
(Rom) Kurienerzbischof Vincenzo Paglia ist der Überzeugung, daß „sehr wenige“ der Kritiker des umstrittenen Apostolischen Schreibens Amoris laetitia überhaupt gelesen haben. Seine Pfeile zielen aber noch weit tiefer.

Msgr. Paglia gehört der Gemeinschaft von Sant’Egidio an. Er war bereits „Familienminister“ des Heiligen Stuhls und ist seit Auflösung des Päpstlichen Familienrates Großkanzler des neu ausgerichteten Päpstlichen Theologischen Instituts Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften (vormals Päpstliches Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie) und Vorsitzender der ebenfalls umgebauten Päpstlichen Akademie für das Leben. Seine Ernennung zum „Lebensschutzminister“ des Vatikans, wurde von der internationalen Lebensrechtsbewegung nicht als besonders vertrauensbildende Maßnahme wahrgenommen.
Er gehört nicht zum engsten Vertrautenkreis von Papst Franziskus, dafür aber zu seinen eifrigen Parteigängern.
Vor kurzem hielt sich Msgr. Paglia in Mexiko auf, wo er der mehrsprachigen Nachrichtenplattform Aleteia ein Interview gab, das gestern unter dem Titel „Paglia über Amoris laetitia: ‚Die Kirche muß eine Mutter sein, nicht ein Gericht‘“ veröffentlicht wurde.
Kritiker und Medien sind schuld
Gleich die erste Frage des Interviewers Jaime Septién lautete:
Aleteia: Warum hat Amoris laetitia so viele Kontroversen ausgelöst? Werden jene, die es attackieren, gelesen haben?
Msgr. Paglia: Ich glaube, daß es nur wenige gelesen haben werden, aber viele haben heftig darauf reagiert, vor allem gegen das achte Kapitel. Die Presse hat die Kommunion für die Geschiedenen als ein Hauptelement des Schreibens dargestellt. Das ist aber nicht das vorrangige Thema.
Papst Franziskus wollte die Aufmerksamkeit der Kirche auf das Thema der Familie lenken. Worüber er sich Sorgen machte, war nicht, eine neue Definition der Familie zu entwickeln, sondern sich der realen Situation der Familien in der Welt zu stellen und wie ihnen geholfen werden kann, besser zu leben, besonders jenen, sie sich in größeren Schwierigkeiten befinden. Die Kirche muß eine Mutter sein, nicht ein Gericht.
Die Kirche hat verstanden, daß sie auf der Seite der Familien stehen muß, um ihnen zu helfen, nicht um über sie zu urteilen und noch weniger, um sie zu verurteilen.
In diesem Sinn ist Amoris laetitia ein Text voller Sympathien für die Familie, von großer Sympathie für alles, was den Geschmack von „Familie“ hat, auch wenn es in ihnen sehr problematische Situationen gibt.
Papst Franziskus sagt: „Helfen wir ihnen, verurteilen wir sie nicht“. Warum? Weil die Familie das Herz der Kirche und der Gesellschaft ist. Sie zu zerstören oder nicht auf die Familie zu achten, heißt, nicht auf die Zukunft und die christliche Gemeinschaft und die Gesellschaft selbst zu achten.
Die Medien und die Absicht von Amoris laetitia
Bemerkenswert an der Aussage ist vor allem die Schuldzuweisung an die Medien. Diese hätten in der Berichtserstattung über Amoris laetitia eine falsche Akzentsetzung vorgenommen und dadurch die Konflikte provoziert. Nun sind es aber gerade Papst Franziskus und die Bergoglianer, die einen sehr guten Draht zu den Medien haben. Eine falsche, vom Heiligen Stuhl nicht gewollte Akzentsetzung ist daher auszuschließen. Gegen Paglias Auslegung spricht auch die Gesamtausrichtung, mit der Papst Franziskus im Sommer 2013 die Familiensynoden einberief, und noch deutlicher die Akzentsetzung von Kardinal Walter Kasper in seiner Rede vor dem Kardinalskonsistorium am 20. Februar 2014. Mit dieser Rede war er von Papst Franziskus beauftragt worden.

