Benedikt XVI.: Nein zu Gender-Ideologie – Verständnis, was Menschsein in Wirklichkeit bedeutet, steht auf dem Spiel


Papst Benedikt XVI. Weihnachtsansprache Römische Kurie Gender-Ideologie gefährdet Würde des Menschen Christus König Christi Königtum Dialog darf nicht neutral bleiben sondern muß immer der Wahrheitssuche dienenANSPRACHE
VON
PAPST BENEDIKT XVI.
BEIM WEIHNACHTSEMPFANG FÜR DAS KARDINALSKOLLEGIUM, 
DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN KURIE
UND DER PÄPSTLICHEN FAMILIE

Anzei­ge

Frei­tag, 21. Dezem­ber 2012

Sala Cle­men­ti­na

Mit gro­ßer Freu­de begeg­ne ich Ihnen heu­te, lie­be Mit­glie­der des Kar­di­nals­kol­le­gi­ums sowie Ver­tre­ter der Römi­schen Kurie und des Gover­na­tora­tos zu die­sem tra­di­tio­nel­len Moment vor dem Weih­nachts­fest. Herz­lich begrü­ße ich jeden ein­zel­nen, ange­fan­gen bei Kar­di­nal Ange­lo Sod­a­no, dem ich für sei­ne schö­nen Wor­te und die herz­li­chen Glück­wün­sche dan­ke, die er auch in Ihrem Namen an mich gerich­tet hat. Der Kar­di­nal­de­kan hat uns an einen Satz erin­nert, der in der latei­ni­schen Lit­ur­gie in die­sen Tagen häu­fig wie­der­kehrt: Pro­pe est iam Domi­nus, veni­te, ado­r­e­mus! Der Herr ist nahe, kommt, wir beten ihn an! Auch wir machen uns bereit, in der Grot­te von Beth­le­hem das Kind anzu­be­ten, das Gott sel­ber ist – der Gott, der uns so nahe gekom­men ist, daß er ein Mensch wur­de wie wir. Ger­ne erwi­de­re ich die Glück­wün­sche und dan­ke allen von Her­zen, ein­schließ­lich der Päpst­li­chen Ver­tre­ter in aller Welt, für ihre groß­her­zi­ge und qua­li­fi­zier­te Mit­ar­beit, mit der jeder von Ihnen zu mei­nem Dienst beisteuert.

Wir ste­hen am Ende eines Jah­res, das wie­der in Kir­che und Welt von vie­ler­lei Bedräng­nis­sen, von gro­ßen Fra­gen und Her­aus­for­de­run­gen, aber auch von Zei­chen der Hoff­nung geprägt war. Ich nen­ne nur eini­ge Ein­schnit­te im Bereich des Lebens der Kir­che und mei­nes Petrus­dien­stes. Da waren – wie der Kar­di­nal­de­kan bereits erwähn­te – zunächst die Rei­sen nach Mexi­ko und Kuba – unver­geß­li­che Begeg­nun­gen mit der tief im Her­zen der Men­schen ver­wur­zel­ten Kraft des Glau­bens und mit der Freu­de am Leben, die aus dem Glau­ben kommt. Ich den­ke dar­an, wie nach der Ankunft in Mexi­ko auf dem lan­gen Weg, der zu durch­fah­ren war, end­lo­se Scha­ren von Men­schen grüß­ten und wink­ten. Ich den­ke dar­an, wie auf der Fahrt nach Gua­na­jua­to, der male­ri­schen Haupt­stadt des gleich­na­mi­gen Staa­tes, jun­ge Men­schen ehr­fürch­tig an der Sei­te der Stra­ße knie­ten, um den Segen des Petrus­nach­fol­gers zu emp­fan­gen; wie der gro­ße Got­tes­dienst in der Nähe der Christ­kö­nigs-Sta­tue zu einer Ver­ge­gen­wär­ti­gung von Chri­sti König­tum wur­de – sei­nes Frie­dens, sei­ner Gerech­tig­keit, sei­ner Wahr­heit. Dies alles geschah auf dem Hin­ter­grund der Pro­ble­me eines Lan­des, das unter viel­fäl­ti­gen For­men der Gewalt und unter den Nöten wirt­schaft­li­cher Abhän­gig­keit lei­det. Es sind Pro­ble­me, die gewiß nicht ein­fach durch Fröm­mig­keit gelöst wer­den kön­nen, aber erst recht nicht ohne jene inne­re Rei­ni­gung der Her­zen, die aus der Kraft des Glau­bens, aus der Begeg­nung mit Jesus Chri­stus kommt. Und da war das Erleb­nis Kuba – auch hier die gro­ßen Got­tes­dien­ste, in deren Sin­gen, Beten und Schwei­gen die Gegen­wart des­sen spür­bar wur­de, dem man den Platz im Land lan­ge hat­te ver­wei­gern wol­len. Die Suche nach einem rech­ten Ansatz für das Ver­hält­nis von Bin­dung und Frei­heit in die­sem Land kann gewiß nicht gelin­gen ohne einen Anhalt an jene Maß­stä­be, die der Mensch­heit in der Begeg­nung mit dem Gott Jesu Chri­sti auf­ge­gan­gen sind.

