von Josef Bordat
Die Finanzkrise wirft grundsätzliche Fragen im Hinblick auf unser Wirtschaftssystem auf, Fragen, die von der Kirche im Rahmen ihrer Soziallehre seit 150 Jahren in einer bestimmten Weise beantwortet werden: aus der Sicht des Menschen als Abbild Gottes, mit der Option für die Armen als Stellvertreter Christi und im Bewußtsein unserer Verantwortung für die Schöpfung. Es wird Zeit für eine Besinnung auf die katholische Soziallehre.
Es ist sinnvoll, mit Jaspers das Leben auf der Daseins- vom Leben auf der Existenzebene zu unterscheiden, zu welchem Bewußtsein und Geist den Menschen führen (Jaspers 1987: S. 84), oder mit Wust die Fortuna-Ebene von der höheren Sphäre des homo philosophicus und diese schließlich von der Sphäre höchster Vollendung des menschliches Lebens im Drange nach Gott, der Sphäre des homo religiosus zu trennen (Wust 1986: S. 75 ff.). Doch es wäre fatal, über die existenzphilosophische Reflexion des christlichen Lebens die basale Ebene des leiblich-materialen Daseins ganz zu vergessen. Liegt auch in der vergeistigenden Selbsttranszendierung der eigentliche Zweck des Menschen, so liegt gleichwohl in der Körperlichkeit ebenso seine Würde verborgen, weil hier die Seele ihren Sitz hat – die individuierte Seele im individuellen Leib. Leib und Seele bilden eine Einheit, denn – um es mit den Worten Edith Steins zu sagen – „die Seele durchdringt den Leib so sehr, daß die organisierte Materie des Leibes zum ‚durchgeistigten Leib‘ wird“ (Stein 2004: S. 107). Sich um den Körper zu kümmern, bedeutet daher immer auch Seelsorge. Mens sana in corpore sano.
Gesundheit, Hygiene und Ernährung sind demnach letztlich auch Themen der christlichen Existenzphilosophie. So rücken die Bedingungen des Daseins in den Mittelpunkt des Apostolats der Kirche. Dabei stehen insbesondere die Menschen im Zentrum, deren Leib geschunden ist durch die äußeren Lebensbedingungen und deren Seele darüber Schaden nimmt. Die Option für die Armen ist deswegen keine Mode in Zeiten der Globalisierung oder gar nur in Krisenphasen, etwa um öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, sondern unmittelbarer evangelikaler Auftrag Christi, der implizit in der Rede vom „Weltgericht“ (Mt 25, 31–46) enthalten ist, als Christus mit Blick auf die „Schafe“ formuliert: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40). Papst Johannes Paul II., der Autor der „Jubiläums-Enzyklika“ Centesimus Annus (1991) hat dazu gesagt: „In den Armen ist Christus in besonderer Weise gegenwärtig, was der Kirche eine vorrangige Option für sie auferlegt.“ Diese Option hat neben der ganz praktischen Arbeit einen theoretischen Überbau: die katholische Soziallehre.
Die katholische Soziallehre entfaltet sich entlang der neun Sozialenzykliken, die auf die jeweilige historische Situation eingehen, in Abgrenzung zu Liberalismus und Sozialismus, und die aufeinander Bezugnehmen: Rerum Novarum (1891), Quadragesimo Anno (1931), Mater et Magistra (1961), Pacem in Terris (1963), Populorum Progressio (1967), Laborem Exercens (1981), Sollicitudo Rei Socialis (1987), Centesimus Annus (1991) und Deus Caritas Est (2005).
Mich interessiert hier weniger die breit rezipierte Wirkungsgeschichte der katholischen Soziallehre, die etwa den geistigen Hintergrund für die „Soziale Marktwirtschaft“ der Ära Adenauer/Erhardt bildete, als vielmehr die philosophischen und partoraltheologischen Bedingungen, unter denen sich die katholische Soziallehre zum Ende des 19. Jahrhunderts herausbilden konnte sowie selbstverständlich die Frage nach der Aktualität der katholischen Soziallehre für eine gerechtere Politik in der globalisierten Welt. In fünf Kapiteln möchte ich diese Blickwinkel ausleuchten:
- Die Rolle des Idealismus in der ersten Hälfte des 19. Jh.
- Das „Mainzer Manifest“ (1848): Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877)
- Der Solidarismus: Heinrich Pesch (1854–1926)
- Die Magna Charta des sozialen Katholizismus: Rerum Novarum (1891)
- Die katholische Soziallehre und die Globalisierung
Die Rolle des Idealismus
Anthropologisch-theologische Grundlage der katholischen Soziallehre ist das Personalitätsprinzip, also die Achtung des Menschen als ein ebenbildliches Geschöpf Gottes, genauer: der drei göttlichen Personen. Der Mensch wäre nicht Mensch und nicht selbst Person, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre. Und er ist Gottes Ebenbild, indem er menschliche Person ist. Damit ist die Gottebenbildlichkeit und die Personalität des Menschen nicht von ihm zu trennen, solange er lebt. Daraus erwächst ein zweiter Grundsatz: das Solidaritätsprinzip. Der Mensch ist immer auch ens sociale, also Gemeinschaftswesen und auf die Gemeinschaft hin geordnet, so daß immer auch die Solidarität der (Welt-)Gemeinschaft in gesellschaftlichen, aber auch wirtschaftlichen Fragen zu achten ist. Ein dritter Grundsatz der katholischen Soziallehre ist das Subsidiaritätsprinzip als „Recht der kleineren Lebenskreise“. Der jeweils kleineren Gemeinschaft – etwa der Familie – darf durch eine größere – etwa den Staat – nichts von dem abgenommen werden, wozu ihre eigene Leistungsfähigkeit reicht.
