(Rom) In seinem neuen Buch, das am 20. Januar in Mailand vorgestellt wurde, zitiert Professor Enrico Maria Radaelli, Philosoph, Theologe und Schüler eines der größten katholischen Denker des 20. Jahrhunderts, des Schweizers Romano Amerio (1905–1997), drei Texte aus den unveröffentlichten Tagebüchern von Don Divo Barsotti (1914–2006) .
In diesen Texten übt dieser „geniale und geschätzte Mystiker und geistliche Seelenführer“ (Sandro Magister) harte Kritik am Zweiten Vatikanischen Konzil. Don Divo Barsotti war 1971 gerufen worden, dem Papst und der Römischen Kurie die Fastenexerzitien zu predigen, wie es in diesem Jahr Gianfranco Kardinal Ravasi tun wird. Radaelli zitiert Don Barsotti mit den Worten:
Unveröffentlichte Kritik des „genialen Mystikers“ und päpstlichen Fastenpredigers am Konzil
Ich bin betroffen über das Konzil: die Überfülle der Dokumente, ihre Länge und häufig ihre Sprache machen mir Angst. Es sind Dokumente, die mehr von menschlicher Sicherheit Zeugnis geben als von schlichter Standfestigkeit im Glauben. Vor allem aber empört mich das Verhalten der Theologen.
Ein Konzil und die Ausübung des höchsten Lehramtes sind nur durch eine höchste Notwendigkeit gerechtfertigt. Könnte der gegenwärtige, beängstigende Ernst der Lage der Kirche nicht gerade eine Folge der Leichtfertigkeit sein, mit der man den Herrn herausfordern und auf die Probe stellen wollte? Wollte man vielleicht Gott zum Sprechen zwingen, obwohl es diese höchste Notwendigkeit nicht gab? Ist es vielleicht so? Um ein Konzil zu rechtfertigen, das den Anspruch erhob, alles zu erneuern, mußte man behaupten, daß alles schlecht lief, etwas, das andauernd gemacht wird, wenn nicht vom Episkopat, dann von den Theologen.
Nichts scheint mir schwerwiegender gegen die Heiligkeit Gottes als der Hochmut der Kleriker, die mit einem Stolz, der nur diabolisch ist, glauben, die Wahrheit manipulieren zu können, die sich einbilden die Kirche zu erneuern und die Welt zu retten, ohne sich selbst zu erneuern. In der gesamten Kirchengeschichte ist nichts mit dem letzten Konzil vergleichbar, auf dem der katholische Episkopat glaubte, ohne Bemühen um Heiligkeit, alles erneuern zu können, indem er allein seinem eigenen Stolz gehorchte und in einem so offenen Widerspruch zum Gesetz des Evangeliums, das uns gebietet zu glauben, daß das Menschsein Christi ein Werkzeug der Allmacht der Liebe war, die durch ihren Tod rettet.
„Was an diesen Worten von Don Barsotti beeindruckt, sind zwei Elemente. Erstens, daß diese Kritik von jemandem kommt, der eine tiefe theologische Sichtweise hat, im Ruf der Heiligkeit steht und der Kirche auf treueste Weise ergeben war. Zweitens, daß sich die Kritik nicht gegen die Verirrungen der Nachkonzilszeit richten, sondern gegen das Konzil selbst“, so der Vatikanist Sandro Magister.
Neues Buch des Philosophen und Theologen Enrico Maria Radaelli
Beides findet sich auch im neuen Buch von Radaelli mit dem Titel Die Zukunft des Dogmas – schrecklich oder strahlend? (Il domani – terribile o radioso? – del dogma).
Dem Urteil Radaellis nach, ist die derzeitige Krise der Kirche nicht die Folge einer falschen Anwendung des Konzils, sondern eine direkte Folge des Konzils selbst.
Die „Ursünde“ des Konzils war es, die dogmatische Sprache, die allen vorherigen Konzilien eigen war mit der Bekräftigung der Wahrheit und der Verurteilung der Irrtümer, aufgegeben zu haben und durch eine vage neue „pastorale“ Sprache ersetzt zu haben.
Radaelli weist darauf hin, daß auch die progressiven Gelehrten in dieser pastoralen Sprache ein Unterscheidungsmerkmal und eine entscheidende Neuigkeit des letzten Konzils erkennen, wie in jüngster Zeit zum Beispiel der Jesuit John O’Malley in seiner Arbeit What Happened at Vatican II feststellte.
