von Klaus Obenauer
Der Leser darf es mir glauben: Mit meinen Voten zur Di-Noia-Offerte dachte ich eigentlich erst einmal Schluß machen zu können und zu sollen in der Causa FSSPX; Schluß machen mit meinen inzwischen auf eine beträchtliche Anzahl gewachsenen Stellungnahmen. Dies um so mehr, als mir die Sturmflut der Wortmeldungen in kirchlichen Angelegenheiten von links bis rechts in zumal jüngster Zeit abschreckend vor Augen steht. Das ist ganz einfach Anarchie. Nicht von Gott kommt das, es kommt von einem anderen. Kaum ein Wort unseres göttlichen Meisters ist so in Vergessenheit geraten wie dieses: „Ich aber sage Euch: Für jedes müßige Wort, das die Menschen gesprochen haben werden, von dem werden sie Rechenschaft ablegen am Tage des Gerichtes. Aufgrund deiner Wort nämlich wirst du gerechtgesprochen werden, und aufgrund deiner Worte wirst du verdammt werden!“ (Mt 12,36sq.)
Daß ich jetzt doch nicht meinen Mund halte, hat damit zu tun, daß in jüngster Zeit es zu einem – wie soll man sagen? – Ansatz von Reiberei zwischen Kardinal Brandmüller und der Piusbruderschaft gekommen ist. (Dazu siehe den Beitrag pius.info.) Und ich gehe deshalb darauf ein, weil hier ein nach meinem Urteil ganz wichtiger Punkt, wenn nicht der springende Punkt getroffen ist.
Was sagt Kardinal Brandmüller? Ich zitiere: „Wer aber allen Ernstes behaupten würde, das Konzil habe im Glauben geirrt, hätte allerdings die Grundlage des katholischen Glaubens verlassen. Die Annahme eines Glaubensirrtums durch das oberste Organ des kirchlichen Lehramts bedeutet einen diametralen Widerspruch zur ungebrochenen Lehrüberlieferung der Kirche wie zur Heiligen Schrift, eine theologische Absurdität, wenn nicht Häresie.“ – Durch diese Feststellung sah man sich seitens der FSSPX zu einer kritischen Replik herausgefordert: Konkret nimmt man die zitierten Worte des Kardinals wahr in einer gewissen Spannung zur Feststellung, wonach das Konzil keine dogmatische Definition vorgelegt habe (die nach katholischem Glauben durch Gottes Beistand unfehlbar ist); und so sieht man sich einerseits zu folgender Klarstellung veranlaßt: „Wenn der Kardinal damit aber sagen will, jemand, der in Konzilstexten, die keine letzte Glaubensverbindlichkeit haben, einen Irrtum behauptet, habe die Grundlage des Glaubens verlassen, dann sagt er damit eine Unwahrheit!“
Ich meine aber, diese Bemerkung trifft nicht den springenden Punkt: Kardinal Brandmüller will keineswegs den Unterschied nivellieren zwischen (Lehrverkündigungen und zumal) Definitionen mit Infallibilitätsanspruch und Vorlagen, denen nur „in religiöser Folgsamkeit oder Anhänglichkeit“ („obsequio religioso“) diesseits des Glaubensassenses zuzustimmen ist. Er behandelt vielmehr das auch von mir in meinen Debattenbeiträgen wiederholt aufgeworfene Problem der „Untergrenze“, wie ich es nenne: Wenn das Lehramt diesseits endgültiger Verpflichtung spricht, mithin ohne Wahrheitsgarantie (= nicht unfehlbar), auch dann ist zwar aufgrund der göttlichen Beistandsverheißung stets erst einmal die Richtigkeit zu unterstellen (entsprechend das „obsequium religiosum“ gefordert), aber nichtsdestotrotz kann das Lehramt dann ganz prinzipiell in der Lehrverkündigung irren, fehlgehen. Der Irrtum ist dann nicht von vornherein ausgeschlossen. Die entscheidende Frage ist nur: Bis wieweit kann das Lehramt in solchen Fällen irren, fehlgehen? Antwort: Ein, und sei es nur inhaltlicher (nicht böswillig gewollter), Abfall vom Glauben, und zwar dessen ganzer Integralität nach, kann es nicht geben; derart, daß wir es mit einem (und sei es nur „materiell“) vom integralen Glauben abgefallenen Lehramt zu tun haben. So weit kann also ein (prinzipiell möglicher, aber nicht von vornherein zu unterstellender) Irrtum des (nicht endgültig verpflichtenden und daher nicht-unfehlbaren) Lehramts nie gehen, daß es sich (und sei es bloß inhaltlich) in Widerspruch zum Glauben setzt, das heißt: zu dem, was als zum Glaubensgut gehörig bereits feststeht. Das sagt sinngemäß Kardinal Brandmüller. Und, von an sich angezeigten Präzisierungen einmal abgesehen: das sage auch ich, und habe es oft genug gesagt (wie in meinen Beiträgen auf diesem Forum nachzulesen). In etwa formulierte ich stets so: Daß auf einem ökumenischen Konzil die moralische Gesamtheit des Lehrkörpers mit dem Papst an der Spitze sich in (eindeutigen) Widerspruch setzt zu dem, was als zum Glauben gehörig feststeht, ist aus ekklesiologischen Gründen ausgeschlossen. Genau aus dem Grund, den Kardinal Brandmüller benennt: „Die Worte des Herrn vom Bau seiner Kirche auf den Felsen, von der Unüberwindlichkeit der Kirche durch die Mächte des Todes und der Unterwelt, die Verheißung des beständigen Beistands des Heiligen Geistes und die Zusicherung des Herrn, er werde bei seiner Kirche bleiben bis zum Ende der Zeit – all diese Worte wären nichts als Schall und Rauch, wenn das oberste Lehramt der Kirche einem Glaubensirrtum verfallen könnte.“