Zusammenfassen läßt sich die katholische Soziallehre mit ihren drei Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität in einem Wort: Verantwortung. Diese Verantwortlichkeit tritt als Kerngedanke des Humanitätsideals bereits in der Philosophie des deutschen Idealismus auf. Der Einfluß der Idealisten auf die Ideengeber der katholischen Soziallehre ist mannigfaltig: die Staatslehre Fichtes beeinflußte Friedrich List, Hegels Philosophie die Historische Schule der Nationalökonomie und Schelling die Ideen der romantischen Staats- und Wirtschaftslehre Adam Heinrich Müllers (1779–1829). Müller gilt als eine der umstrittensten Gestalten der deutschen Romantik, der sich v. a. durch seine Polemik gegen den wirtschaftlichen Liberalismus auszeichnete. Doch im Gefolge dieser Polemik entdeckt die Wirtschaftswissenschaft das idealistische Humanitätsideal der Wirtschaft. Aus dem Idealismus stammt ferner der entscheidende Gedanke einer prinzipiellen Veränderbarkeit wirtschaftlicher Strukturen durch den Menschen: „Gegen das ’natürliche System‘ der Wirtschaft mit seinen angeblich vom Menschen unabhängigen Gesetzmäßigkeiten wurde die von Persönlichkeiten und von Völkern gestaltete Geschichte entdeckt, in deren Rahmen auch die Wirtschaft vom Menschen getätigt wird. Gegen die vielbeklagte Selbstsucht, der unedlen Triebfeder des Zeitalters, wandte sich das Verlangen, den Bereich der Wirtschaft menschlich zu veredeln und sittlich zu durchdringen“ (Grenner 1967: 39).
Wenn die Wirtschaft nicht Teil der Natur, sondern Teil der Geschichte ist, also nicht dem Natürlichen, sondern dem vom Menschen Gestalteten zugeordnet werden kann, dann ist sie kein unveränderliches Schicksal, wie dies die neoliberalen Globalisten als ihr „Hauptargument“ heute noch ins Feld führen, sondern sie läßt sich hinsichtlich der Zielvorgaben und der eingesetzten Mittel gestalten und verändern. Die so gewonnene alternative Ordnung bewegt sich zwischen Markt- und Staatsdiktat und orientiert sich am Menschen, ganz im Sinne der idealistischen Humanitätsvorstellung.
Das Mainzer Manifest (1848): Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877)
Zum philosophischen Einfluß des Idealismus trat die konkrete praktische Situation in der beginnenden Industrialisierung hinzu, die mit Zuspitzung der sozialen Frage nur unzureichend beschrieben ist. Unmenschliche Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, Frauen- und Kinderarbeit und katastrophale Wohnverhältnisse, das waren die herausfordernden Umstände, die im Revolutionsjahr 1848 zu drei unterschiedlichen Manifesten führten: dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, dem Manifest der Inneren Mission der evangelischen Kirche, das mit dem Namen Johann Hinrich Wichern verbunden ist, und dem Mainzer Manifest der katholischen Kirche, das auf dem ersten deutschen Katholikentag vom späteren Mainzer Bischof (seit 1850) und Reichstagsabgeordneten Wilhelm Emmanuel von Ketteler entwickelt wurde. Auch wenn Ketteler in der Analyse der sozioökonomischen Situation sowie in der theoretischen Lehrentwicklung keine nachhaltigen Weichen stellte, sollte sein sozial vorbildlich Engagement als Bischof gewürdigt werden, schon um die Möglichkeit einer fruchtbaren Verbindung von Theorie und Praxis aufzuweisen.
Weil er aus „pastoraler Sorge“ (Grenner 1967: 206) um den Bestand der Kirche und um das „Seelenheil der ihm anvertrauten Menschen“ (Vigner 1924: 732) beherzt die Probleme beim Namen nennt, wird er zum „Erwecker des sozialen Gewissens“ (Höffner 1962: 5). In seiner zweiten Dompredigt am 3.12.1848 sagt er: „Man kann […] von der jetzigen Zeit nicht reden und noch weniger ihre Lage in Wahrheit erkennen, ohne immer wieder auf unsere sozialen Verhältnisse und insbesondere auf die Spaltung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, auf den Zustand unserer armen Mitbrüder, auf die Mittel, hier zu helfen, zurückzukommen.“ (Ketteler 1924b: 227 f.).
Kein anderer Kirchenvertreter seiner Zeit hat „mit solcher Eindringlichkeit und in solcher Breite die sozialen Probleme analysiert und vor das christliche Gewissen gestellt wie Bischof Ketteler“ (Höffner 1962: 20). Dabei bleibt er nicht auf akademisch-distanzierter Ebene, sondern tritt im Alltag für die Armen seiner Zeit ein, getrieben von „Epochebewußtsein, [..] pastorale[r] Sorge und [..] karitative[r] Einstellung“ (Grenner 1967: 209).
Ketteler verbindet Glauben und soziale Frage, indem er Not und Elend der Massen auf Unmoral und diese wiederum auf Unglauben zurückführt: „Der Unglaube erscheint mir als die einzige Quelle des ganzen Verderbens.“ (zit. nach Gutschera/Thierfelder 1976: 205). Dieser Unglaube entsteht für ihn aus dem sich auf allen Lebensbereichen ausbreitenden Liberalismus. Er unterscheidet jedoch sehr klar zwischen einer freiheitlichen Gesinnung, „die ebenso echt human wie christlich ist und im Christentum ihre volle Verwirklichung findet“ (Ketteler 1924c: 244) und dem christentumsfeindlichen Liberalismus, der mit seinem Materialismus und seiner mechanisch-rationalistischen Wirtschaftslehre zu „eine[r] wahre[n] Pulverisierung des Menschengeschlechts“ (Ketteler 1924c: 29) führt, da sie die personale Würde des Arbeiters verletzte, wenn sie ihn allein „als Arbeitskraft, als Maschine, als Sache“ in Betracht ziehe, die man „egoistisch ausbeutet“ (Ketteler 1924c: 152).
