von Michaela Koller
»Trotz des zunehmenden Fundamentalismus auf muslimischer Seite gibt es im Tur Abdin eine Aufbruchstimmung«, sagte Professor Hans Hollerweger von der Initiative Christlicher Orient in Linz auf Nachfrage anläßlich des Papstbesuchs in der Türkei. Der emeritierte Liturgiewissenschaftler ist einer der Top-Experten, die sich mit dieser Hochlandregion in Südostanatolien beschäftigen, dem Kernland syrischer Christen in der Türkei. »Das Dorf Kafro, das leer war, ist heute wieder besiedelt, nicht nur mit alten Menschen, sondern mit jungen Leuten.« Seit einem Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit im Juni 2001, das sich an die Christen aus jener Region richtete und Rückkehrinitiativen anregte, sind Einige wieder heimgekommen in ihre Dörfer. Ihre Situation dort sei vor kurzem schon mal besser gewesen, jetzt komme es aber wieder zu Übergriffen durch kurdische Nachbarn, stellte Hollerweger fest. Diese seien nicht wie früher, während der Kämpfe zwischen PKK und türkischem Militär politisch motiviert. Das Problem liege vielmehr in den ungeklärten Eigentumsverhältnissen. »Nachdem auch das Dorf Sare wieder besiedelt worden ist, haben die Kurden bald deren Felder angezündet. Im Vorjahr und heuer wurde die Ernte so vernichtet«, sagte Hollerweger.
Schwierige Vergangenheit
Unter allen Christen in der Türkei hatten es die Christen in diesem Gebiet in der Vergangenheit besonders schwer. Von 1984 an bis Mitte der neunziger Jahre befand sich das Gebiet im Ausnahmezustand. Die Christen wurden dort bei den Kämpfen zwischen Türken und Kurden aufgerieben. Auf der einen Seite verdächtigte sie die Armee in einigen Fällen der Kollaboration mit den kurdischen Terroristen. Die christliche Minderheit verhielt sich jedoch grundsätzlich neutral. Nur zwang die Armee einzelne christliche junge Männer zum Dienst an der Waffe. Auf der anderen Seite wollte die PKK die Christen dazu bringen, auf ihrer Seite den türkischen Staat zu bekämpfen. Die terroristische Organisation erpreßte sie um Schutzgelder, mitunter auch um Nahrungsmittel und sogar Waffen für die Versorgung der Kämpfer. Einige wurden ermordet, weil sie nicht nachgaben. Religiöse Motive spielten bei den Überfällen wohl auch eine Rolle: Obwohl die PKK sonst Religion und Politik voneinander trennte, bezeichnete sie, wie auch die türkische Armee, die Christen als »Ungläubige« oder »Unreine«. Aus religiösen Gründen verfolgte sie aber erst recht die HesbAllah seit den neunziger Jahren, die selbsternannte Partei Gottes. Ihr Ziel ist es, den Südosten der Türkei von »Ungläubigen« zu »reinigen«. Viele hielten den Druck nicht mehr aus und zogen ab Mitte der achtziger Jahre fort. Sie folgten Verwandten und Nachbarn nach Europa, die hier schon seit Mitte der sechziger Jahre als Gastarbeiter kamen. Im Jahr 1965 lebten im Tur Abdin noch 25.000 syrische Christen, zur Jahrtausendwende waren es nur noch 2.000 bis 3.000, je nach Schätzung. Die Auswanderer haben so viele Nachkommen, das manche Quellen sechsstellige Zahlen nennen. In Deutschland ist wegen der hohen Zuwandererzahl aus jedem Teil Asiens schon ein syrisch-orthodoxer Bischof im westfälischen Warburg eingesetzt worden.
Vielfalt der Konfessionen
Die meisten Christen in Südostanatolien sind syrisch-orthodox. Ihre Kirche hat sich im fünften Jahrhundert von der Byzantinischen abgespalten. Die syrisch-orthodoxe Kirche erstreckte sich einst bis nach Indien und China. Viele Völker bekannten sich zu dieser Konfession. Die Angehörigen der verschiedenen syrischen Konfessionen bezeichnen sich vielfach als assyrische Christen. Sie betrachten sich nicht als übernationale Religionsgemeinschaft, sondern als Volksgruppe. Dieses Selbstverständnis hat auch eine politische Dimension: Die assyrischen Christen fordern nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch Volksgruppenrechte. Die Christen in Südostanatolien sprechen zudem nicht Türkisch, sondern Aramäisch, einen syrischen Dialekt. Diese Tatsache legitimiert die Forderung, sie als Minderheit zu schützen. Die Christen, die sich als assyrisch bezeichnen, sehen sich seit Beginn einer nationalen Renaissance-Bewegung im 19. Jahrhundert als Nachfahren der Assyrer aus dem alten Mesopotamien.
