(Rom) Wir schreiben das Jahr 1998. Papst Johannes Paul II. erließ die Enzyklika Fides et ratio (Glauben und Vernunft). Darin zitierte er die Verurteilungen, die das kirchliche Lehramt mit Pascendi, mit Divini Redemptoris und mit Humani generis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen den Modernismus, den Kommunismus und die Evolutionstheorie ausgesprochen hat. Johannes Paul II. erinnerte: „Schließlich mußte auch die Kongregation für die Glaubenslehre in Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe im Dienst des universalen Lehramtes des Papstes eingreifen, um nachdrücklich auf die Gefahr hinzuweisen, die eine unkritische Übernahme der aus dem Marxismus stammenden Auffassungen und Methoden durch einige Befreiungstheologen mit sich bringt“ (Fides et ratio 54). Die Enzyklika nahm Bezug auf die Instruktion Libertatis nuntius, „über einige Aspekte der ‚Theologie der Befreiung‘“ aus dem Jahr 1984.
So als wäre dies alles nicht bekannt oder gar nicht existent, bietet die Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica ihren Lesern als Hauptartikel einen Beitrag des Befreiungstheologen Juan Carlos Scannone aus dem Jesuitenorden.
Das Vorgehen erstaunt und kennt nichts Vergleichbares, galt doch die Civiltá Cattolica einmal als der reinste Ausdruck der römischen Theologie.
Pater Scannones Klischees dieser irrigen philosophisch-theologisch-politischen Richtung
Scannone wiederholt in seinem Beitrag Die Philosophie der Befreiung (La Civiltà Cattolica, Heft 3920 vom 19. Oktober 2013, S. 105–120) alle typischen Klischees dieser irrigen philosophisch-theologisch-politischen Richtung. Er erhebt dabei den Anspruch, die Richtigkeit, die Wesensmerkmale, die Geschichte und schließlich auch die „aktuelle Gültigkeit“ der Befreiungsphilosophie darzulegen. Für den Jesuiten ist die argentinische Befreiungsphilosophie, oder „Argentinische Schule“ der Befreiungstheologie, eine „Philosophie der Praxis“, die vor dem Hintergrund der „derzeitigen Überwindung der Metaphysik der Substanz und des Subjekts“ (S. 113) anzusiedeln ist. Ihr Kennzeichen sei die „ethisch-historische und theoretische Option für die Opfer der Ungerechtigkeit und der Gewalt“.
Es muß nicht viel gesagt werden, um die Absurdität von Pater Scannones Absicht zu beweisen. Es geht offensichtlich um den Versuch, wahrscheinlich unter fälschlicher Ausnutzung der „Öffnungen“ von Papst Franziskus, wieder eine materialistische Sichtweise in Umlauf zu bringen. Jener Sichtweise, die von sich behauptete, Theologie „von unten“ zu machen. Eine Theologie, die nicht vom Willen Gottes ausgeht, sondern von den angeblichen Notwendigkeiten des Volkes und der Armen.
Soziologie und Psychologie statt Patristik und Scholastik
Die Philosophie, die für einen Katholiken die ancilla theologiae zu sein hätte und einer tiefen Sehnsucht nach Weisheit entsprechen sollte, wird in eine rein sozial-populistische Bedeutung umgebogen. Laut Scannone „ist die Befreiungsphilosophie (FL) 1971 in Argentinien entstanden“. Ausgangspunkt war, daß sich eine „Gruppe von Philosophen der strukturellen Ungerechtigkeit bewußt wurde, die den Großteil der Bevölkerung Lateinamerikas unterdrückt“ (S. 105). Zudem „ist die Praxis der Befreiung der erste Schritt (Gustavo Gutierrez), Ausgangspunkt und hermeneutischer Ort einer radikal-menschlichen Überlegung, wie der philosophischen, die als intrinsische analytische Vermittlung die Beiträge der Humanwissenschaften, der Gesellschaft und der Kultur nutzt“ (S. 107f)
Konkret geht es darum, Philosophie zu betreiben, indem die Patristik, die Scholastik und die Anweisungen des Lehramtes abgelehnt werden, die in Wirklichkeit im philosophischen und metaphysischen Bereich von größter Bedeutung sind. Stattdessen werden sie ersetzt durch die irrtumsanfälligen und immer bloß ungefähren „Humanwissenschaften“ wie die Psychologie oder sogar die Psychoanalyse, die marxistisch eingefärbte Soziologie und die Wirtschaftspolitik, die den Worten nach gegen den Freihandel eintritt, in Wirklichkeit aber vor allem antinational, für die Eine-Welt und für die Globalisierung ist.
Für Philosophie (und Theologie) der Befreiung ist Gott nur fakultativ
Sogar einer der Gründer der Befreiungstheologie, Clodovis Boff hat inzwischen erkannt, daß diese auf einem grundsätzlichen Irrtum beruhte. Vor einigen Jahren schrieb er in einem Aufsatz für die Rivista Ecclesiastica Brasileira, in dem er seine Einsicht darlegte: „Während man von Christus immer zum (Wohl des) Armen gelangt, ist es nicht gesagt, daß man ausgehend vom Armen zu Christus gelangt“. Deshalb handelt es sich bei der Befreiungstheologie (und ebenso der Befreiungsphilosophie) um ein Gedankengebäude, in dem Gott nur fakultativ ist.