Gerade in der „Versachlichung“ liegt die entscheidende Differenz sowohl zur christlichen dignitas humana als auch zu Kants Forderung, den Menschen niemals bloß als Mittel zu gebrauchen. Im Zusammenhang mit der Konfrontation des wirtschaftsliberalistischen mit dem christlichen Menschenbild verweist Ketteler auf das „eherne Lohngesetz“, welches besagt, daß die Arbeiter im Rahmen eines freien Arbeitsmarkts nie mehr verdienen könnten, als gerade zum Überleben nötig sei. Dieses „eherne Lohngesetz“ übernimmt Ketteler von Ferdinand Lassalle, dem Mitbegründer des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ (1863), der ersten sozialdemokratischen Organisation in Deutschland.
Ketteler macht deutlich, „daß nur Christus und das Christentum der Welt und insbesondere dem Arbeiterstande helfen kann“ (Ketteler 1924c: 5). Der „Wohlstand der Nationen“ kommt bei Ketteler weder durch die ungehindert wirksamen Marktkräfte (Liberalismus), noch durch staatliche Maßnahmen (Sozialismus), sondern christliche Tugenden, zu denen Fleiß ebenso zählt wie Bescheidenheit als Lebensstil zwischen den Extremen „reich“ und „arm“ (Grenner 1967: 219). Ein Leben in Luxus bedeute „Empörung gegen Gott, der dem Menschen das Gebot der Arbeit gegeben hat“ (Grenner 1967: 209), wobei „nur die Arbeit [..] wahrhaft gottgefällig [ist], mit der treue Pflichterfüllung und mehr oder weniger Mühe und Anstrengung verbunden ist“ (Ketteler 1924a: 201). Er strebt – ähnlich wie Ferdinand Lassalle – „Produktiv-Assoziationen“ an, in denen die Arbeiter nicht nur einen kärglichen Lohn bekommen sollten, sondern Anteile am Unternehmensgewinn. Die Zusammenführung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, die im Wirtschaftsliberalismus streng getrennt sind, sollte jedoch nicht von Staats wegen erfolgen, sondern aus der Einsicht der christlichen Unternehmer erwachsen, nur in der Ermöglichung einer Umkehr zur ganzheitlichen Teilhabe des wieder Mensch werdenden Arbeiters ihrem Glauben gerecht zu werden.
Darin unterschied er sich von Lassalle, der eine staatliche Kapitalisierung der Assoziationen forderte, die Ketteler ablehnte, mit dem Hinweis darauf, „daß es nicht in der Befugnis der Staatsgewalt liegt, in dieser Weise und für solche Zwecke in das Recht des Privateigentums einzugreifen“ (Ketteler 1924c: 73). Diese Positionen zur Rolle des Staates und zum Eigentum markieren zugleich die Unterschiede zwischen den beiden zeitgenössischen liberalismuskritischen Alternativen Marxismus und katholische Soziallehre.
Kettelers Konzept von der „kirchliche[n] Gemeinschaft als alleinige[r] Helferin“ (Grenner 1967: 217) basierte auf der Erwartung, die freiwillige Opferbereitschaft der begüterten Christen werde die nötigen Gelder zur Gründung der Assoziationen bereitstellen. Diese Hoffnung wurde jedoch nicht erfüllt. Kettelers Enttäuschung half ihm jedoch, am Ende seines Wirkens als Bischof und Politiker realpolitische Konzepte zu vertreten, die auf Lohnsteigerungen und eine sukzessive Verbesserung der Arbeitsbedingungen gerichtet waren. Dieser Wandel wird in seinen Schriften ab 1869 deutlich, in denen er konkrete sozialpolitische Forderungen nannte: 1. Lohn- und Arbeiterschutz, 2. Arbeitszeitverkürzungen, 3. Verbot der Sonntags – und Kinderarbeit, 4. Einschränkung der Frauenarbeit, 5. Entschädigung bei zeitweiliger oder dauernder Arbeitsunfähigkeit, 6. Gesundheitskontrollen und Inspektionen in den Fabrikbetrieben und 7. Förderung gemeinnütziger Genossenschaften (vgl. Gutschera/Thierfelder 1976: 205).
Konstruktive Argumente und Konzepte zu einer wirtschaftlichen Alternative wurden in der katholischen Kirche im Gefolge Kettelers von „katholischen Einzelpersönlichkeiten“ (Grenner 1967: 139) formuliert, unter denen v. a. Heinrich Pesch herausragt, dessen Konzept des „Solidarismus“ in der nächsten Folge vorgestellt werden soll. Grenner nennt neben Pesch noch Peter Franz Reichensperger (1810–1892), der sich ebenso wie List für Schutzzölle einsetzte, und Franz Hitze (1851–1921), der das freiwillige Eingehen sozialistischer Assoziationen zur Überwindung von Egoismus und Konkurrenz proklamiert und damit eine Art „christlichen Sozialismus“ entwickelte.
Solidarismus. Heinrich Pesch (1854–1926)
Der Jesuit Pesch, den Grenner als „zurückgezogen lebenden Gelehrten“ beschreibt, dem es „in sympathischer Menschlichkeit nicht um persönliche Polemik, sondern stets um die Sache ging“ (Grenner 1967: 267), war zeitlebens auf der Suche nach einem nationalökonomischen System, „das die Extreme des manchesterlich-freiwirtschaftlichen Individualismus und des kollektivistischen Sozialismus zu vermeiden suchte, indem es auf die mitmenschliche Solidarität als Tatsache und ethische Pflicht verwies“ (Grenner 1967: 267). Ausgehend von der These, daß der Wirtschaftsliberalismus – „Smithianismus“, wie Pesch ihn nannte – versagt habe, entwickelt er in seinem Hauptwerk, dem fünfbändigen Lehrbuch der Nationalökonomie, den Gedanken des Solidarismus als „sozialphilosophisches Seinsprinzip und ethische Maxime“ (Grenner 1967: 268), die jener Unsittlichkeit entgegenstehe, welche dem Wirtschaftsliberalismus immanent sei. Die schrankenlose Konkurrenz, die Smith‘ „unsichtbare Hand“ noch zum Gemeinwohl treibt, verschlechtert in den Augen Peschs nach und nach den Maßstab der geschäftlichen Moralität und ende schließlich im faktischen Monopol der gewissenlosesten Unternehmen und dem materiellen, sozialen und moralischen Ruin der Bevölkerung (Pesch 1898 ff.: 426). Er billigt Smith zwar zu, selbst keinen solch schrankenlosen Egoismus gepredigt zu haben (in der Tat spricht Smith von einer Bindung der egoistischen Neigung an die sympathy als Neigung zum Hineinfühlen in den Anderen), wirft ihm aber vor, leichtfertig von der Annahme ausgegangen zu sein, „daß die […] dem individuellen Erwerbstrieb gesetzten Schranken für die Zwecke einer gesunden Volkswirtschaft […] ausreichen“ (Pesch 1898 ff.: 158) und kritisiert Smith‘ individualistischen Gerechtigkeitsbegriff, der zeige, daß „der schottische Moralphilosoph sich nicht zu […] wahrhaft nationalökonomischen Auffassungen emporzuschwingen [vermochte]“ (Pesch 1898 ff.: 147). Pesch faßt seinen Vorwurf dem Wirtschaftsliberalismus gegenüber zusammen mit den eindringlichen Worten: „Das Evangelium der Selbstsucht ist schuld an all diesem Elend, all diesem Unrecht […]“(Pesch 1898 ff.: 315).
Um dem konstruktiv zu begegnen, proklamiert er eine solidarische Wirtschaftsordnung, jenseits der fragmentarischen Privatwirtschaft des Liberalismus und der sozialistischen Individualwirtschaft des Staates, als „Organisation des wirtschaftlichen Lebens, wie sie in ihren Elementen zum Teil spontan sich bildet, von der staatlichen Verwaltung aber energische Förderung, von der staatlichen Rechtsordnung feste Gestalt und wirksamen Schutz verlangt“, mit dem Ziel, „eine den natürlichen und erworbenen Rechten der Einzelnen wie dem Wohle der Gesamtheit entsprechende, d. h. die gerechte und darum auch gesunde Verteilung der Güter“ zu erreichen (Pesch 1898 ff.: 190 f). Der Staat erscheint in seiner Eingriffsbefugnis subsidiär, was diese wirtschaftliche Organisation vom Sozialismus abgrenzt. Pesch hält – wie Ketteler – das Christentum in Gestalt der Kirche für den Garanten der wahren Freiheit, der vor totalitär-absolutistischem Gehabe des Staates ebenso bewahrt wie vor falschem Individualismus.
Sozialethik ex cathedra: Rerum Novarum (1891)
Am Ende des 19. Jahrhunderts steht eine offizielle katholische Soziallehre, die deutlich die Handschrift Kettelers trägt, in ihrer Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert auf das Werk Peschs zurückgeht (Pesch wirkte v. a. auf Quadragesimo Anno, 1931) und die auch im 21. Jahrhundert in wesentlichen Teilen noch Gültigkeit beansprucht.
In der Enzyklika Rerum Novarum von 1891 entwirft Papst Leo XIII. die „Magna Charta“ des sozialen Katholizismus, die den Sozialismus ablehnt, das Naturrecht auf Privateigentum unterstreicht sowie Kirche und Staat in die soziale Pflicht nimmt.
Zuvor hatten bereits Pius IX. (1864) und eben jener Leo XIII. (1878) mit antisozialistischen Verlautbarungen die Position der Kirche verdeutlicht. Der Syllabus von Pius IX. richtet sich gegen die Irrtümer der Zeit und rechnet den Sozialismus dazu, weil er sich „gegen die Familie und das Privateigentum wendet“ (Ockenfels 1992: 36), die Enzyklika Quod Apostolici muneris Leos XIII. warnt vor dem christlichen Duktus des „anarchischen, Moral und Ehe verneinenden, das Eigentumsrecht mißachtenden, radikale Gleichheit fordernden Frühsozialismus“, der die Lehre Christi für seine Zwecke bewußt fehl deute und den es wie eine „todbringende Seuche“ oder eine „Giftpflanze“ auszurotten gelte (Ockenfels 1992: 36). Leider scheint es, als habe der Kampf gegen den Sozialismus die Kräfte des Vatikan gebündelt, so daß sich die „offizielle“ katholische Kirche nur zögernd auf die soziale Frage eingelassen und sich erst sehr spät mit den Leittragenden beschäftigt hat: „Der ‚Pauperismus‘, das Massenelend der Arbeiter, existierte schon fast fünfzig Jahre, bis seine Dringlichkeit auch dem obersten Hirten bewußt war.“ (Fröhlich 1990: 215).
Die Problematik des Spagats zwischen der Analyse der bestehenden Verhältnissen und möglichen sozialistischen Heilsentwürfen, die strikt abgelehnt werden, macht Leo XIII. deutlich, wenn er zu der mit Rerum Novarum verbundenen Aufgabenstellung sagt: „Die ganze Frage ist ohne Zweifel schwierig und voller Gefahren; schwierig, weil Recht und Pflicht im gegenseitigen Verhältnis von Reichen und Besitzlosen, von denen, welche die Arbeitsmittel, und denen, welche die Arbeit liefern, abzumessen in der Tat keine geringe Aufgabe ist; und voller Gefahren, weil eine wühlerische Partei nur allzu geschickt das Urteil irreführt und Aufregung und Empörungsgeist unter den unzufriedenen Massen verbreitet.“ (KAB 1977: 31).
