(Straßburg) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzt seine Urteilsserie gegen den Schutz des ungeborenen Lebens fort. Der EGMR verurteilte Polen wegen „menschenunwürdiger Behandlung“ einer heute 18-Jährigen und deren Mutter. Das damals 14jährige Mädchen hatte von der Staatsanwaltschaft Warschau nach einer Vergewaltigung eine Abtreibungserlaubnis erhalten. Das polnische Abtreibungsgesetz sieht die Möglichkeit zur Tötung ungeborener Kinder nur bei Vergewaltigung, schwerer Mißbildung des Kindes oder unmittelbarer Lebensgefahr für die Mutter vor.
Das Mädchen und deren Mutter hatten jedoch Schwierigkeiten, ein Krankenhaus zu finden, in dem man bereit war, die Tötung des Kindes durchzuführen.
Der Gerichtshof wertete jeden Versuch, die Schwangere und deren elterlichen Vormund vom schwerwiegenden und irreversiblen Schritt der Kindestötung abzubringen, als „Manipulationsversuch“. In zwei Krankenhäusern habe man versucht, sie zu „manipulieren“, wie die Kläger in der Eingabe an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anführten. Das Gericht machte sich diese Position in seiner Urteilsbegründung zu eigen. Die Ärzte der Krankenhäuser weigerten sich aus Gewissensgründen, die Tötung des Kindes durchzuführen.
Die „Manipulation“ bestand darin, daß sich Ärzte und Pflegepersonal in beiden Krankenhäusern bemühten, die Kindesmutter und deren Mutter von dem schwerwiegenden und irreversiblen Schritt der Kindestötung abzubringen. Zu den vom Gericht beanstandeten „Schikanen“ gehört auch, daß die Schwangere und deren Mutter von einem der Krankenhäuser zu einem katholischen Priester geschickt wurden.
Ein Lubliner Krankenhaus, an das sich die Schwangere wandte, machte den Fall schließlich publik, und gab bekannt, keine Tötungen durchzuführen. Dieses Öffentlichmachen des Falles wurde vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in seinem Urteil beanstandet. Beklagenswert erklärte der Gerichtshof auch den Umstand, daß die Mutter und Tochter sich „radikalen Abtreibungsgegnerinnen“ ausgesetzt fühlten.
Das Familiengericht von Lublin entzog der Mutter kurzzeitig die Vormundschaft, weil ihr vorgeworfen wurde, ihre minderjährige Tochter zur Abtreibung zu drängen. Die Mutter erreichte schließlich beim polnischen Gesundheitsministerium die Adresse einer Klinik in Danzig, wo die Tochter ihr ungeborenes Kind töten ließ.
Wegen der „Schikanen“, denen die Schwangere und deren Mutter durch polnische Einrichtungen ausgesetzt waren und wegen der Verletzung deren Privatsphäre, wurde Polen zur Zahlung von 45.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Parteien haben eine dreimonatige Einspruchsfrist und können sich an die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wenden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons