Der Länderbericht Senegal soll die Lebensbedingungen einer katholischen Minderheit unter moslemischer Mehrheit darstellen in einem Land, das eine dynamische Geburtenrate aufweist und durch Migration sich auch in Europa ausbreitet. Der Bericht richtet seinen Blick vor allem auf den Islam in Senegal, dessen bestimmende Strömungen und sich abzeichnende Veränderungen.
Präsidentschaftswahlen stehen vor Stichwahl – 90 Prozent Moslems
Begleitet von zahlreichen Polemiken endeten die Präsidentschaftswahlen im westafrikanischen Staat Senegal. Gewählt wurde am Sonntag, den 26. Februar. Ein vorläufiges Endergebnis wurde zwar am 29. Februar bekanntgegeben, nicht jedoch ein endgültiges. In Senegal gehen alle politischen Gruppen jedoch mehr oder weniger davon aus, daß die veröffentlichen Zahlen dem Endergebnis nahekommen. Die meisten Stimmen erhielt der amtierende Präsident Abdoulaye Wade mit 34,82 Prozent, gefolgt von seinem ehemaligen Ministerpräsidenten Macky Sall, der die Liberale Partei von Wade verlassen hatte. Sall erhielt 26,57 Prozent der Stimmen. Der erste der beiden sozialistischen Kandidaten, Moustapha Niasse, konnte 13,2 Prozent auf sich vereinen.
Am 18. März kommt es daher zu einer Stichwahl, wie es aussieht zwischen Wade und Sall, sofern durch Einsprüche kleinerer Kandidaten keine Verschiebung eintritt. Daß der amtierende Präsident Wade sich nicht zum Sieger erklärte, wird von den internationalen Wahlbeobachtern positiv registriert. Zu ihnen gehört auch der Soziologe Massimo Introvigne, der sich als OSZE-Repräsentant gegen die Christendiskriminierung in Senegal aufhält. In seinem Bericht heißt es zwar, daß es im ersten Wahlgang zu Fällen von Wahlbetrug kam, die senegalesische Demokratie jedoch gehalten hat und die Wahl insgesamt als „korrekt“ bezeichnet werden kann. Diese Einschätzung teilt auch die katholische Kirche des westafrikanischen Staates, die sich positiv darüber äußerte, daß es zu keinen nennenswerten Gewalttaten gekommen ist. Die Katholiken machen gut zehn Prozent der Bevölkerung Senegals aus.
Zehn Prozent Katholiken, aber jeder dritte Wahlbeobachter ein Katholik
Die katholische Kirche stellte 850 Wahlbeobachter , um einen korrekten Ablauf der Wahlen zu überprüfen, wie Pater Alphonse Seck, der Generalvikar der Erzdiözese Dakar und Vorsitzender der senegalesischen Kommission von Iustitia et Pax Mitte Februar mitteilte. Damit ist jeder dritte Wahlbeobachter Katholik. Auf diese Weise will die katholische Kirche auch bei der Stichwahl ihren Beitrag zur „Bewahrung des Friedens“ leisten, so Pater Seck.
Der OSZE-Repräsentant besuchte die den Moslems heilige Stadt Touba und den bedeutenden moslemischen Wallfahrtsort Diourbel, um Rolle und Bedeutung der Sufi-Bruderschaften in Senegal zu ergründen.
Senegal ist eines der wenigen Länder Afrikas, in denen ethnische und Stammeskonflikte keine besondere Rolle spielen. Dafür sind die Konflikte zwischen verschiedenen islamischen Sufi-Bruderschaften umso bedeutender. Der Drittplatzierte bei den Präsidentschaftswahlen, Moustapha Niasse, zum Beispiel, ist wohl Kandidat der Sozialisten, er gehört aber vor allem der Familie der Niasseni an, die einem Zweig der größten Sufi-Bruderschaft im Senegal den Namen gibt. Diese Mehrheitsbruderschaft sind die Tidschani, die seit jeher im Konflikt mit Präsident Wade standen. Rund 45 Prozent der Senegalesen gelten als Anhänger der Tidschanen. In Kaolack befindet sich die die „heilige Stadt“ der Niasseni. Dort, in Medina Baye, konnte Niasse einen überwältigenden Sieg über Wade erringen.
Die Rolle der Sufi-Bruderschaften – Tidschani und Muriden
Präsident Wade wiederum gehört der Sufi-Bruderschaft der Muriden an, die etwas kleiner ist, als jene der Tidschani, allerdings in wirtschaftlicher Hinsicht wesentlich bedeutender. Die heiligen Orte der Muriden sind Touba und Diourbel. Die nach Europa eingewanderten Senegalesen gehören zum Großteil den Muriden an. Diese Bruderschaft geht auf den Prediger Ahamadu Bamba Mbacke (Ahmed ben Mohamed ben Habib Allah) zurück, der von ca. 1850–1927 lebte und von seinen Anhängern „Serign Touba“ genannt wurde nach der von ihm gegründeten Stadt Touba.