Die Zielsetzung Leos XIII. mit Rerum Novarum ist eine dreifach: „das Arbeiterelend beseitigen; die Konflikte in der Gesellschaft beilegen; den Kommunismus bekämpfen“ (Fröhlich 1990: 215). Das Vertrauen auf die Opferbereitschaft wohlhabender und wohlwollender Christen, wie sie Ketteler vortrug, weicht dabei sozialpolitischer Realität, d. h. der Forderung nach subsidiärer „Hilfe zur Selbsthilfe“ und strikter Gemeinwohlorientierung des Staates, wie sie bei Pesch angedacht ist. Die Situation der Arbeiter soll durch höhere Löhne verbessert werden, die er jenseits des Marktmechanismus von Arbeiterorganisationen reglementiert sehen möchte, wobei er staatliche Unterstützung dieser Organisationen nicht grundsätzlich ablehnt: „Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, daß der Lohn nicht etwa so niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft. Diese schwerwiegende Forderung ist unabhängig von dem freien Willen der Vereinbarenden. Gesetzt, der Arbeiter beugt sich aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustande zu entgehen, den allzu harten Bedingungen, die ihm nun einmal vom Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch. Damit aber in solchen Fragen wie diejenige der täglichen Arbeitszeit die verschiedenen Arbeitsarten, und diejenige der Schutzmaßregeln gegen körperliche Gefährdung, zumal in Fabriken, die öffentliche Gewalt sich nicht in ungehöriger Weise einmische, so erscheint es in Anbetracht der Verschiedenheit der zeitlichen und örtlichen Umstände durchaus ratsam, jene Fragen vor die Ausschüsse zu bringen, von denen wir unten näher handeln werden, oder einen andern Weg zur Vertretung der Interessen der Arbeiter einzuschlagen, je nach Erfordernis unter Mitwirkung und Leitung des Staates.“ (KAB 1977: 57). Dem marxistischen Klassenkampf in der gespaltenen Gesellschaft hält Leo XIII. das christliche Bild des Leibes entgegen, an dem „Kapital“ und „Arbeit“ einander bedürfende Glieder darstellen: „So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen.“ (KAB 1977: 41). Die Kirche führt beide zur natürlichen Harmonie, die entsteht, wenn – ganz im platonischen Sinne – jede Seite ihre Pflicht erfüllt. „Die Natur hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet; und so wie im menschlichen Leibe bei aller Verschiedenheit der Glieder im wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die Natur gewollt, daß im Körper der Gesellschaft jene beiden Klassen in einträchtiger Beziehung zueinander stehen und ein gewisses Gleichgewicht darstellen.“ (KAB 1977: 41). Das Eigentum schließlich wird im Rückgriff auf Thomas von Aquin als „erlaubt“ und „notwendig“ bezeichnet, wobei für die Nutzung eine Einschränkung hinsichtlich der Rücksicht auf Bedürftige gemacht wird: „Fragt man nun, wie der Gebrauch des Besitzes beschaffen sein müsse, so antwortet die Kirche mit dem nämlichen heiligen Lehrer: ‚Der Mensch muß die äußern Dinge nicht wie ein Eigentum, sondern wie gemeinsames Gut betrachten und behandeln, insofern nämlich, als er sich zur Mitteilung derselben an Notleidende leicht verstehen soll.‘ “ (KAB 1977: 44). Bezug genommen wird auf Thomas v. Aquins Summa theologica (II-II, 66, 2) und auf zahlreiche Bibelstellen, die die Pflicht des Reichen thematisieren: 1 Tim. 6, 17 („Ermahne die, die in dieser Welt reich sind, nicht überheblich zu werden und ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen.“), Lk 11, 41 („Gebt lieber, was in den Schüsseln ist, den Armen, dann ist für euch alles rein.“), Apg 20, 35 („[…] Geben ist seliger als nehmen.“) und Mt 25, 40 („Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“).
Die katholische Soziallehre und die Globalisierung
I.
Mehrfach wurde Rerum Novarum bestätigt. Vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen, inmitten der Weltwirtschaftskrise, folgt Quadragesimo Anno (1931) von Papst Pius XI. Die Enzyklika charakterisiert die Entwicklung in deutlichen und hochaktuellen Worten: „Der freie Wettbewerb hat zu seiner Selbstaufhebung geführt; an die Stelle der freien Marktwirtschaft trat die Vermachtung der Wirtschaft […] Im zwischenstaatlichen Leben aber entsprang der gleichen Quelle ein doppeltes Übel: hier ein übersteigerter Nationalismus und Imperialismus wirtschaftlicher Art, dort ein nicht minder verderblicher und verwerflicher finanzkapitalistischer Internationalismus oder Imperialismus des internationalen Finanzkapitals, das sich überall da zu Hause fühlt, wo sich ein Beutefeld auftut.“ (KAB 1977: 91 ff.). Letzteres Übel hat das erste überdauert und stellt heute das zentrale Problem im Kontext der Weltwirtschaft dar. Siebzig Jahre nach Rerum Novarum geht es in Mater et Magistra (1961) von Johannes XXIII. um das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter, insbesondere aber um die Probleme der Entwicklungsländer, die erstmals explizit Thema einer Enzyklika werden. Es geht in Mater et Magistra nicht mehr nur um das Wohl des eigenen Volkes, sondern um eine globale Perspektive auf das Armutsproblem. Seine berühmte Friedensenzyklika Pacem in Terris (1963) nimmt einige dieser Gedanken auf und betont die Bedeutung der Gerechtigkeit für den Frieden. Ergänzt wird diese Phase der Rerum Novarum-Rezeption durch die Entwicklungs-Enzyklika Populorum Progressio (1967) Pauls VI., in der die Bedingung für den Forschritt der ehemaligen Kolonialstaaten Lateinamerikas, Süd-Ost-Asiens und Afrikas dargelegt wird: die internationale Solidarität.
