Spätestens seit Thomas Morus im Jahr 1516 sein Buch mit dem programmatischen Titel „Utopia“ veröffentlichte, hat die Faszination des utopischen Denkens nicht abgenommen. Was jedoch Thomas Morus noch aus einer tiefen christlichen Grundüberzeugung formulierte – der Traum von einer besseren Welt – ist seitdem vielfach pervertiert worden. So hängen heute Utopie und Dystopie unmittelbar zusammen. Konkrete Beispiele kommen jedem Menschen, der mit wachem Verstand seine Umwelt betrachtet, sofort in den Sinn: Transhumanismus, Great Reset, ökologische und ökonomische Sozialvisionen, Gender-Ideologie und der Traum vom neuen Menschen, der sich selbst zum Gott erhebt und perfektioniert. Der große Unterschied zu den utopischen Träumen eines Thomas Morus besteht darin, daß es sich hierbei nicht um philosophische Gedankenspiele handelt. Es geht vielmehr um konkrete soziale und politische Realitäten, die rasant an Bedeutung gewinnen und deren geisteswissenschaftliche Grundlagen oftmals gar nicht thematisiert werden.
Vor diesem Umstand ist es notwendig, sich an Denker zu erinnern, die das utopische Denken in seinem Facettenreichtum einer Grundsatzkritik unterzogen haben. Zu ihnen zählt der ungarisch-amerikanische Denker Thomas Molnar, der im Jahr 2021 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Aus diesem Anlass haben Jan Bentz und Jochen Prinz einen Sammelband herausgegeben, der 2022 im Patrimonium-Verlag erschienen ist. Darin schaffen acht Wissenschaftler aus sechs Ländern einen Zugang aus verschiedenen Disziplinen zum Denken Thomas Molnars.
Molnar gilt im wissenschaftlichen Diskurs oftmals als „ungehört“. Gerade deshalb kann sein Denken aber als besonders vielversprechend charakterisiert werden. Die Publikation von Jan Bentz und Jochen Prinz kann daher als besonders hilfreich betrachtet werden: Das Buch bietet einen hervorragenden Zugang für Leser, die gar nicht oder wenig mit Molnars Gedanken vertraut sind. Dies ist unter anderem einer sehr verständlichen Einführung in seine Gedanken durch Charles Ducey zu verdanken, die gleichsam den Aufschlag für die weiteren Gedanken macht. Schon in dieser Einführung wird einerseits die Bandbreite des Werkes Molnars nachvollziehbar, aber auch die inhaltlichen zentralen Aspekte seiner Utopie-Kritik werden verständlich nachgezeichnet. So tritt Molnar schon in der Einführung als ein profilierter Denker des modernen Konservatismus hervor, welcher sich einem enthemmten Liberalismus ebenso entgegenstellt wie einem statischen und regressiven Faschismus. Dem Leser wird deutlich vor Augen geführt, daß Molnars Denken gesättigt ist von der klassischen katholischen Denkweise, die nicht von Utopien, sondern von einer konkret existierenden Realität und einer – durch den Sündenfall stets gebrochenen – Natur des Menschen ausgeht. Gleichzeitig wird aber auch verstehbar, daß Molnar nicht einfach als ein „katholischer“ Denker bezeichnet werden kann, da er nicht müde wurde, die Gefahren beim Namen zu nennen, denen sich die katholische Theologie und Liturgie seit dem II. Vaticanum ausgesetzt sehen.
Gerade für den religiös und theologisch interessierten Leser bietet das Buch zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte an das Denken Molnars. Als besonders relevant für diesen Themenkreis ist der Aufsatz des Mitherausgebers Jan Bentz zu nennen, der die metaphysischen Grundlagen der Utopie-Kritik Molnars herausarbeitet. Dadurch wird nachvollziehbar, daß utopisches Denken einerseits Teil der conditio humana ist, jedoch etwa seit den Vorstellungen eines Joachim von Fiore den zentralen Bezugspunkt nicht mehr in einer besseren Vergangenheit, sondern in einer angestrebten perfektionierten Zukunft sucht. Diese Umkehr der Denkrichtung ist dem Umstand geschuldet, daß das Leben und die Welt nicht mehr als eine in Dankbarkeit anzunehmende Gabe angesehen werden. Vielmehr tritt dem Menschen und der Welt anstelle eines guten und personalen Schöpfers ein nebulöses Nichts entgegen. Konsequenterweise kann dies nur zu einer Ablehnung des Seins und des Lebens führen, so daß sich der Mensch schließlich selbst zu seinem Schöpfer und Erlöser machen muß – was sich in dystopischen Sozialvisionen wie etwa dem Transhumanismus oder der Gender-Ideologie heute besonders aggressiv Bahn bricht.
Wie sehr Utopie und Dystopie zusammenhängen, wird auch im Aufsatz des Mitherausgebers Jochen Prinz ersichtlich, der das Denken Molnars kritisch in Beziehung zu aktuell vorherrschenden Denkmustern in der politischen Landschaft Europas setzt, etwa wenn aus den technozentrischen und maschinenfixierten Ideen des politischen Mainstreams der in letzter Konsequenz zu Ende gedachte Utilitarismus spricht, der auch vor der Wissenschaft und den Künsten, die um ihrer selbst willen betrieben werden, keinen Halt mehr macht und sie dem Rechtfertigungsdruck der Nützlichkeit aussetzt.
Jedoch werden von dem Buch auch Leser angesprochen, die weniger an theologischen und religionsphilosophischen Fragestellungen interessiert sind und sich stattdessen eher mit den konkreten Auswirkungen und Gefahren utopischen Denkens in der Politik und der Ökonomie beschäftigen wollen. Diese Leser kommen etwa in den Aufsätzen von Guillaume de Thieulloy („Thomas Molnar und die Gegenrevolution“) und von Zoltán Petö („Der Markt als Gesellschaftsmodell – Thomas Molnars Kritik an der liberalen Hegemonie“) auf ihre Kosten.
Abschließend kann gesagt werden, daß der schmale Band (158 Seiten) das hält, was die Herausgeber im Vorwort versprechen, nämlich eine Tour d’horizon durch das Denken eines vermeintlich ungehörten, aber gerade deshalb umso aktuelleren Intellektuellen zu sein. In einer Zeit, in der Utopien jedweder Couleur den Kampf um die Natur des Menschen aufgenommen haben, ist dieses Buch daher eine unbedingte Leseempfehlung an alle, die sich gedanklich für diesen Kampf rüsten möchten und so – bereichert durch die Gedanken Molnars – einen Beitrag zur Verteidigung der Freiheit und der menschlichen Natur leisten möchten.
Jan Bentz, Jochen Prinz (Hrsg.): Einer, der nicht nach Utopia wollte: Thomas Molnar zum 100. Geburtstag, Patrimonium-Verlag 2022, 162 Seiten, 25 Euro