Keineswegs will ich mich damit schön auf die richtige Seite schlagen, indem ich dabei die Piusbruderschaft oder ihren Theologen ins Abseits stelle. Denn wirklich interessant wird es ja erst mit folgender präzisierender Klarstellung seitens des Theologen der FSSPX: „Die Priesterbruderschaft St. Pius X. spricht zudem nicht einmal von Häresien im Konzil (ein ‚Irrtum im Glauben‘ ist im theologischen Sprachgebrauch eine Häresie), sondern von Irrtümern, die zwar nicht direkt gegen den Glauben verstoßen, aber dennoch mit der überlieferten Lehre und Praxis der Kirche unvereinbar sind und wenigstens in ihren Folgen auf Glaubensirrtümer hinauslaufen. Dies sind vor allem die Aussagen des Konzils zum Ökumenismus und zur Religionsfreiheit.“ Das heißt mit anderen Worten: Die Piusbruderschaft hält in bezug auf das Zweite Vatikanum in puncto quaestio facti fest, was Kardinal Brandmüller schon für die quaestio juris postuliert: Direkt oder an sich hat das Konzil nicht im Glauben geirrt, was laut Kardinal Brandmüller (und mir) auch nicht sein kann. – So gesehen, ist der Dissens eigentlich gar keiner; beziehungsweise er besteht nur darin, daß der Theologe der FSSPX Kardinal Brandmüllers Postulat nur etwas präzisiert (wogegen ich erst einmal nichts habe), um es nach dieser Präzisierung dann (ausdrücklich) nur als Tatsachenbehauptung zu konzedieren. Allerdings klingt diese Konzession ein wenig nach diplomatischer Zurückhaltung („spricht nicht davon“). Daß der Hintergrund für diese Konzession die bereits angesprochene prinzipielle Frage der Ekklesiologie ist, kann man vermuten. Und so verbleibt als Restdesiderat eigentlich nur, daß man seitens der FSSPX auch zur quaestio juris klarer Stellung bezöge.
Das ist nun kein belangloser Kommentar, sondern von großer Brisanz und Tragweite. Diese Zurückhaltung, wie sie der Theologe der FSSPX in bezug auf einen konziliären Glaubensirrtum übt, ist für die FSSPX eben nicht durchwegs kennzeichnend. Zumindest in der Vergangenheit nicht. Jedenfalls drängt sich mit Macht der gegenteilige Eindruck auf: Ich habe Respekt vor Erzbischof Lefebvre und seinem Andenken; entsprechend würdige ich die Perplexität, in der er sich samt seinen Anhängern sah; und entsprechend erkenne ich an, daß es in der nachkonziliären Entwicklung wie schon auf dem Konzil selber genug gab und gibt, das erheblich irritieren kann. Aber gerade in diesem Zug ist es immer wieder (bis zur Stunde) zu Äußerungen gekommen, die der Außenstehende jedenfalls kaum anders verstehen kann als ein schier die Grenzen der Logik sprengendes Splitting: Einerseits hat demnach das konziliäre Lehramt Häresien vertreten, ja geradezu die Apostasie von Christus vollzogen. Und doch ist zumindest davon auszugehen, daß diese konziliäre Kirche (wenngleich nicht als konziliäre) die wahre, ihr sichtbares Oberhaupt wirklich Stellvertreter Christi auf Erden ist (soweit er sich „als solcher benimmt“). Dem stehen dann allerdings relativierende Äußerungen gegenüber, wonach man sich nicht darauf verlegt, es seien echte Häresien vertreten worden. Ich verweise dazu auf folgendes Buch von Erzbischof Lefebvre: „Sie haben ihn entthront“, Stuttgart 2012, u.a. 99–104, 148(!), 176–181(!), 212, 223–230. – Mir geht es dabei nicht um kleinkariertes Vorrechnen: Erzbischof Lefebvres schillernde Umschreibung seines Verhältnisses zum Fundamentaldogma der Indefektibilität der Kirche, gerade auch in ihrer Lehre, ist sicher Spiegel seines schweren Ringens mit dem Phänomen „Zweites Vatikanum und nachkonziliäre Reformen“, ein Phänomen, das nun mal gewaltiges Irritationspotential in sich birgt. Ein Potential, mit dem auch nicht leicht zurechtzukommen ist. (Letzteres ist jedenfalls meine Meinung.) Nachdem nun aber dank des segensreichen Wirkens von Papst Benedikt XVI. immerhin eine andere, friedvollere Atmosphäre geschaffen ist, wäre dies dann aber auch der Anlaß, sich seitens der FSSPX insgesamt und offiziell klarer zu positionieren. Und zwar, was die Implikationen des – von ihr freilich an sich nicht im geringsten in Abrede gestellten – Dogmas von der Indefektibilität der Kirche, gerade auch im Glauben (und Gottesdienst), angeht. Es geht nun mal um die Fundamente, auf denen wir, wir alle, stehen!