Geteiltes Leid
Alle christlichen Konfessionen haben einen relativ schwachen rechtlichen und einen schwierigen gesellschaftlichen Status. Sie sind keine Körperschaften, die rechtlich als Einheit auftreten können. Die rechtliche Situation ergibt sich aus der türkischen Verfassung, die nationale und kulturelle Homogenität vorschreibt. Demnach steht das »kemalistische Nationenkonzept« dem »ethnischen und kulturellen Anderssein« rechtlich und faktisch ablehnend gegenüber. Das heißt im Klartext, dass jeder türkische Staatsbürger als Türke angesehen wird, egal, ob er sich eigentlich als Kurde, Armenier oder Assyrer versteht und egal, ob er überhaupt die türkische Sprache spricht. Die türkische Verfassung kennt keine Minderheiten. Jedoch sieht der Lausanner Vertrag von 1923, den die Türkei ein Jahr nach dem türkisch-griechischen Krieg unterzeichnet hat, drei Minderheiten vor: Armenier, Griechen und Juden. Aus diesem Grund haben diese drei Gruppen im Land besondere Rechte. So dürfen sie etwa eigene Schulen unterhalten oder ihr Oberhaupt selbst bestimmen. Im Alltag erfahren sie jedoch entgegen des Vertrages oft Einmischung durch die Behörden.
Eingeschränkte Religionsfreiheit
Aus dem engen Staatsnationenbegriff ergeben sich für die Christen in der Türkei bisweilen erhebliche Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit. Der Neubau von Kirchen steht unter Strafe. Seit der osmanischen Zeit dürfen generell Kirchen nur mit einer besonderen Genehmigung renoviert werden, selbst nach Anschlägen. So sind die bestehenden Kirchen häufig vom Zerfall bedroht. Es kommt immer wieder vor, daß Kirchen und christliche Friedhöfe vom Staat konfisziert werden. Sie werden zu Märkten oder Freizeiteinrichtungen wie Kinos und Billardhallen umgebaut. Seit zehn Jahren etwa erfährt die Öffentlichkeit regelmäßig von Übergriffen auf kirchliche Einrichtungen in der gesamten Türkei. Der Sitz des Ökumenischen Patriarchen, der Phanar, ist in der Vergangenheit mehrfach zum Ziel von Anschlägen geworden. Der Tur Abdin stellt da inzwischen eine Ausnahme dar. »Dort werden alte Kirchen renoviert, selbst in Dörfern, in denen keine Christen mehr leben«, sagte Professor Hollerweger. Dies hängt eng mit dem Appell zur Rückkehr in diesen entvölkerten Teil des Landes zusammen.
Die Weitergabe des christlichen Glaubens ist im allgemeinen auch eingeschränkt. Von den religiösen Minderheiten dürfen nur Armenier, Griechen und Juden ihre Religion in eigenen privaten Schulen an ihre Nachfahren weitergeben. Den syrisch-orthodoxen Christen, den mit Rom unierten chaldäischen Christen, den syrischen Katholiken und den syrisch-evangelischen Gemeinden bleiben eigene Schulen gesetzlich versagt. Die syrischen Christen dürfen die aramäische Sprache nicht in den staatlichen Schulen gebrauchen und durften lange keine Bücher oder Zeitschriften publizieren. Erst seit vorigem Jahr gibt das Kloster Deir-es-Safaran im Tur Abdin eine Zeitschrift in türkischer und syrischer Sprache, der Liturgiesprache, heraus. Da sie ja keine eigenen privaten Schulen führen dürfen, blieb ihnen bisher nur der Religionsunterricht in zwei Klöstern in Südostanatolien: außer im erwähnten Kloster Deir-es-Safaran noch im Kloster Mar Gabriel, das ebenfalls im Tur Abdin liegt, was übersetzt »Berg der Gottesknechte« heißt.
Wichtige Rolle der Klöster
Die Klöster sind die beiden letzten Stätten, an denen die Christen die syrische Kirchensprache lernen können. Beide Einrichtungen bestehen seit dem vierten Jahrhundert und werden von etwa einem Dutzend Mönche und Nonnen aufrechterhalten. Sie unterhalten beide auch Internate. Der Religionsunterricht in der aramäischen Sprache sowie die Unterweisung von Priesteramtskandidaten ist offiziell verboten. »Die Behörden sehen aber darüber hinweg«, weiß Professor Hollerweger zu berichten. Die Geistlichen boten zudem in der Vergangenheit Christen aus der Umgebung, die Morddrohungen erhielten, Unterschlupf in ihrem Kloster. Zeitweilig war der Gästebetrieb verboten und die Verfolgten konnten selbst zusehen, wo sie blieben. Aber auch in Deir-es-Safaran ist die Hoffnung inzwischen zurückgekehrt: Am 10. Dezember kommt der syrisch-orthodoxe Patriarch Ignatius Zakka I. von Antiochien aus Damaskus ins Kloster um den Priester Melki Ürek zum Bischof zu weihen.