II.
Jener Paul VI. veröffentlichte 1971 mit Octogesima Adveniens ein sehr wirkmächtiges Apostolisches Schreiben, in dem er zu den politischen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart deutlich Position bezieht. Er vertieft darin einige Themen, die bislang in den päpstlichen Sozialenzykliken eher am Rande vorkamen. Insbesondere betont Paul VI. einen Pluralismus politischer Überzeugungen in der Kirche und gesteht den Laien eine weitgehende Autonomie beim politischen Handeln zu, beansprucht jedoch für das Lehramt, Grenzziehungen aus Gründen des Glaubens oder der Sitten vorzunehmen (so bei Themen wie Abtreibung, Völkermord, Terrorismus und Organisiertem Verbrechen). Sehr aktuell liest sich eine Zusammenstellung von Positionen aus Populorum Progressio und Octogesima Adveniens: „In unserer augenblicklichen aufgewühlten und unsicheren Zeit hat die Kirche eine besondere Botschaft zu verkünden und den Bemühungen der Menschen, die ihre Zukunft in die Hand nehmen wollen und sich zu orientieren suchen, einen festen Halt zu geben. Seit der Zeit, in der die Enzyklika Rerum Novarum in lebendiger und eindringlicher Weise die unerträgliche Situation der Arbeiter in der werdenden Industriegesellschaft aufzeigte, wurde sich die geschichtliche Entwicklung, wie die Enzykliken Quadragesimo Anno und Mater et Magistra feststellten, anderer Auswirkungen und Ausmaße in der sozialen Frage bewußt. Das letzte Konzil hat sich seinerseits dafür eingesetzt, diese Fragen zu behandeln, besonders in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes. Wir selbst haben schon durch Unsere Enzyklika Populorum Progressio auf diese richtungweisenden Normen hingewiesen: „Die große Tatsache – sagten Wir – deren sich jeder heute bewußt werden muß, besteht darin, daß die soziale Frage weltweit geworden ist“ (Populorum Progressio, Nr. 3). Ein erneutes Bewußtsein der Forderungen des Evangeliums macht es der Kirche zur Pflicht, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen behilflich zu sein, das ganze Ausmaß dieses schweren Problems zu begreifen und sie zu überzeugen, sich in diesem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte dringlich zu vereintem Handeln zusammenzuschließen (Octogesima Adveniens, Nr. 5).“
III.
Ein wirklich epochaler „Wendepunkt der Menschheitsgeschichte“ stellt der Revolutionswinter 1989/90 dar. Als am 9. November 1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor Menschen aus Ost und West tanzten und feierten, schien eine Ära mit utopischem Charakter anzubrechen, eine Zeit der Überwindung von Teilung und Trennung, eine Zeit des Friedens und der Zusammenarbeit im „globalen Dorf“ (Mc Luhan). Das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) schien nahe. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Johannes Paul II. im Jahre 1991 – zum hundersten Jahrestag der Enzyklika Rerum Novarum – die Enzyklika Centesimus Annus, in welcher der Papst die Lehre von Rerum Novarum würdigt und die Relevanz ihres Kerngedankens – Privateigentum und Marktwirtschaft in sozialer Verantwortung – für die Reformländer Osteuropas und die Entwicklungsländer des Südens betont. Immer wieder hat Johannes Paul II. hervorgehoben, daß der „Globalisierung des Profits und des Elends“ eine „Globalisierung der Solidarität“ entgegenzuhalten sei.
IV.
In unserer Zeit der neoliberalen Globalisierung, in der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, in der „Heuschrecken“ die Ernte jahrhundertelanger politischer Kulturalisierung kahl fressen, in der immer noch 2 Mrd. Menschen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, in dieser Zeit ist der Traum vom „ewigen Frieden“ durch freiheitliche Ökonomie längst geplatzt. Die Aufhebung der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges hat zwar zum Ende ideologischer Spannungen geführt, aber an ihre Stelle traten ethnische und ökonomische Auseinandersetzungen, die in ihrer Asymmetrie und Unberechenbarkeit in allen Regionen der Welt Kriege auslösten und auslösen und jederzeit neu auslösen können. Globalisierung steht heute trotz der Reformerfolge in Osteuropa, trotz der insgesamt guten wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika und Asien mehr denn je für die weltweite Ausbreitung von Armut, Terror und Krieg. Hinzu kommt die Globalität der ökologischen Risiken expandierender Wirtschaftsaktivitäten, die sich im Schlagwort des „Klimawandels“ bündeln, ein Begriff, der längst zum Gegenkonzept der Globalisierung geworden ist.
V.
Eine Ideologie wie der (Neo-)Liberalismus, der von sich behauptet, schicksalhaften, „natürlichen“ Charakter zu haben, fordert eine Gegenideologie heraus. Die radikale Gegenposition zum Liberalismus wurde einst von Marx und Engels eingenommen (Sozialismus) und dann von der katholischen Soziallehre auf der Basis idealistischer Ökonomiekritik für die bürgerliche Mitte salonfähig gemacht. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Kritik der katholischen Kirche am Wirtschaftsliberalismus von der nationalen auf die globale Ebene durchdringt, da das Motiv der Verbesserung materieller Lebensbedingungen aus einer christlichen Anthropologie und mit Referenz auf die menschliche Würde nicht gebunden ist an Nationen oder Regionen. Die aktualisierenden und globalisierenden „Erneuerungsenzykliken“ in der Tradition von Rerum Novarum zeigen dies. Und wenn die Situationsbeschreibung deutscher Städte vor 150 Jahren der Lage in den Großstädten der „Dritten Welt“ heute entspricht, dann liegt es nahe zu hoffen, mit der alternativen Wirtschaftsweise auch global die Früchte ernten zu können, die sie national durchaus schon zu tragen vermochte. Solidarität, d. h. die Zügelung des Erwerbstriebs und die Überwindung der materiellen Selbstsucht, sind auch heute die zentrale Aspekte, an denen sich eine Wirtschaftsorganisation messen lassen muß – national und global.