Die einzige, wirkliche Neuerung, die mit Amoris laetitia eingeführt wurde, betrifft die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten, und damit die Anerkennung – in welchem Grad auch immer – von Scheidung und Ehebruch durch die Kirche. Der Heilige Stuhl bedient sich derselben Medien, die Msgr. Paglia im Aleteia-Interview kritisiert, um diese Neuerung, die Grund des Widerspruchs und der Kontroversen ist, bekanntzumachen und durchzusetzen. Papst Franziskus, und nicht „die Medien“, bezeichnete die Richtlinien zur Umsetzung des umstrittenen achten Kapitels durch die Bischöfe der Kirchenprovinz Buenos Aires, der Heimatprovinz von Papst Franziskus, als einzig richtige Interpretation: „Es gibt keine andere“.
Franziskus war es, und nicht „die Medien“, der Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin beauftragte, die Richtlinien von Buenos Aires und das päpstliche Lob dafür, in den Acta Apostolicae Sedis zu veröffentlichen, und sie damit zu einem Teil des „authentischen Lehramtes“ zu machen.
Der Ablenkungsversuch, den Paglia im Aleteia-Interview unternimmt, liegt auf einer Linie mit dem von Papst Franziskus als dem eigentlichen Regisseur hinter der ganzen Angelegenheit vorgegebenen Kurs, und an diesem Kurs haftet in Summe wie in den Details eine gehörige Portion Unehrlichkeit (siehe auch die Enthüllung von Erzbischof Bruno Forte).
So wirkt auch Paglias Antwort auf die Frage von Jaime Septién unehrlich und ironisch. Ironisch wirkt die rein subjektive, aber im Brustton der Gewißheit („ich glaube“) vorgetragene Behauptung, nur „sehr wenige“ der Kritiker von Amoris laetitia, hätten das Dokument überhaupt gelesen. Offensichtlicher scheint, daß Paglia vielmehr die Kritik an Amoris laetitia nicht gelesen hat, nicht einmal die Dubia mehrerer Kardinäle, sonst wüßte er das Gegenteil.
Hat der Autor Amoris laetitia gelesen?
Im April 2016 stand vielmehr eine ganz andere Frage im Raum.

Am 8. April hatte Kardinal Christoph Schönborn in Rom das seit Monaten mit größter Spannung und einigen Befürchtungen erwartete Schreiben Amoris laetitia der Öffentlichkeit vorgestellt.
Am 16. April 2016, eine gute Woche später, wurde Papst Franziskus auf dem Rückflug von der Insel Lesbos auch zu Amoris laetitia, dem damals meistdiskutierten Thema befragt. Die offizielle Wiedergabe dieses Teils der fliegenden Pressekonferenz, wie sie vom Vatikan veröffentlicht wurde:
(Francis Rocca, Wall Street Journal)
Danke, Heiliger Vater! Ich sehe, dass die Fragen zur Einwanderung, die ich mir überlegt hatte, bereits gestellt worden sind, und Sie haben sehr gut geantwortet. Wenn Sie mir also erlauben, würde ich gerne eine Frage zu einem anderen Ereignis der letzten Tage stellen, nämlich zum Apostolischen Schreiben. Wie Sie gut wissen, hat es nach der Veröffentlichung um einen der zahlreichen Punkte – ich weiß, wir haben uns sehr darauf konzentriert – viel Diskussion gegeben: Einige behaupten, es habe sich in Bezug auf die Disziplin, die den Zugang der wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten regelt, nichts geändert und das Gesetz und die pastorale Praxis und natürlich die Lehre blieben so bestehen; andere behaupten hingegen, es habe sich viel geändert und es gebe viele neue Öffnungen und Möglichkeiten. Die Frage ist nun für eine Person, einen Katholiken, der wissen möchte: Gibt es neue konkrete Möglichkeiten, die vor der Veröffentlichung des Schreibens nicht bestanden, oder gibt es sie nicht?
