Polygamie im Judentum: ein aktueller Exkurs


(Jeru­sa­lem) Die inter­na­tio­na­le Pres­se ver­brei­te­te in die­sen Tagen die kurio­se Nach­richt, daß in den Syn­ago­gen Isra­els Pro­pa­gan­da für die Poly­ga­mie gemacht wer­de. Die ver­brei­te­ten Flug­blät­ter ent­hal­ten Rechts­gut­ach­ten des über 90jährigen Rab­bi Ova­dia Yosef, dem geist­li­chen Füh­rer der sephar­di­schen, ultra­or­tho­do­xen Shas-Bewe­gung. Rab­bi Yosef war bereits Ober­rab­bi­ner der sephar­di­schen Juden in dem öst­li­chen Mit­tel­meer­staat. Die Gut­ach­ten wur­den von ihm bereits vor meh­re­ren Jah­ren erstellt. In Isra­el ist die Poly­ga­mie wie in allen zivi­li­sier­ten Staa­ten vom Gesetz ver­bo­ten. Aller­dings gibt es Son­der- und Über­gangs­be­stim­mun­gen für die isla­mi­sche Min­der­heit des Lan­des. Wie stellt sich die Fra­ge jedoch für die Juden?

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Das frag­te sich bereits Napo­le­on Bona­par­te (1769–1821), der mit gro­ßer Auf­merk­sam­keit die Rech­te der jüdi­schen Min­der­heit in Frank­reich schütz­te, aller­dings dar­auf bedacht war, damit nicht auch die Poly­ga­mie zu lega­li­sie­ren. Auf eine prä­zi­se Anfra­ge Napo­le­ons hin, ver­pflich­te­te sich das Kon­si­sto­ri­um der fran­zö­si­schen Juden, sich zu bemü­hen, die Sit­ten und Gebräu­che der Juden an die fran­zö­si­sche Rechts­ord­nung anzu­pas­sen. Gleich­zei­tig erklär­te die Ver­samm­lung aus­drück­lich, daß die Juden all­ge­mein kei­ne Viel­wei­be­rei betrei­ben. Die Behaup­tung war poli­tisch not­wen­dig, ent­sprach aber nicht ganz der Wahr­heit. In den Gemein­schaf­ten der ori­en­ta­li­schen Juden sephar­di­scher Her­kunft gab es nach wie vor die Poly­ga­mie, wenn sie auch für Euro­pa durch eine berühm­te Ent­schei­dung des Rab­bi­ner Gers­hom (960‑1040) ver­bo­ten wor­den war. Über deren Trag­wei­te wur­de dis­ku­tiert. Vie­le ver­tra­ten den Stand­punkt, daß sie ledig­lich für die asch­ke­na­si­schen Juden Gel­tung hät­te. In den sephar­di­schen Gemein­schaf­ten, beson­ders im Jemen, wird die Poly­ga­mie bis heu­te praktiziert.

Vor eini­gen Jah­ren sorg­te der israe­li­sche Anthro­po­lo­ge Zev Kali­fon auf der Jah­res­ta­gung 2001 der Ame­ri­can Anthro­po­lo­gi­cal Asso­cia­ti­on für Auf­se­hen, als er in sei­nem Refe­rat erklär­te, daß in Isra­el unter sephar­di­schen Juden noch heu­te heim­lich wie eben­so ille­gal die Poly­ga­mie prak­ti­ziert wird und dies zum Teil sogar mit mehr als zwei Frau­en im Wider­spruch zur tra­di­tio­nel­len Emp­feh­lung sephar­di­scher Rabbiner.

Zudem gibt es noch die Ori­gi­nal Hebrew Israe­li­te Nati­on, eine der ver­schie­de­nen „Black Jews“-Gruppen, die im Gegen­satz zu den „Black Mus­lims“ in den USA behaup­ten, die Afro-Ame­ri­ka­ner sei­en ursprüng­lich jüdisch-eth­ni­scher Abstam­mung und müß­ten sich daher zum Juden­tum bekehren.

Die Grup­pe ent­stand 1966 in Chi­ca­go, nach­dem der Erz­engel Gabri­el angeb­lich im Schlaf Ben Ami Car­ter, einem Arbei­ter der dor­ti­gen Stahl­in­du­strie erschie­nen sei. Die­ser habe ihm offen­bart, daß die Afro-Ame­ri­ka­ner in Wirk­lich­keit Abkömm­lin­ge der ver­lo­re­nen Stäm­me Isra­els sei­en. Car­ter wan­der­te 1967 mit rund 30 Anhän­gern nach Libe­ria aus. Das libe­ria­ni­sche Expe­ri­ment ver­lief aller­dings nicht wie erwar­tet. Car­ter erklär­te dar­auf, es hand­le sich um eine vor­über­ge­hen­de „Rei­ni­gungs­pha­se“ als Vor­be­rei­tung zur Rück­kehr nach Isra­el. 1969 über­sie­delt die klei­ne Grup­pe tat­säch­lich in den Juden­staat, wo die Mit­glie­der den Auf­ent­halts­sta­tus von Tou­ri­sten erhal­ten und von den Behör­den dem Wüsten­städt­chen Dimo­na im Süden des Lan­des zuge­wie­sen wer­den. Dort­hin folg­ten zahl­rei­che wei­te­re Anhän­ger der Bewe­gung, die inzwi­schen in Chi­ca­go star­ken Zulauf erleb­te. 1974 erklär­te jedoch das israe­li­sche Ober­rab­bi­nat, daß es sich nicht um wirk­li­che Juden hand­le. Damit haben die afro-ame­ri­ka­ni­schen Kolo­ni­sten von Dimo­na kein Anrecht auf die israe­li­sche Staats­bür­ger­schaft. Sie blei­ben aller­dings im Land und setz­ten dort ihr Wachs­tum fort mit etli­chen Ver­zwei­gun­gen und (nicht immer lega­len) Praktiken.