Als wei­te­re Hal­te­punk­te des ver­gan­ge­nen Jah­res möch­te ich nen­nen: das gro­ße Fest der Fami­lie in Mai­land sowie den Besuch im Liba­non mit der Über­ga­be des Nach­syn­oda­len Apo­sto­li­schen Schrei­bens, das nun im Leben der Kir­chen und der Gesell­schaft des Nahen Ostens Weg­wei­sung wer­den soll auf den schwie­ri­gen Wegen der Ein­heit und des Frie­dens. Das letz­te wich­ti­ge Ereig­nis die­ses abge­lau­fe­nen Jah­res war dann die Syn­ode über die Neue­van­ge­li­sie­rung, die zugleich ein gemein­sa­mer Beginn für das Glau­bens­jahr gewe­sen ist, mit dem wir der Eröff­nung des II. Vati­ka­ni­schen Kon­zils vor 50 Jah­ren geden­ken, um es in der ver­än­der­ten Situa­ti­on neu zu ver­ste­hen und neu anzueignen.

Mit all die­sen Anläs­sen sind grund­le­gen­de The­men unse­res geschicht­li­chen Augen­blicks ange­spro­chen: Fami­lie (Mai­land) – Dienst am Frie­den in der Welt und Dia­log der Reli­gio­nen (Liba­non) sowie die Ver­kün­di­gung der Bot­schaft Jesu Chri­sti in unse­rer Zeit an jene, die ihm noch nicht begeg­net sind und an die vie­len, die ihn nur von außen ken­nen und so gera­de nicht er-ken­nen. Von die­sen gro­ßen The­men­krei­sen möch­te ich vor allem das The­ma Fami­lie und das Wesen des Dia­logs etwas näher beleuch­ten, um dann noch eine kur­ze Anmer­kung über das The­ma der neu­en Evan­ge­li­sie­rung anzufügen.

Die gro­ße Freu­de, mit der in Mai­land Fami­li­en aus aller Welt ein­an­der begeg­net sind, zeigt, daß die Fami­lie trotz aller gegen­tei­li­gen Ein­drücke auch heu­te stark und leben­dig ist. Aber unbe­streit­bar ist doch auch die Kri­se, die sie – beson­ders in der west­li­chen Welt – bis auf den Grund bedroht. Es war beein­druckend, daß in der Syn­ode immer wie­der die Bedeu­tung der Fami­lie für die Glau­bens­ver­mitt­lung her­aus­ge­stellt wur­de – als der genui­ne Ort, in dem die Grund­for­men des Mensch­seins wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Sie wer­den erlernt, indem sie mit­ein­an­der gelebt und auch erlit­ten wer­den. So wur­de deut­lich, daß es bei der Fra­ge nach der Fami­lie nicht nur um eine bestimm­te Sozi­al­form geht, son­dern um die Fra­ge nach dem Men­schen selbst – um die Fra­ge, was der Mensch ist und wie man es macht, auf rech­te Wei­se ein Mensch zu sein. Die Her­aus­for­de­run­gen, um die es dabei geht, sind viel­schich­tig. Da ist zunächst die Fra­ge nach der Bin­dungs­fä­hig­keit oder nach der Bin­dungs­lo­sig­keit des Men­schen. Kann er lebens­lang sich bin­den? Ist das sei­nem Wesen gemäß? Wider­spricht es nicht sei­ner Frei­heit und der Wei­te sei­ner Selbst­ver­wirk­li­chung? Wird der Mensch er sel­ber, indem er für sich bleibt und zum ande­ren nur Bezie­hun­gen ein­geht, die er jeder­zeit wie­der abbre­chen kann? Ist Bin­dung für ein Leben lang Gegen­satz zur Frei­heit? Ist die Bin­dung auch des Lei­dens wert? Die Absa­ge an die mensch­li­che Bin­dung, die sich von einem fal­schen Ver­ständ­nis der Frei­heit und der Selbst­ver­wirk­li­chung her wie in der Flucht vor der Geduld des Lei­dens immer mehr aus­brei­tet, bedeu­tet, daß der Mensch in sich bleibt und sein Ich letzt­lich für sich selbst behält, es nicht wirk­lich über­schrei­tet. Aber nur im Geben sei­ner Selbst kommt der Mensch zu sich selbst, und nur indem er sich dem ande­ren, den ande­ren, den Kin­dern, der Fami­lie öff­net, nur indem er im Lei­den sich selbst ver­än­dern läßt, ent­deckt er die Wei­te des Mensch­seins. Mit der Absa­ge an die­se Bin­dung ver­schwin­den auch die Grund­fi­gu­ren mensch­li­cher Exi­stenz: Vater, Mut­ter, Kind; es fal­len wesent­li­che Wei­sen der Erfah­rung des Mensch­seins weg.