(Papst Franziskus)
Ich könnte sagen: „Ja“ und nichts weiter. Aber das wäre eine zu enge Antwort. Ich empfehle Ihnen allen, die Präsentation zu lesen, die Kardinal Schönborn gehalten hat, der ein großer Theologe ist. Er ist Mitglied der Kongregation für die Glaubenslehre und kennt die Lehre der Kirche gut. In jener Präsentation wird Ihre Frage ihre Antwort finden. Danke.
(Jean-Marie Guénois, Le Figaro)
Ich hatte dieselbe Frage, aber es ist eine ergänzende Frage, denn man hat nicht verstanden, warum Sie diese berühmte Anmerkung in Amoris laetitia über die Probleme der wiederverheirateten Geschiedenen – die Anmerkung 351 – geschrieben haben. Warum etwas so Wichtiges in einer kleinen Anmerkung? Haben Sie Oppositionen vorausgesehen, oder wollten Sie sagen, dass dieser Punkt nicht so wichtig ist?
(Papst Franziskus)
Hören Sie, einer der letzten Päpste hat in einem Gespräch über das Konzil gesagt, dass es zwei Konzile gegeben hat: das Vatikanum II, das in der Petersbasilika stattfand, und das andere, das „Konzil der Medien“. Als ich die erste Synode einberief, war das große Kopfzerbrechen der Mehrheit der Medien: Werden die wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion empfangen können? Und da ich nicht heilig bin, hat mir das ein bisschen Verdruss bereitet und mich auch ein bisschen traurig gemacht. Denn ich denke: Aber merkt denn dieses Kommunikationsmittel, welches das und das und das sagt, nicht, dass dies nicht das wichtige Problem ist? Merkt es nicht, dass die Familie in aller Welt in einer Krise ist? Und die Familie ist die Basis der Gesellschaft! Merkt es nicht, dass die jungen Menschen nicht heiraten wollen? Merkt es nicht, dass der Geburtenrückgang in Europa zum Weinen ist? Merkt es nicht, dass der Arbeitsmangel und die Arbeitsmöglichkeiten dazu führen, dass der Vater und die Mutter beide zur Arbeit gehen und die Kinder alleine aufwachsen, ohne zu lernen, in einem Dialog mit dem Vater und der Mutter zu reifen? Das sind die großen Probleme! Ich erinnere mich nicht an diese Anmerkung, aber wenn so etwas in der Anmerkung steht, dann sicher, weil es in Evangelii gaudium gesagt wurde. Sicher! Es muss ein Zitat aus Evangelii gaudium sein. Ich erinnere mich nicht an die Nummer, aber es ist sicher.
Was antwortete Papst Franziskus damals? Das Ganze noch einmal:
„Ich erinnere mich nicht an diese Anmerkung, aber wenn so etwas in der Anmerkung steht, dann sicher, weil es in Evangelii gaudium gesagt wurde. Sicher! Es muss ein Zitat aus Evangelii gaudium sein. Ich erinnere mich nicht an die Nummer, aber es ist sicher.“
Die Fußnote 351 ist der umstrittenste Teil von Amoris laetitia, darum dreht sich alles: die Fragebögen vor den Familiensynoden, die Kasper-Rede von 2014, die Familiensynoden 2014 und 2015, die verschiedenen Synodenberichte und Amoris laetitia selbst, und der Papst, der Autor des Schreibens, konnte sich acht Tage nach der Präsentation des Schreibens nicht daran „erinnern“?
Die Frage lautete deshalb damals: Hat der Autor von Amoris laetitia, Papst Franziskus, das Dokument selbst gar nicht gelesen?
Was geschah an dieser Stelle im Flugzeug? Der damalige Vatikansprecher, Federico Lombardi SJ, würgte die Pressekonferenz abrupt ab:
(Pater Lombardi)
Danke, Heiligkeit, Sie haben uns ein ausführliches Gespräch über Themen dieser Reise gewährt und es hat sich jetzt sogar auf das Apostolische Schreiben ausgeweitet. Wir wünschen Ihnen eine gute Reise und eine gute Fortsetzung Ihrer Arbeit.