Bamba wurde in einer Familie erzogen, die der großen, internationalen Sufi-Bruderschaft Qadiriyya angehörte. Er lebte in einer Krisenzeit, die durch das Ende der traditionellen, vorkolonialen Königreiche und dem Sieg des französischen Kolonialismus charakterisiert war. Durch seine Predigttätigkeit wurde er zu einem Bezugspunkt für sich widersprechende Bestrebungen, die auf Formen der Unzufriedenheit zurückgehen, die teilweise noch auf die Zeit vor Ankunft der Franzosen zurückreichten. Frankreich befürchtete, daß sich die Bruderschaft in eine Unabhängigkeitsbewegung verwandeln könnte und verbannte Bamba zwei Mal ins Exil. Unter anderem verbrachte er aus diesem Grund lange Zeit in Diourbel, das so zu einem wichtigen Wallfahrtsort für die Moslems der Gegend wurde. Schließlich überzeugten sich die französischen Kolonialherren, daß Bambas Lehre keinen politischen Inhalt hatte. In seinen letzten Lebensjahren ehrte ihn Paris sogar mit der Aufnahme in die Ehrenlegion, dem höchsten Verdienstorden der Republik Frankreich.
Der Aufstieg Bambas sollte jedoch, so Introvigne, nicht bloß als Reaktion auf äußere, vor allem politische Faktoren gelesen werden. Die Familientradition, der Kontext des Sufismus in der westafrikanischen Region und die Neuerungen, die Bamba in diesem Kontext einführte, sind mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als seine Beziehungen zum Kolonialismus.
Nach seinem Tod blieb die Führung der Bruderschaft in den Händen der Familie Mbacke, den direkten Nachkommen des Gründers. In der Muriden-Hierarchie spielen jedoch auch die Mitarbeiter Bambas eine wichtige Rolle, die „großen Talibé“, das arabische Wort talib für Schüler oder Suchender ist seit der jüngsten Phase des Afghanistankonflikts durch die Taliban-Bewegung international bekannt. Zu den „großen Talibé“ der Muriden zählt Scheich Ibra Fall (1858–1930), der Gründer der Bay Fall-Bewegung. Diese Bewegung wird von manchen, zu Unrecht, wie Introvigne in seinem Bericht schreibt, als eine von der Muriden-Bruderschaft getrennte Bewegung betrachtet. Laut Introvigne bildet sie in Wirklichkeit deren „harten Kern“, so etwas wie ein Ordnungsdienst der Bruderschaft. Ein bewußt gesuchter Grad an Geheimhaltung führte dazu, daß den Mitgliedern der Bay Fall-Bewegung sowohl besondere Hingabe für die Sache der Muriden nachgesagt wird, aber auch eine Ungeduld sowie geringe Beachtung der islamischen Praktiken.
Einwanderer bringen Muridiyya nach Europa
Durch die senegalesische Migration, bei der vor allem Wanderhändler des Volks der Wolof eine wichtige Rolle spielen, das zu einem Großteil der Muriden-Bruderschaft anhängt, wurde diese Sufi-Bruderschaft in die ganze Welt hinausgetragen von den USA bis nach Japan.
Seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts änderte die Murà®diyya unter der Führung von Abdou Lahat Mbacke ihr Erscheinungsbild. Sie baute die große Bibliothek von Touba aus, die Introvigne besuchen durfte. „Sie beeindruckt durch die unerwartete, außergewöhnliche Ordnung“, so der OSZE-Vertreter. Mit ihr ist eine islamische Hochschule verbunden, die im Islam einen guten Ruf genießt und die Bruderschaft näher an den in den arabischen Staaten vorherrschenden Islam bindet.
Die Besonderheit des Muridismus liegt in der Heiligung der Arbeit, die einen gleichwertigen, wenn nicht sogar höherwertigen Rang hat als Gebet und Meditation. Durch diese Spiritualität der Arbeit führte Bamba ein authentisch schwarzafrikanisches Element in den islamischen Sufismus ein. Dadurch setzte er sich und seine Bewegung der Kritik und starken Vorbehalten durch die Tidschani ‑Bruderschaft aus.
Das Khidma-System als wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft
Grundlage der Muriden-Bruderschaft ist, wie bei allen Sufi-Bruderschaften, eine Art von Initiation, die Bai’a. Mit diesem Pakt schließt sich der Talibé dem Marabout, seinem Lehrer, dem Mittler zwischen Mensch und Gott an, der für den Schüler Garant sowohl für dessen Heil und Rettung als auch für dessen materielles Wohlergehen ist.