Oben sprach ich von Präzisierungen, die an sich angebracht wären, Präzisierungen mit Blick auf die Aussage, daß das Lehramt auch im Rahmen nicht-unfehlbaren Sprechens nicht vom Glauben abfallen kann, derart, daß es sich in (eindeutigen) Widerspruch zu dem setzt, was als zum Glauben gehörig bereits feststeht. Da ich es aber für untunlich halte, mich hier in subtilen Detailerörterungen zu ergehen, weise ich nur pauschal daraufhin, daß sicher Differenzierungen angebracht wären: was nämlich diese generelle Sentenz genauer besagt für die Lehramtsausübung eines einzelnen Papstes allein einerseits und diejenige eines einzelnen ökumenischen Konzils andererseits. Darüber hinaus ist ganz wichtig die Unterscheidung in bezug auf das, was „de fide“ ist, als zum Glauben gehörig feststeht: kann doch etwas als zum Glauben gehörig feststehen allein schon durch eindeutige Enthaltenheit in der Offenbarung („de fide jam mere divina“), oder eben (gerade auch) deshalb, da es von der Kirche als darin enthalten vorgelegt ist („de fide divina et catholica“). Schließlich gehört etwas derart zum Glauben, daß es zwar nicht in der Offenbarung enthalten ist, sich jedoch die Kirche für die Richtigkeit kraft des Beistandes Gottes mit letzter Sicherheit dafür verbürgt („de fide ecclesiastica“); und dies ist gerade auch bei Lehrverurteilungen der Fall (bzw. kann der Fall sein). Kann das, zumal konziliäre, Lehramt sich zum Beispiel auch nicht zu dem in Widerspruch setzen, was rein kirchlichen Glaubens ist? Und letzteres ist ein neuralgischer Punkt in bezug auf „Dignitatis humanae“: Wie verhält sich dieses Dokument zu den einschlägigen Lehrverurteilungen der Vergangenheit?
Und damit deute ich an, daß es Diskussionsbedarf gibt: beide Seiten sollten sich füreinander öffnen. „Beide Seiten“: Seitens der FSSPX sollte man das Anliegen der streng Lehramtstreuen (die man bisweilen schon als „neukonservativ“ klassifiziert) anerkennen, um seinerseits die eigene Position (auch offiziell) für alle klar in einer annehmbaren Weise zu präzisieren, eben in puncto Indefektibilität der Kirche im Glauben; sicher nicht an sich, aber was die unabdingbaren Implikationen und entsprechend die Konsistenz der eigenen Position im Rahmen des Katholischen angeht. Und diejenigen, die sich in Opposition zur FSSPX die Treue zum lebendigen Lehramt auf die Fahnen geschrieben haben, sollten den Diskussionsbedarf anerkennen. Entsprechend anerkennen, daß die (von mir so genannte) Untergrenze eben nur eine solche ist, deren Funktion nicht durch einen Maximalismus unterspült werden darf, der mehr oder minder alles vom konziliären Lehramt Vorgetragene für unantastbar hält. Die Präsumption für die Richtigkeit in Ehren: Aber die Existenz der FSSPX verkörpert bis zur Stunde, daß die Frage nach Klarstellungen, Präzisierungen, aber unter Umständen auch Korrekturen nicht von der Hand zu weisen ist. Engstirnigkeiten gibt es bei vielen Traditionalisten – aber es ist nicht alles nur Engstirnigkeit, und schon gar nicht immer nur bei den anderen.
Dr. theol. Klaus Obenauer ist Privatdozent an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Bild: Wappen von Walter Kardinal Brandmüller