(Papst Franziskus)
Danke für Ihre Begleitung. Wirklich, ich fühle mich sicher mit Ihnen. Vielen Dank! Danke für die Begleitung.
Fehlende Ehrlichkeit
Die Unehrlichkeit, die von Papst Franziskus und seinen Adlaten in der ganzen Angelegenheit an den Tag gelegt wurde, läßt sich am Beispiel Paglia leicht nachweisen. Beispiele gäbe es viele, doch soll nur das jüngste herangezogen werden, weil es in direkten Zusammenhang mit dem Aleteia-Interview gebracht werden kann.

Msgr. Paglia befand sich vom 13.–18. März in Mexiko, um erstmals in seiner Funktion als Großkanzler, die er seit anderthalb Jahren ausübt, die dortige Niederlassung des Päpstlichen Theologischen Instituts Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften zu besuchen.
Paglia hielt in Mexiko am 17. März im Rahmen einer Tagung über Amoris laetitia einen Vortrag[1]Organisiert wurde die Tagung vom CISAV – Centro de Investigación Social Avanzada. Investigación y educación en Filosofía, Bioética, Género, Familia y Ciencias Sociales in Querétaro., der auf der Internetseite der Päpstlichen Akademie für das Leben veröffentlicht wurde. Worüber sprach der Kurienerzbischof in Mexiko also zum Apostolischen Schreiben, bei dem – laut seiner Aussage – die Medien eine falsche Akzentsetzung verantwortlich seien? Setzte er die „richtigen“ Akzente, jene von Franziskus beabsichtigten Schwerpunkte, die nichts mit dem achten Kapitel zu tun hätten? Nein, nichts dergleichen. Er sprach über „Das Achte Kapitel: Gradualität und pastorale Unterscheidung in Amoris laetitia“.
Im Text findet sich kein Wort von einer nicht gewollten Akzentsetzung, die lediglich von den Medien erzwungen sei. Ganz im Gegenteil.
Der Angriff auf Kardinal Ratzinger und Familiaris consortio
Vielmehr findet sich darin auf Seite 6 ein Angriff gegen Benedikt XVI., als er noch Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation war. Dabei geht es darum, daß wiederverheiratete Geschiedene, weil sie im ständigen Zustand einer schweren Sünde leben, von bestimmten Aufgaben in der Kirche nicht ausüben dürfen (Patenschaft, Lektorendienst, außerordentliche Kommunionspendung, Religionslehrer, Katechisten zur Vorbereitung auf die Erstkommunion und die Firmung, Mitgliedschaft im Pfarrgemeinderat). „Erst“ Kardinal Ratzinger habe diesen Ausschluß verankert, so Paglia tadelnd. Der eigentliche Angriff gegen den damaligen Glaubenspräfekten gilt aber Papst Johannes Paul II. und der Nummer 84 des Apostolischen Schreibens Familiaris consortio. Dort schärfte der polnische Papst im Anschluß an die von ihm gewollte Familiensynode von 1980 ein, daß wiederverheiratete Geschiedene, die aus triftigen Gründen (Kindererziehung) sich nicht trennen könnten, keusch wie Bruder und Schwester zusammenleben sollen, wenn sie zu den Sakramenten zugelassen werden wollen.
Manche Kritiker sprechen davon, daß Amoris laetitia und die Doppel-Synode über die Familie überhaupt nur einen Zweck hatte: diese Antwort der Kirche von 1981 zu annullieren.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Twitter/Cisav/PAV/Vatican.va (Screenshots)
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↑1 | Organisiert wurde die Tagung vom CISAV – Centro de Investigación Social Avanzada. Investigación y educación en Filosofía, Bioética, Género, Familia y Ciencias Sociales in Querétaro. |
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Mir ist noch etwas anderes aufgefallen. Francis Rocca vom Wall Street Journal entfleucht doch tatsächlich ein Werturteil über Aussagen des Papstes: „… Sie haben sehr gut geantwortet.“ Ist dies nur eine unhöfliche Anmaßung eines Reporters oder ist es sogar ganz selbstverständlich maßgeblich, wie das Wall Street Journal sogar Papstaussagen beurteilt?