Durch den Bai’a verspricht der Schüler dem Marabout die Khidma (Dienst), das heißt die Arbeit, die er künftig zum Nutzen der Bruderschaft und auch zum persönlichen Nutzen des Marabout leisten wird. Der Marabout verpflichtet sich umgekehrt für den Schüler zu beten. Die Khidma stellt die Beziehung zwischen dem Lehrer und dem Schüler auf eine vertragliche Basis, die durch die Bai’a formalisiert wird.
Zu den Säulen des Muridismus gehören die jährlichen Gabe (Hadiya) an die Bruderschaft bei der Pilgerfahrt nach Touba zum Grab des Gründers. Dieser jährlichen Pilgerfahrt steht der oberste Führer der Bruderschaft, der Malia vor. Das (Ab)Gabensystem und die Arbeitspflicht des Talib für den Marabout ließ, laut dem Soziologen Donald Brian Cruise O’Brien, jene Vorstellung entstehen, die er als „Ausbeutungsmythos“ bezeichnete. Ein Zerrbild, das vor allem von den Gegnern der Bruderschaft verbreitet wird, aber doch zumindest auch einen realen Ansatz enthält, da Mißbrauchsfälle immer wieder vorkommen. So bestätigt auch Introvigne die Existenz von Marabouts, die mit Luxusautos vorfahren und die sich durch Ausbeutung ihrer Schüler bereichern.
Insgesamt gelte jedoch, so Introvigne, was die Wissenschaftlerin Ottavia Schmidt di Friedberg (1957–2002) in einer gründlichen Studie darlegte, daß zumindest bis zu einem bestimmten Grad eine wirkliche Gegenseitigkeit durch den Vertrag garantiert werde. Der Marabout setzt sich auf vielfältige Weise für den Talib und dessen Familie ein, unter anderem auch bei der Arbeitssuche, häufig mit beachtlichem Erfolg. Vor allem ist er ein wichtiger Bezugspunkt für die kulturelle Identifikation.
Die sozialistischen Regierungen Senegals ertrugen die wirtschaftliche Vorherrschaft der Muriden nur schwer, nicht zuletzt auch, weil sie mit der Tidschani-Bruderschaft verbunden waren. Unter ihnen konnte ein Katholik, Léopold Sédar Senghor (1906–2001), Sozialist und international bekannter Dichter, zum ersten Staatspräsidenten des westafrikanischen Staates werden. Wade, der sich als „Talibé-Präsident“ bezeichnet, wenngleich es unter den Muriden Zweifel über seine Initiation gibt, förderte die Sufi-Bruderschaft auf vielfältige Weise. Introvigne berichtet, daß die Begeisterung für Wade in Diourbel, wo der Soziologe Nachkommen von Bamba traf, und in Touba, wo ihn der in Senegal bekannte islamische Fernsehprediger „Ibrahim“ führte, natürlich groß ist. Er sieht hinter dieser Begeisterung „natürlich wirtschaftliche Interessen“, aber auch „die Angst vor Veränderung und vor allem vor Umbrüchen, die den friedlichen Charakter des senegalesischen Islam in Frage stellen könnten“.
Islamistische Tendenzen als neues Phänomen spürbar
Obwohl der Kalif der Muriden – der Titel kommt öfter vor, ist jedoch keineswegs unumstritten in der islamischen Welt – eine Politik der guten Beziehungen zu den Tidschanis verfolgte, tauchten diese bei den Kundgebungen gegen Wade verstärkt auf und stimmten immer häufiger Parolen an, die bisher in Senegal kaum zu hören waren, aber typisch für den politischen Islam des Moslembrüder ist. Erste Ansätze zu islamistischen Tendenzen gibt es, seit der 1925 geborene Abdoulaye Touré, ein Tidschani, Mitte des 20. Jahrhunderts in Algerien das Salafitentum kennenlernte und seither in Senegal verbreitet.
Die Muriden verteidigen den Status quo und das Wirtschaftssystem, das dem Motto des Gründer der Muriden viel verdankt: „Arbeite, als müßtest du ewig leben und bete, als müßtest du morgen sterben.“ Zahlenmäßig haben die Muriden die Stichwahl kaum zu fürchten. Auch der Zweitplatzierte, Macky Sall ist Muride, zumindest was seine familiäre Herkunft anbelangt. Die senegalesische Presse spricht von einem Rückgang des Einflusses der Sufi-Bruderschaft auf die senegalesische Politik, weil es den Muriden nicht gelang, Wade im ersten Wahlgang als Staatspräsident zu bestätigen. Allerdings, so Introvige, könnte sich in Zukunft nur eine andere Form des Einflusses zeigen.
Text: BQ/Giuseppe Nardi
Bild: Bussola Quotidiana