gnade und des Erlösungswerkes schön herausgestellt: „Das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das uns ein so groles Geschenk verdienen ließe. Aus reiner Gnade sieht Gott uns an, um uns mit sich zu vereinen.“ Im nähsten Punkt wird ganz richtig darauf verwiesen, wie das Heil keine rein individuelle Angelegenheit ist: „Niemand erlangt das Heil allein, d. h. weder als isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft.“ Der Mensch rettet sich eben in der Kirche und durch die Kirche, oder er rettet sich nicht.
In der Nr. 134 hören wir von der Bedeutung von Universitäten und katholischen Schulen für die Verkündigung des Evangeliums. Wie schade, daß diesem grundlegenden Werk nicht ein weit größere Platz eingeräumt wird.
Auch der Tötung der ungeborenen Kinder im Mutterschoß wird in Nr. 214 eine klare Absage erteilt. Leider beruft sich der Papst dabei nicht auf das zunächst Gott angetane Unrecht, also auf die Naturordnung und sein Gebot, sondern allein auf den Wert der menschlichen Person.
In Nr. 235 werden die gesunden Grundsätze gegen den Individualismus angeführt: „Das Ganze ist mehr als der Teil, und es ist auch mehr, als ihre einfache Summe.“ Der ganze Absatz ist überschrieben „Das Ganze ist dem Teil übergeordnet.“ Vielleicht hätte hier eine Entwicklung des Begriffs des bonum commune viel Gutes bewirken können; leider fehlt sie.
Überaus schön wird in der Nr. 267 die letztgütige Motivation des missionarischen Denkens und apostolischen Handelns herausgestellt: „Mit Jesus vereint, suchen wir, was er sucht, lieben wir, was er liebt. Letztlich suchen wir die Ehre des Vaters und leben und handeln zum „Lob seiner herrlichen Gnade“(Eph 1, 6). Wenn wir uns rückhaltlos und beständig hingeben wollen, müssen wir über jede andere Motivation hinausgehen. Es ist das endgültige, tiefste, gröste Motiv, der letzte Grund und Sinn von allem anderen: Es geht um die Herrschaft des Vaters, die Jesus während seines ganzen Lebens suchte.“
Zweiter Teil folgt