Der Groß­rab­bi­ner von Frank­reich, Gil­les Bern­heim, hat in einem sorg­fäl­tig doku­men­tier­ten und tief bewe­gen­den Trak­tat gezeigt, daß der Angriff auf die wah­re Gestalt der Fami­lie aus Vater, Mut­ter, Kind, dem wir uns heu­te aus­ge­setzt sehen, noch eine Dimen­si­on tie­fer reicht. Hat­ten wir bis­her ein Miß­ver­ständ­nis des Wesens mensch­li­cher Frei­heit als einen Grund für die Kri­se der Fami­lie gese­hen, so zeigt sich nun, daß dabei die Sicht­wei­se des Seins selbst, des­sen, was Mensch­sein in Wirk­lich­keit bedeu­tet, im Spie­le ist. Er zitiert das berühmt gewor­de­ne Wort von Simo­ne de Beau­voir: „Man wird nicht als Frau gebo­ren, son­dern man wird dazu“. („On ne naà®t pas femme, on le devi­ent“). In die­sen Wor­ten ist die Grund­le­gung des­sen gege­ben, was man heu­te unter dem Stich­wort „gen­der“ als neue Phi­lo­so­phie der Geschlecht­lich­keit dar­stellt. Das Geschlecht ist nach die­ser Phi­lo­so­phie nicht mehr eine Vor­ga­be der Natur, die der Mensch anneh­men und per­sön­lich mit Sinn erfül­len muß, son­dern es ist eine sozia­le Rol­le, über die man selbst ent­schei­det, wäh­rend bis­her die Gesell­schaft dar­über ent­schie­den habe. Die tie­fe Unwahr­heit die­ser Theo­rie und der in ihr lie­gen­den anthro­po­lo­gi­schen Revo­lu­ti­on ist offen­kun­dig. Der Mensch bestrei­tet, daß er eine von sei­ner Leib­haf­tig­keit vor­ge­ge­be­ne Natur hat, die für das Wesen Mensch kenn­zeich­nend ist. Er leug­net sei­ne Natur und ent­schei­det, daß sie ihm nicht vor­ge­ge­ben ist, son­dern daß er sel­ber sie macht. Nach dem bibli­schen Schöp­fungs­be­richt gehört es zum Wesen des Geschöp­fes Mensch, daß er von Gott als Mann und als Frau geschaf­fen ist. Die­se Dua­li­tät ist wesent­lich für das Mensch­sein, wie Gott es ihm gege­ben hat. Gera­de die­se Dua­li­tät als Vor­ge­ge­ben­heit wird bestrit­ten. Es gilt nicht mehr, was im Schöp­fungs­be­richt steht: „Als Mann und Frau schuf ER sie“ (Gen 1, 27). Nein, nun gilt, nicht ER schuf sie als Mann und Frau; die Gesell­schaft hat es bis­her getan, und nun ent­schei­den wir selbst dar­über. Mann und Frau als Schöp­fungs­wirk­lich­kei­ten, als Natur des Men­schen gibt es nicht mehr. Der Mensch bestrei­tet sei­ne Natur. Er ist nur noch Geist und Wil­le. Die Mani­pu­la­ti­on der Natur, die wir heu­te für unse­re Umwelt bekla­gen, wird hier zum Grund­ent­scheid des Men­schen im Umgang mit sich sel­ber. Es gibt nur noch den abstrak­ten Men­schen, der sich dann so etwas wie sei­ne Natur sel­ber wählt. Mann und Frau sind in ihrem Schöp­fungs­an­spruch als ein­an­der ergän­zen­de Gestal­ten des Mensch­seins bestrit­ten. Wenn es aber die von der Schöp­fung kom­men­de Dua­li­tät von Mann und Frau nicht gibt, dann gibt es auch Fami­lie als von der Schöp­fung vor­ge­ge­be­ne Wirk­lich­keit nicht mehr. Dann hat aber auch das Kind sei­nen bis­he­ri­gen Ort und sei­ne ihm eige­ne Wür­de ver­lo­ren. Bern­heim zeigt, daß es nun not­wen­dig aus einem eige­nen Rechts­sub­jekt zu einem Objekt wird, auf das man ein Recht hat und das man sich als sein Recht beschaf­fen kann. Wo die Frei­heit des Machens zur Frei­heit des Sich-selbst-Machens wird, wird not­wen­di­ger­wei­se der Schöp­fer selbst geleug­net und damit am Ende auch der Mensch als gött­li­che Schöp­fung, als Eben­bild Got­tes im Eigent­li­chen sei­nes Seins ent­wür­digt. Im Kampf um die Fami­lie geht es um den Men­schen selbst. Und es wird sicht­bar, daß dort, wo Gott geleug­net wird, auch die Wür­de des Men­schen sich auf­löst. Wer Gott ver­tei­digt, ver­tei­digt den Menschen.