VI.
Abschließend ein Wort zur aktuellen Finanzkrise und der Kritik an der Kirche, die, so sind sich scheinbar fast alle einig, auch nur ein „Global Player“ ist, der beim Drehen des Kapitalkarussells seine Profite macht und dessen Mahnungen vor diesem vermeintlichen Hintergrund oft als „heuchlerisch“ bezeichnet werden. Die Medien helfen dabei kräftig mit, das Zerr-Bild einer Kirche, die Reichtum und Macht als Zwecke begreift, unreflektiert zu verbreiten. So werden Goldkäufe zur Sicherung der Finanzanlagen dankbar dafür verwendet, den Vatikan in die Nähe der Akteure des Turbokapitalismus zu stellen und ganz nebenbei die kritische Position der Kirche zur ungezügelten Finanzwelt zu diskreditieren. Motto: Wer im Glashaus sitzt… Die Kirche hat im Geist der katholischen Soziallehre immer ein sehr kritisches Auge auf kapitalistisches Finanzgebaren gehabt, soweit es dabei darum ging – und das ist der entscheidende Punkt -, Geld um des Geldes Willen zu mehren, ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Verluste, d.h. letztlich: ohne Rücksicht auf den Menschen und ohne Rücksicht auf Gott.
Papst Benedikt XVI., der schon in seiner ersten Enzyklika Deus Caritas Est (2005) bemerkenswerte Aussagen zur Ökonomie gemacht hat, sagte zur Feier des XLI. Weltfriedenstags am 1. Januar 2008 unter dem Punkt Familie, menschliche Gemeinschaft und Wirtschaft etwas sehr bemerkenswertes, indem er die Familie als Sinnbild der Menschheit heraushob und an ihr grundlegende Zusammenhänge des fruchtbaren Miteinanders erläuterte: „Eine wesentliche Voraussetzung für den Frieden in den einzelnen Familien ist, daß sie sich auf ein solides Fundament gemeinsam anerkannter geistiger und ethischer Werte stützen. Dazu ist aber ergänzend zu bemerken, daß die Familie eine echte Erfahrung von Frieden macht, wenn keinem das Nötige fehlt und das familiäre Vermögen – die Frucht der Arbeit einiger, des Sparens anderer und der aktiven Zusammenarbeit aller – gut verwaltet wird in Solidarität, ohne Unmäßigkeiten und ohne Verschwendungen. Für den familiären Frieden ist also einerseits die Öffnung auf ein transzendentes Erbe an Werten notwendig, andererseits aber ist es zugleich nicht bedeutungslos, sowohl die materiellen Güter klug zu verwalten als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen mit Umsicht zu pflegen. Eine Vernachlässigung dieses Aspektes hat zur Folge, daß aufgrund der unsicheren Aussichten, welche die Zukunft der Familie bedrohen, das gegenseitige Vertrauen Schaden nimmt. Ähnliches ist über jene andere große Familie zu sagen, welche die Menschheit im ganzen ist. Auch die Menschheitsfamilie, die heute durch das Phänomen der Globalisierung noch enger vereint ist, braucht außer einem Fundament an gemeinsam anerkannten Werten eine Wirtschaft, die wirklich den Erfordernissen eines Allgemeinwohls in weltweiten Dimensionen gerecht wird. Die Bezugnahme auf die natürliche Familie erweist sich auch unter diesem Gesichtspunkt als besonders aufschlußreich. Zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern müssen korrekte und ehrliche Beziehungen gefördert werden, die allen die Möglichkeit geben, auf einer Basis der Parität und der Gerechtigkeit zusammenzuarbeiten. Zugleich muß man sich um eine kluge Nutzung der Ressourcen und um eine gerechte Verteilung der Güter bemühen. Im besonderen müssen die den armen Ländern gewährten Hilfen den Kriterien einer gesunden wirtschaftlichen Logik entsprechen, indem Verschwendungen vermieden werden, die letztlich vor allem der Erhaltung kostspieliger bürokratischer Apparate dienen. Ebenfalls gebührend zu berücksichtigen ist der moralische Anspruch, dafür zu sorgen, daß die wirtschaftliche Organisation nicht nur den strengen Gesetzen des schnellen Profits entspricht, die sich als unmenschlich erweisen können.“
Gewinnerzielungsabsichten zu verfolgen ist dabei grundsätzlich nichts Schlechtes, wenn die Realisierung dieser Absicht unter Bedingungen christlicher Moralität erfolgt und mit ihr eine Gewinnverwendung einhergeht, die den Menschen ins Zentrum stellt, Gottes Gebote und die lex nova Christi zu unhintergehbaren Prinzipien macht und damit das Evangelium im Alltagshandeln praktiziert. Ein Beispiel dafür ist die erfolgreiche katholische „Pax Bank“, die nach eigenem Bekunden – man siehe den Internetauftritt der Bank – in dem Bewußtsein handelt, „daß Geld ein Mittel ist, das durch Menschen erarbeitet, sachkundig verwaltet und verantwortungsvoll vermehrt werden muß, das aber seine Erfüllung erst findet, wenn es in den Dienst von Zielen tritt, die über das Gewinnstreben des Einzelnen hinausgehen und dem Wohl aller dienen.