Der französische Historiker Nicolas Werth gilt international als einer der besten Kenner der Geschichte der Sowjetunion und der dort ausgeübten politischen Gewalt. Werth, dessen deutschstämmige Großeltern vor der Oktoberrevolution nach England geflohen sind, erklärte: „Die Massaker des ‚Großen Terrors‘ von Stalin in den Jahren 1937/1938 stellten vielleicht nicht im technischen Sinn einen Genozid dar, zumindest nach der restriktiven Definition, die diesem Begriff unter dem Druck der Sowjetunion von der UNO gegeben wurde. Man kann aber wahrscheinlich sagen, daß es eine genozidhafte Aktion gab, zumindest gegen den Klerus.“
Diese Feststellung traf Werth in seinem 2009 veröffentlichten Buch L’Ivrogne et la marchande de fleurs: Autopsie d’un meurtre de masse, das 2011 in einer italienischen, aber noch nicht in einer deutschen Ausgabe erschienen ist. Werth konnte darin eine große Menge bisher unveröffentlichter Dokumente aus sowjetischen Archiven verwerten. „In kaum 16 Monaten wurden eineinhalb Millionen Menschen verhaftet und fanden ungefähr 800.000 Hinrichtungen statt. Es handelte sich um einen wahren Prozeß von ‚prophylaktischer Säuberung‘ der gesamten Gesellschaft, nicht nur bestimmter Eliten. Das war der radikale Höhepunkt einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die bereits seit der Zeit Lenins ergriffen worden waren. Die sowjetische Welt sollte von jedwedem wirklichen oder potentiellen Gegner der einzig zugelassenen Meinung und der neuen integrierten Gesellschaft gereinigt werden.“
Werth weist nach, daß Stalin direkt für diesen Genozid verantwortlich ist, und wer sich vor allem im Fadenkreuz des kommunistischen Diktators befand. „An erster Stelle der Klerus. 90 Prozent der Priester wurden verhaftet und hingerichtet. Dann sind die ehemaligen Mitglieder der revolutionären Sozialisten, die Trotzkisten, als wichtigste Konkurrenten der Bolschewisten zu nennen.“ Opfer wurden systematisch auch gemeine Kriminelle, Obdachlose und sozial Ausgegrenzte, die Eliten des Zarenreiches, die freien Bauern und die Polen. „Stalin schaffte es, alle diese Gruppen als potentielle Mitglieder einer ‚fünften Kolonne‘ von Feinden, Spionen und Aufmüpfigen darzustellen.“
Zum Genozid am Klerus stellte Werth in einem Interview mit der katholischen Tageszeitung Avvenire fest: „Verschiedene Dokumente beweisen den entschlossenen Willen, ein für allemal Schluß zu machen mit dem Klerus. Auch deshalb ist es geradezu paradox, daß Stalin in den unmittelbar darauf folgenden Jahren des Zweiten Weltkrieges, des ‚Vaterländischen Krieges‘ der Propaganda, versuchen wird, die verbleibenden 10 Prozent des Klerus zu instrumentalisieren und in seine Einflußsphäre zu ziehen. Der Diktator wurde vom Ergebnis der Volkszählung von 1937 sehr beeindruckt, bei der sich noch 57 Prozent der Bevölkerung als gläubig erklärte. Man kann wahrscheinlich nicht sagen, daß die Kirche eine direkte Gefahr für das Regime darstellte. Stalin aber nahm sie mehr denn je als letzte organisierte, noch nicht vom Regime kontrollierte Institution wahr.
Quelle: Nicolas Werth: L’Ivrogne et la marchande de fleurs : Autopsie d’un meurtre de masse. 1937–1938. Edition Tallandier 2009
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons