
(Rom) „Der Erfolg der Kundgebung „Verteidigen wir unsere Kinder“ am 20. Juni gegen die Gender-Ideologie war so enorm, fast das Medienecho zur Enzyklika Laudato Si von Papst Franziskus in den Schatten zu stellen, die zwei Tage zuvor im Vatikan vorgestellt worden ist“, so der Historiker Roberto de Mattei. Eine Million Menschen war zusammengeströmt und harrte trotz strömenden Regens aus. Der linke Soziologe Marco Marzano von der Universität Bergamo sprach sogar von einer „Herausforderung zwischen zwei Kirchen“. Die erste „applaudierte mit nachdrücklicher standing ovation der Enzyklika des Papstes, die sozialen und ökologischen Themen gewidmet ist“; die zweite „ging in Rom auf die Straße, um die traditionelle Familie zu verteidigen und Zugeständnissen an homosexuelle Paare eine Absage zu erteilen“.
Zorn, Verblüffung, Irritation der politischen Linken und progressistischer Kirchenkreise
Laut Marzano, der schon vor Jahren den Abgesang auf die katholische Kirche anstimmte, ist die erste der beiden von ihm gegenübergestellten „Kirchen“ die „progressistische oder konziliare Kirche“, die „endlich wieder ihr Haupt erheben kann dank eines Papstes, der viele Themen und Sensibilitäten in den Mittelpunkt seiner Reden stellt, die einst den katholischen Progressismus kennzeichneten“. Laut Marzano sei die Richtung, die Franziskus eingeschlagen habe „so stark, daß der Papst heute faktisch die am meisten gehörte Stimme der Linken weltweit ist“.
Die zweite von Marzano dargestellte Kirche ist jene, die sich am Samstag auf der Piazza San Giovanni vor der Lateranbasilika versammelt hat. Eine Million Menschen, die von der linken Tageszeitung Il Fatto Quotidiano als „die bigotte Rechte“ beschimpft wird. Alberto Melloni, der Leiter der progressistischen Schule von Bologna schrieb im Corriere della Sera abfällig von einem „militanten Katholizismus“, der sich aus „jenen Katholiken zusammensetzt, die überzeugt sind, daß die Familie angegriffen wird, sowohl jene von ‚Mutti und Vati‘, die das kirchliche Lehramt einmal ‚Eheleute‘ nannte, wenn sie durch das Sakrament vereint waren, oder ‚öffentliche Konkubinen‘, wenn sie nur standesamtlich verheiratet waren (…). Gerade so, als würde die unvermeidliche Änderung der Sitten die Kirche dazu rufen, sich in der Arena der Gesetzgebung zu schlagen und nicht sich beim Lesen des Evangeliums an die Brust zu klopfen“.
Die progressistischen Kirchenkreise sind verärgert, verblüfft und irritiert vom Erfolg der Kundgebung vom 20. Juni. „Wenn der Versuch, Papst Franziskus gegen die Teilnehmer der Kundgebung in Rom auszuspielen, als Instrumentalisierung leicht durchschaubar ist, stimmt es, daß die Gender-Ideologie in der päpstlichen Agenda nicht den ersten Platz einnimmt, ebensowenig wie sie für die Kundgebungsteilnehmer auf der Piazza San Giovanni das größte Problem ist. Die Lazarett-Kirche von Papst Franziskus betont, keine gegensätzlichen ideologischen Fronten bilden zu wollen, während die Kundgebung von Rom, wie einer der Redner unter starkem Applaus erklärte, ‚die erste große kollektive Handlung des Widerstandes gegen den Zwang zur Diktatur des Einheitsdenkens nach dem Willen einer Lobby ist, die nichts mit dem Volk zu tun hat“.
Kluft zwischen katholischer Basis und Spitze der Bischofskonferenz

Die Massenmobilisierung der Piazza San Giovanni ließ zudem eine Kluft zwischen der katholischen Basis und der Spitze der Bischofskonferenz sichtbar werden. Wie der Vatikanist Giuseppe Rusconi (Rossoporpora) schreibt, hat der Generalsekretär Bischof Nunzio Galantino, der „Mann des Papstes“ in der Bischofskonferenz, „viel gearbeitet (aber wirklich viel), damit die Kundgebung erst gar nicht zustande kommt und dann versucht, sie noch in der Wiege zu ersticken“. Daß die Kundgebung trotz dieser Verhinderungs- und Torpedierungsversuche ein solcher Erfolg wurde, „ist für den Generalsekretär der Bischofskonferenz Galantino, für die Führungsspitze von Comunione e Liberazione und für das kollateral zur Macht auftretende katholische Verbandswesen ein harter Rückruf in die Wirklichkeit“, so Rusconi.
Nur wenige Bischöfe haben öffentlich zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen oder diese sonst irgendwie unterstützt. Während alle wichtigen Tageszeitung Italiens der Kundgebung mehrere ihrer besten Seiten widmeten, befaßte sich ausgerechnet der Avvenire, die Tageszeitung der Bischofskonferenz in ihrem Hauptartikel mit dem Kampf gegen das Glücksspiel und der Leitartikel mit dem Amoklauf in Charleston in den USA. Das ist natürlich kein Zufall, ist doch Bischof Galantino als Generalsekretär der Bischofskonferenz auch Herausgeber des Avvenire. Die Frage ist keineswegs auf die Person von Bischof Galantino beschränkt. Die Reaktion des Avvenire ist vielmehr ein grundsätzliches Symptom für eine Kluft zwischen oben und unten, wobei der oben tonangebende Teil einen unwiderstehlichen Drang zu verspüren scheint, sich die Welt zum Freund zu machen, oder zur Freundin. Und er versucht seit langem schon das ihm anvertraute Volk auf diesem Weg mitzuziehen.