1980 bestä­tig­te eine vom Innen­mi­ni­ste­ri­um ein­ge­setz­te Kom­mis­si­on unter der Lei­tung des Knes­set-Abge­ord­ne­ten David Glass, daß es sich bei den Afro-Ame­ri­ka­nern nicht um Juden han­delt. Zudem wur­den eine Rei­he von pro­ble­ma­ti­schen Aspek­ten ihrer Lebens­wei­se ange­führt. Den­noch emp­fahl die Kom­mis­si­on sie aus huma­ni­tä­ren Grün­den zu inte­grie­ren, da sie bereits seit über einem Jahr­zehnt im Land leb­ten. Die Black Hebrews von Dimo­na sind heu­te vor allem als Musi­ker in Isra­el bekannt. 1999 ver­tra­ten zwei Sän­ge­rin­nen die­ser Grup­pe den Staat Isra­el beim Euro­vi­si­ons Songcon­test, seit 2002 hat die Car­ter-Grup­pe sogar ihren ersten Mär­ty­rer. Ein Sän­ger wur­de bei einem palä­sti­nen­si­schen Atten­tat getö­tet, als er in der israe­li­schen Stadt Hade­ra vor israe­li­schen Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen auftrat.

Gleich­zei­tig las­sen eini­ge Prak­ti­ken die Car­ter-Grup­pe vie­len Israe­lis als etwas “ande­re“ Juden erschei­nen. Sie prak­ti­zie­ren die Viel­wei­be­rei mit bis zu sie­ben Frau­en und sind strik­te Vege­ta­ri­er. Die Unter­stüt­zung der Grup­pe durch bekann­te Gestal­ten der ame­ri­ka­ni­schen Öffent­lich­keit, wie den schwar­zen Pre­di­ger und Poli­ti­ker Jes­se Jack­son und die Sän­ge­rin Whit­ney Hou­ston, bei­de übri­gens Chri­sten, öff­ne­te den Black Hebrews auch die Tore der israe­li­schen Regie­rung. 1990 gewähr­te sie der Grup­pe zwar nur eine pro­vi­so­ri­sche, aber erneu­er­ba­re Auf­ent­halts­er­laub­nis und die Errich­tung einer aner­kann­ten Pri­vat­schu­le, die mit ame­ri­ka­ni­schen Gel­dern finan­ziert wurde.

Am Ende eines lan­gen Ver­fah­rens wan­del­te die israe­li­sche Regie­rung 2003 ihren Sta­tus in „stän­di­ge Bewoh­ner“ um, aller­dings unter der Auf­la­ge, daß sie sich in allem dem israe­li­schen Gesetz anpas­sen müs­sen, auch in der Fra­ge der Poly­ga­mie. Damit ver­bun­den ist die Mög­lich­keit, nach einem nicht näher defi­nier­ten Zeit­raum die israe­li­sche Staats­bür­ger­schaft erwer­ben zu kön­nen. Die inzwi­schen 2500 in Isra­el leben­den Mit­glie­der der Ori­gi­nal Hebrew Israe­li­te Nati­on sie­deln haupt­säch­lich in Dimo­na aber auch in ande­ren Orten im Süden des Lan­des, so in Arad und Mitz­peh Ramon. Rund 3000 wei­te­re Mit­glie­der zählt die Gemein­schaft in Chi­ca­go. Die Poly­ga­mie scheint jedoch noch kei­nes­wegs aus der Gemein­schaft ver­schwun­den zu sein. Aus ver­schie­de­nen Grün­den wird das The­ma in Isra­el nur höchst sel­ten öffent­lich ange­spro­chen. Inner­halb der sephar­di­schen Shas-Par­tei gab es jedoch immer wohl­wol­len­de Stim­men, die sich für eine „begrenz­te“ Lega­li­sie­rung der Poly­ga­mie in Isra­el aus­spra­chen. Daß die Gers­hom-Ent­schei­dung die ori­en­ta­li­schen Juden nicht bin­det, dar­in sind sich die Gelehr­ten all­ge­mein einig.

Daß die prak­ti­zier­te Poly­ga­mie jedoch in der moder­nen israe­li­schen Gesell­schaft akzep­tiert wür­de, scheint mehr als unwahr­schein­lich, nicht zuletzt wegen des star­ken Ein­flus­ses des kul­tu­rell euro­pä­isch gepräg­ten Juden­tums. Die gesam­te Fra­ge erin­nert die Chri­sten übri­gens dar­an, daß die mono­ga­me und unauf­lös­li­che Ehe nicht das kul­tu­rel­le Ergeb­nis die­ses oder jenes Vol­kes oder die­ser oder jener histo­ri­schen Epo­che ist, wie der vor­herr­schen­de Rela­ti­vis­mus ger­ne hät­te, son­dern ein Bedürf­nis des Natur­rechts, das durch die mensch­li­che Ver­nunft erkannt wer­den kann. Durch das Chri­sten­tum, das es des­halb zum Sakra­ment erho­ben hat, wird es gestärkt und ver­brei­tet. Wie der seli­ge Papst Johan­nes Paul II. (1920–2005) lehr­te, stell­te die Leh­re von Jesus Chri­stus über die Ehe kei­ne Neu­heit dar, son­dern die Wie­der­her­stel­lung des ursprüng­li­chen Pla­nes Got­tes, der „seit dem Anfang“ vor­han­den war, aber durch die Umbrü­che der Mensch­heits­ge­schich­te ver­lo­ren ging.

Text: Bus­so­la Quotidiana/​Giuseppe Nardi
Bild: BQs

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