“ Und hier trennen sich die Wege von kirchlichen Einrichtungen und Kapitalgesellschaften, von katholischen Geldinstituten und dem Rest, denn den Mammon für sich arbeiten zu lassen bedeutet nicht das gleiche wie dem Mammon zu dienen. Die rechte Ausführung des Auftrags Christi, sich „Freunde mit Hilfe des ungerechten Mammons“ (Lk 16, 9) zu machen, ist daher stets Kern kirchlicher Finanzwirtschaft. Das Herrenwort „Wer hat, dem wird gegeben werden; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ (Lk 19, 26) darf nicht als zynische Beschreibung der Realität angesichts des Allokationsmechanismus allzu freier Märkte mißverstanden werden, sondern steht im Kontext der Mahnung zu Fleiß und Beharrlichkeit in der Nachfolge, zu der auch die tägliche Arbeit, das effiziente Wirtschaften und das Mehren des Besitzes gehört (Lk 19, 11–27), soweit dies verbunden bleibt mit der Bereitschaft, ihn, den Besitz, um Gottes Willen aufzugeben (Mt 19, 21; Mk 10, 21; Lk 12, 33), für das Reich Gottes sogar in einer Radikalität des Lassens, das menschliche Vorstellungskraft übersteigt (Lk 18, 18–30). Den Christen sollen Effizienz und Treue im Verwalten (Mt 25, 14–30) sowie Bescheidenheit (Mt 6, 1–4) und Großherzigkeit (Lk 19, 1–10) im Verwenden leiten – das macht den Unterschied, gerade in Krisenzeiten. So erfüllt sich im seriösen und gerade deswegen erfolgreichen Wirtschaften der Kirche und ihrer Einrichtungen letztlich das, was Christus den Aposteln – und damit allen Gläubigen in Seiner Kirche – auf den Weg gab, daß sie zwar in der Welt, aber nicht von der Welt sind (Joh 15, 18–19).
Literatur
Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschlands (KAB) (1977): Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente. Kevelaer.
Fröhlich, R. (1990): Lebendige Kirchengeschichte. Die Erfahrung von 2000 Jahren. Freiburg.
Grenner, K. H. (1967): Wirtschaftsliberalismus und katholisches Denken. Ihre Begegnung und Auseinandersetzung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Köln.
Gutschera, H./Thierfelder, J. (1976): Brennpunkte der Kirchengeschichte. Paderborn.
Höffner, J. (1962): Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die katholische Sozialbewegung im 19. Jahrhundert. Wiesbaden.
Jaspers, K. (1987): Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen. München.
Ketteler, W. E. v. (1924a): Schriften, Bd. 1, hrsg. v. J. Mumbauer, Kempten/München.
Ders. (1924b): Schriften. Bd. 2, Hrsg. v. J. Mumbauer, Kempten/München.
Ders. (1924c): Schriften. Bd. 3, Hrsg. v. J. Mumbauer, Kempten/München.
Ockenfels, W. (1992): Kleine katholische Soziallehre. Eine Einführung. Trier.
Pesch, H. (1898 ff.): Liberalismus, Sozialismus und christliche Gesellschaftsordnung. Freiburg.
Stein, E. (2004): Gesamtausgabe (Bd. 14: Der Aufbau der menschlichen Person). Freiburg i. Br.
Thomas v. Aquin (1933 ff): Deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica. 36 Bde. Hrsg. v. d. Albertus-Magnus-Akademie Walberberg b. Köln, Heidelberg / München u. Graz / Wien / Salzburg.
Vigner, F. (1924): Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jahrhunderts. München/Berlin.
Wust, P. (1986): Ungewißheit und Wagnis. München.
Weitere Schriften des Autors zu wirtschaftsphilosophischen Themen
Josef Bordat (2005a): Von Verzicht und Vollbeschäftigung. Utopische Gedanken zu Wirtschaft, Gesellschaft, Konsum und Arbeit. In: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur. Sektion „Politische Philosophie“.
Josef Bordat (2005b): Erziehungsethos ohne Zeigefingermoral. Die fetten Jahre sind vorbei (2004) als globalisierungskritisches Aufklärungskino. In: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart. Jg. 6, Nr. 2.
Josef Bordat (2006a): Alte Kritik des neuen Liberalismus. Zur Aktualität der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts. In: Poligrafi. International Edition (Solidarity and Interculturality). Vol. 11, No. 41/42, Ljubljana, S. 151–170.
Josef Bordat (2006b): Globalisierung. Versuch einer Annäherung. In: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart. Jg. 7, Nr. 1.
Josef Bordat (2006c): Jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik. Der Berliner Philosoph Hans Poser hat den Begriff der Technodizee entwickelt. In: Scheinschlag. Berliner Stadtzeitung. Jg. 17, Nr. 10, Berlin, S. 14.
Josef Bordat (2006d): Gerechtigkeit und Wohlwollen. Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas. Aachen: Shaker 2006.
Josef Bordat (2007a): Biopiracy. The undesirable effects of intellectual property rights. In: Ohmy News International.
Josef Bordat (2007b): Wirtschaftsliberalismus. Grundlagen – Entwicklung – Probleme – Alternativen. In: Die Neue Lese-Homepage. Newsfeeds, Texte und mehr.
Josef Bordat (2008): Verzicht und Vollbeschäftigung. Der Faktor Zeit als Schlüssel zu einer alternativen Wirtschaftsweise. In: Le Temps (in) saisissable? Actes du 2à¨me colloque transfrontalier des jeunes chercheurs en Sciences Humaines et Sociales de l’Université Marc Bloch de Strasbourg. Straßburg, S. 43–49.