„Ein Gefühl, das lange in der katholischen Welt schwelte“ – „Wer wird das katholische Volk führen?“

Selbst ein laizistischer Beobachter wie Pierluigi Battista, mehrere Jahre stellvertretender Chefredakteur des Corriere della Sera, bemerkte in dieser Zeitung, eine so massive Kundgebung, wie sie am 20. Juni stattfand, „ließ ein Gefühl hervorbrechen, das seit langem in einem Teil der katholischen Welt schwelte, ohne von oben einen Input zu erhalten und ohne von den Kanzeln verkündet zu werden“. Es ist das Gefühl unbeachtet zu bleiben, ignoriert zu werden auch innerhalb der Kirche, die zu sehr damit beschäftigt ist, mit dem jeweiligen Progressiven vom Dienst zu verhandeln, zu flirten oder Zugeständnisse zu machen. Es ist das Gefühl letztlich mißachtet zu werden, denn um den gläubigen „braven“ Katholiken muß man sich ja nicht kümmern, schon gar nicht auf ihn Rücksicht nehmen.
Battista weiter: Die Kundgebung von Piazza San Giovanni „war der Ausdruck einer Ablehnungsfront, die viel umfassender ist, als sich die Medien auch nur vorzustellen vermögen“. Eine Ablehnung der progressistischen Mythen, aber auch der minimalistischen Strategie der Bischöfe. „Hier in Rom“, so Battista, „wurde das Signal eines Bruchs vernehmbar, die dünne Linie eines Sprungs, einer Unzufriedenheit, einer Auflehnung, die die kirchliche Hierarchie kaum ignorieren kann.“
„Wenn sich die Basis aber von der kirchliche Führungsspitze lossagt, wer wird dann das katholische Volk führen?“, stellt Roberto de Mattei als Frage in den Raum. Einer hat am Samstag bewiesen, daß er unabhängig zu denken und zu handeln weiß und vor allem, daß er Massen mobilisieren kann. Es waren nur 18 Tage Zeit, seit die Veranstaltung auf den 20. Juni festgelegt worden war. Eine Woche zuvor, am 13. Juni erst hatte eine unappetitliche Homo-Parade die Straßen Roms verschandelt, nach der man keine Statistiken braucht, um zu wissen, daß die Zahl jener, die sich ausgerechnet in der Ewigen Stadt mit einer Geschlechtserkrankung infizierten, deutlich nach oben geschnellt ist.
Neokatechumenaler Weg mobilisierte – Comunione e Liberazione ließ sich nicht blicken
Die Zeit war also knapp. Doch viele haben mobilisiert. Einer vor allem: Mindestens die Hälfte der Anwesenden auf der Piazza San Giovanni waren Angehörige des Neokatechumenalen Wegs. Kiko Argüello hatte die katholischen Familien mobilisiert, die seiner geistlichen Gemeinschaft angehören. Allein in Rom ist das Neokatechumenat in 110 Pfarreien präsent. Und diese Familien zögerten keinen Augenblick, auf die Straße zu gehen. Argüello übernahm die nicht unbeachtlichen Kosten für die Organisation und hielt die Schlußrede auf der Piazza San Giovanni. Während alle anderen Redner sich auf zehn Minuten beschränkten, hielt Argüello keine Kundgebungsrede, sondern eine einstündige Katechese über Ehe und Familie. Argüello ist es, der damit der Bischofskonferenz und dem „Mann des Papstes“ den Fehdehandschuh hinwarf, wo sich Comunione e Liberazione, ängstlich um Posten und Macht besorgt, nicht einmal blicken ließ.
Argüello war auch der einzige Redner, der seinen Worten keine politische, sondern eine religiöse Ausrichtung gab. Eine religiöse Ausrichtung, die natürlich jener des Neokatechumenalen Wegs entspricht. Die Kundgebung von Rom war ein starkes, unüberhörbares Signal. Ein wichtiges Signal an die Politik für die Verteidigung der Familie und gegen die Gender-Ideologie. Ein Signal, zu dem sich Katholiken, Christen anderer Konfessionen und Laizisten welcher politischen Coleur auch immer zusammenfinden können, weil sie ein gemeinsames politisches Ziel vereint.
Starkes Signal an Politik und Kirche
Die Kundgebung ist aber auch ein wichtiges und unüberhörbares Signal an die katholische Kirche, eine Absage an die progressistischen Programme, aber auch an die viele Nebelkerzen werfenden Hierarchen. Für die Kirche wirft die starke Präsenz des Neokatechumenalen Wegs und seiner nicht geklärten Fragen zusätzliche Fragen auf. Fragen, die damit zusammenhängen, daß führungslose Katholiken nach Ersatz Ausschau halten. Eine Herausforderung, die sich vor allem den Bischöfen stellt und die ihnen eigentlich schlaflose Nächte bereiten sollte. Auf dem Platz zählt auch Bündnisfähigkeit. In der Kirche hingegen geht es um die Integrität des Glaubens und der daraus folgenden Entscheidungen. Sie können den Himmel anrühren, damit Der eingreift, Der alles kann und ohne Den jede Schlacht verloren ist.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ/CR/RV