Während O’Malley und die Progressiven die neue, vom Konzil gebrauchte Sprache in einem völlig positiven Licht sehen, hat für Radaelli, Roberto de Mattei und andere Vertreter des traditionalistischen Denkens – wie bereits für Romano Amerio – die „pastorale“ Sprache des Konzils das Stigma einer Wurzel allen Übels.
Ihrer Meinung nach hat das Konzil unbefugter Weise den Anspruch erhoben, daß der dem dogmatischen Lehramt der Kirche geschuldete Gehorsam auch für die pastorale Sprache zu gelten habe. Damit seien Aussagen und Behauptungen ohne wirkliche dogmatische Grundlage zu einem nicht in Frage zu stellenden „Superdogma“ erhoben worden, die hingegen einer legitimen und zwingenden Kritik zu unterziehen wären.
Dogmatische vorkonziliare und „pastorale“ konziliare Sprache stehen für „fast zwei Kirchen“
In den beiden gegensätzlichen Sprachen, der dogmatischen und der „pastoralen“, sieht Radaelli sich „fast zwei Kirchen“ herausbilden und trennen.
In die erste, jener der Tradition, schließt er auch die Lefebvrianer mit ein, die völlig „katholisch nach Lehre und Ritus“ und „dem Dogma gehorsam“, wenn auch Ungehorsam gegenüber dem Papst seien, weshalb sie seit 35 Jahren kirchenrechtlichen Sanktionen unterliegen. Das ist die Kirche, die aus Treue zur Glaubenslehre „das Zweite Vatikanum als totalen Bruch mit der Tradition verwirft“.
Der zweiten Kirche rechnet er alle anderen zu, also fast alle Bischöfe, Priester und Gläubigen, einschließlich den regierenden Papst. Es ist die Kirche, die auf die dogmatische Sprache verzichtet hat und „sich in allem zum Kind des Zweiten Vatikanums macht, indem sie erklärt – und das auch vom höchsten Thron, ohne jedoch je Beweise dafür zu liefern – daß es in völliger Kontinuität mit der vorkonziliaren Kirche steht, wenn auch im Kontext einer bestimmten Reform“.
Welche Möglichkeit sieht Radaelli, diesen Gegensatz zu überwinden, die zentrifugalen Kräfte zu binden und wieder in den für ihn einzig richtigen Strom zu lenken, den der wahren Kontinuität in der Tradition? Seinem Urteil nach „ist es nicht das dem Dogma treue Modell der Kirche, das sich dem Papst unterwerfen muß“, sondern „vielmehr ist es das dem Papst treue Modell, das sich dem Dogma unterwerfen muß“.
Mit anderen Worten:
„Es ist nicht Econe [also die Priesterbruderschaft St. Pius X.], das sich Rom unterwerfen muß, sondern Rom dem Himmel: jede Schwierigkeit zwischen Econe und Rom wird sich nach der Rückkehr der Kirche zur ihr eigenen dogmatischen Sprache lösen.“
Eine Schwäche in Radaellis Denken ist, daß er jenes dritte Kirchenmodell der progressiven Teile der Kirche unberücksichtigt läßt, das sich seit dem Konzil nur nominell dem Papst unterwirft, aber eine ganz andere Kirche will. Er scheint darin nur graduelle Unterschiede ein und desselben zweiten Kirchenmodells zu sehen, das von Papst Benedikt XVI. bis Hans Küng reicht. Eine Sichtweise, die in diesem Punkt zu kurz greift und wegen ihrer Unschärfe wenig brauchbar scheint.
Vier Punkte zur Überwindung des konziliaren Bruchs und Wiederherstellung der Kontinuität
Aber zurück zur Frage, welche Möglichkeit der katholische Denker sieht, den zentralen Gegensatz zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt Radaelli zwei Dinge voraus:
- daß Rom den Piusbrüdern das Recht garantiert, die Heilige Messe und die Sakramente ausschließlich nach dem Missale des heiligen Pius V. zu zelebrieren;
- daß der dem Zweiten Vatikanum gegenüber geforderte Gehorsam in die Grenzen seiner „falsch-pastoralen“ Sprache zurückgeführt wird und damit Kritik und Vorbehalten unterworfen wird.