Der Artikel von Pater Scannone in der Civilità Cattolica ist ein einziges langes Delirium im lateinamerikanischen Stil der 70er Jahre, von der Anwendung einer „anadialektischen Methode“ (S. 119) bis zur „unentwegten Öffnung zu den ständigen Neuheiten und Veränderungen der Situationen und den geschichtlichen Antworten der Völker“ (S. 119).
Wahrheit und Freiheit bilden eine Einheit oder sie gehen beide elend zugrunde
Das kirchliche Lehramt hat diesen philosophischen Abwegen präventiv geantwortet: „Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde“ (Fides et ratio 90), und: „Die Wahrheit, die Christus ist, erscheint nötig als universale Autorität, die sowohl die Theologie als auch die Philosophie leitet, anregt und wachsen läßt (vgl. Eph 4, 15)“ (Fides et ratio 91). In der Philosophie (und der Theologie) der Befreiung steckt genau diese Ablehnung der Wahrheit, die Christus ist.
So überrascht es nicht, daß es sich um den ersten und bisher einzigen Aufsatz des Jesuiten Juan Carlos Scannone in der römischen Jesuitenzeitschrift handelt. Vielmehr überrascht, daß ihm Gelegenheit geboten wurde, seine abstrusen Thesen aufwärmen zu können. Und dies 42 Jahre nach der Entstehung der Befreiungsphilosophie in den Spalten der bedeutendsten Jesuitenzeitschrift. Bekanntlich wird jede Ausgabe der Civiltà Cattolica vor Drucklegung dem Vatikan vorgelegt und von diesem genehmigt.
Scannone erklärte der Welt Bergoglios „Option für die Armen“
Der Jesuit Scannone erhielt nach der Wahl von Papst Franziskus mediale Sichtbarkeit, weil er ein Lehrer des neuen Papstes war. Scannone selbst ist ein Schüler Karl Rahners. Scannone war es auch, der im vergangenen März der Weltöffentlichkeit Bergoglios „Option für die Armen“ erklärte und auf die Volkstheologie von Lucio Gera und Rafael Tello zurückführte. Wie stichthaltig das ist, muß hinterfragt werden, angesichts der zahlreichen Versuche einschließlich jener Leonardo Boffs und Hans Küngs, Papst Franziskus für sich zu vereinnahmen.
Für die Volkstheologie sind die „Armen“ primär nicht eine hilfsbedürftige soziologische Realität, sondern ein theologisches Subjekt, von dem man lernen soll: „Diese pädagogische Haltung hat eine religiöse Wurzel: das Verhältnis des [armen] Volkes zu Gott wäre ursprünglicher, weil die materielle Verunreinigung [in diesem Verhältnis] fehlt“, so Scannone am 21. März in der argentinischen Tageszeitung La Nacion. Sogar der Osservatore Romano suchte Pater Scannone noch im März auf, um von ihm etwas über den neuen Papst zu erfahren.
Kardinal Bergoglios vernichtendes Urteil über die Befreiungstheologie – Warum dann der Artikel in der Civiltà Cattolica?
Papst Franziskus sprach als Erzbischof von Buenos Aires 2005 ein vernichtendes Urteil über die Befreiungstheologie. Im Vorwort zum Buch von Guzman Carriquiry Lecour über die Zukunft Lateinamerikas schrieb er damals: „Nach dem Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus‘ sind diese Richtungen in der Verwirrung versunken. Unfähig sowohl zu einer radikalen Neuformulierung als auch zu neuer Kreativität haben sie wegen Trägheit überlebt, auch wenn es noch heute nicht an jenen fehlt, die sie auf anachronistische Weise noch immer vorantreiben möchten.“
Es bleibt die Frage, warum also dem heute 82 Jahre alten Scannone die Tür zur Civilità Cattolica geöffnet wurde, um einen „Anachronismus“ und eine „Verwirrung“ (Jorge Mario Bergoglio) auszubreiten? Wie es scheint, hat auch das mit dem „Klimawandel“ unter Papst Franziskus zu tun, wenn auch die Details nicht näher bekannt sind.
Text: Corrispondenza Romana/Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Papst Franziskus sprach, wenn überhaupt nur ein Urteil über die Befreiungstheologie marxistischen Ursprungs, nicht aber über die Befreiungstheologie seines Freundes Scannone SJ, der eine „Theologie des Volkes“ ausgedacht hat, die wie oben ganz richtig beschrieben, ohne „die Patristik, die Scholastik und die Anweisungen des Lehramtes, die abgelehnt werden,“ auskommt.
Ich habe Publikationen von ihm gelesen, was kein katholisches Vergnügen war.
Er ist in Deutschland wegen deutsch-lateinamerikanischer „Gemeinschafts-Projekte“ zur katholischen Soziallehre in Lateinamerika kein Unbekannter.
http://www.nzz.ch/aktuell/international/uebersicht/bergoglio-theologie-eckholt‑1.18059756
siehe auch das Buch: „Lateinamerika und die katholische Soziallehre“: ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm, Volume 3
Autoren: Peter Hünermann, Juan Carlos Scannone, Margit Eckholt
Meiner Einschätzung nach hat das alles dazu gedient, die katholische Soziallehre, die man in Lateinamerika angeblich so nicht brauchen kann, weil zu europäisch (das behaupte nicht ich, sondern die Befreiungstheologen in ihren Publikationen) unbemerkt von den Europäern stark in Richtung Sozialismus zu schieben und dann wieder nach Europa zu importieren.
Vaticaninsider berichtet immer wieder über J.C. Scannone SJ, zuletzt hier:
http://vaticaninsider.lastampa.it/en/world-news/detail/articolo/argentina-francesco-francis-francisco-29697/