Um zum Erfolg zu gelangen, seien jedoch noch zwei weitere Forderungen zu erfüllen, so Radaelli:
- die erste wurde im Dezember 2011 von Msgr. Athanasius Schneider, dem rußlanddeutschen Weihbischof von Astana erhoben: die Veröffentlichung eines neuen „Syllabus“ durch den Papst, mit dem „die heutigen Irrtümer“ verurteilt werden;
- die zweite wurde dem höchsten Lehramt der Kirche vom Theologen Msgr. Brunero Gherardini, Konsultor der Heiligsprechungskongregation und Kanonikus am Petersdom vorgeschlagen, dessen Schule auch der neue Vize-Präsident der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei, Kurienerzbischof Augustine Di Noia entstammt: eine „Revision der Dokumente des Konzils und des Lehramtes des vergangenen halben Jahrhunderts im Licht der Tradition“.
Sind die vier Punkte vorab zu erbringen, scheint eine Einigung zwischen der Piusbruderschaft und dem Heiligen Stuhl derzeit alles andere als leicht und unmittelbar bevorstehend. Der Stillstand der Gespräche seit dem Juni 2012 spricht eine deutliche Sprache. Andere Wege sind denkbar. Unklar ist in diesem Zusammenhang, welche Auswirkungen das Schreiben von Kurienerzbischof Di Noia haben wird und ob die Gespräche damit auf eine neue Ebene gehoben werden sollen und können. Unklar ist in diesem Zusammenhang auch, ob Di Noias Vorstoß ebenso Gefahr läuft, gleich zu enden, wie die bis Juni des Vorjahres dauernde Gesprächsrunde, als sich Rom und Econe, zumindest die Gesprächspartner beider Seiten, bereits geeinigt zu haben schienen, dann aber die eigentlichen Entscheidungsträger, die Glaubenskongregation zuerst und dann dieser folgend auch der Papst die erzielte Einigung wieder verwarfen.
Im traditionsverbundenen Teil der Kirche macht sich Enttäuschung breit
Unter dem mit der Kirche verbundenen Teil der Tradition macht sich von Radaelli bis de Mattei und Gherardini eine gewisse Enttäuschung über das derzeitige Pontifikat breit, in das sie so viel Hoffnung gesetzt hatten. Ihrer Überzeugung nach kann nur eine entschiedene Rückkehr des Lehramtes von Papst und Bischöfen zu dogmatischen Äußerungen die Kirche auf den rechten Weg zurückführen, dies verbunden mit einer konsequenten Korrektur der durch die „pastorale“ Sprache des Konzils verbreiteten Irrtümer.
Irrtümer, die Radaelli in seinem Buch auflistet und als „wirkliche Häresien“ bezeichnet:
Ekklesiologie, Kollegialität, einzige Quelle der Offenbarung, Ökumenismus, Synkretismus, Irenik (vor allem gegenüber Protestantismus, Islam und Judentum), Veränderung der Lehre von der Substitution der Synagoge durch die Kirche in eine „Lehre paralleler Heilswege“, Anthropozentrismus, Verlust der novissima (der Letzten Dinge und der Hölle), der richtigen Theodizee (daraus folgend viel Atheismus als „Flucht vor einem schlechten Vater“), des Verständnisses der Sünde und der Gnade, des Verständnisses der Ikonologie, liturgische Entdogmatisierung, Umsturz der Religionsfreiheit und nicht zuletzt die „Dislokation der göttlichen Trinität“, durch die die Freiheit die Wahrheit vom Thron stürzt.
Radaelli schließt sein Buch mit einem Appell „die Waffen niederzulegen“, der sich sowohl an die „Brüder Neuerer“ als auch an die „Brüder Traditionisten“ (er zieht Traditionismus dem Begriff Traditionalismus vor) richtet.
Enrico Maria Radaelli: Il domani – terribile o radioso? – del dogma. Mit einem Vorwort des englischen Philosophen Roger Scruton und drei Kommentaren von Msgr. Mario Olivero, Bischof von Albenga-Imperia, des Theologen Brunero Gherardini und der Publizisten Alessandro Gnocchi und Mario Palmaro, Edizione Pro Manuscripto Aurea Domus, Mailand 2013, S. 278, Euro 35,00
Text: Giuseppe Nardi
Bild: enricomariaradaelli.it