Damit möch­te ich zum zwei­ten gro­ßen The­ma kom­men, das sich von Assi­si bis zur Syn­ode über die Neue­van­ge­li­sie­rung durch das ver­gan­ge­ne Jahr hin­durch­zieht – zur Fra­ge über Dia­log und Ver­kün­di­gung. Spre­chen wir zunächst vom Dia­log. Ich sehe für die Kir­che in unse­rer Zeit vor allem drei Dia­log­fel­der, in denen sie im Rin­gen um den Men­schen und sein Mensch­sein prä­sent sein muß: den Dia­log mit den Staa­ten; den Dia­log mit der Gesell­schaft, und dar­in ent­hal­ten der Dia­log mit den Kul­tu­ren und mit der Wis­sen­schaft sowie schließ­lich den Dia­log mit den Reli­gio­nen. In allen die­sen Dia­lo­gen spricht die Kir­che von dem Licht her, das ihr der Glau­be schenkt. Sie ver­kör­pert aber zugleich das Gedächt­nis der Mensch­heit, das von den Anfän­gen her über die Zei­ten hin Gedächt­nis der Erfah­run­gen und der Erleid­nis­se der Mensch­heit ist, in denen sie das Mensch­sein gelernt, sei­ne Gren­zen und sei­ne Grö­ße, sei­ne Mög­lich­kei­ten und sei­ne Begren­zun­gen erfah­ren hat. Die Kul­tur des Huma­nen, für die sie ein­steht, ist aus der Begeg­nung zwi­schen Got­tes Offen­ba­rung und mensch­li­cher Exi­stenz gewach­sen. Die Kir­che ver­tritt das Gedächt­nis des Mensch­seins gegen­über einer Zivi­li­sa­ti­on des Ver­ges­sens, die nur noch sich selbst und ihre eige­nen Maß­stä­be kennt. Aber wie ein Mensch ohne Gedächt­nis sei­ne Iden­ti­tät ver­lo­ren hat, so ver­lö­re auch eine Mensch­heit ohne Gedächt­nis ihre Iden­ti­tät. Was der Kir­che in der Begeg­nung von Offen­ba­rung und mensch­li­cher Erfah­rung gezeigt wur­de, reicht zwar über den Bereich der eige­nen Ver­nunft hin­aus, ist aber nicht eine Son­der­welt, die den Nicht­glau­ben­den nichts angin­ge. Im Mit­den­ken und Mit­ver­ste­hen des Men­schen wei­tet es den Hori­zont der Ver­nunft und geht so auch die­je­ni­gen an, die den Glau­ben der Kir­che nicht tei­len kön­nen. Im Dia­log mit dem Staat und mit der Gesell­schaft hält die Kir­che für die ein­zel­nen Fra­gen gewiß kei­ne fer­ti­gen Lösun­gen bereit. Sie wird mit den ande­ren gesell­schaft­li­chen Kräf­ten um die Ant­wor­ten rin­gen, die am mei­sten dem rech­ten Maß des Mensch­seins ent­spre­chen. Was sie als kon­sti­tu­ti­ve und nicht ver­han­del­ba­re Grund­wer­te des Mensch­seins erkannt hat, dafür muß sie mit aller Klar­heit ein­tre­ten. Sie muß alles tun, um Über­zeu­gung zu schaf­fen, die dann zu poli­ti­schem Han­deln wer­den kann.

In der heu­ti­gen Situa­ti­on der Mensch­heit ist der Dia­log der Reli­gio­nen eine not­wen­di­ge Bedin­gung für den Frie­den in der Welt und dar­um eine Pflicht für die Chri­sten wie für die ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten. Die­ser Dia­log der Reli­gio­nen hat ver­schie­de­ne Dimen­sio­nen. Er wird zual­ler­erst ein­fach ein Dia­log des Lebens, ein Dia­log des Mit­ein­an­der sein. Dabei wird man nicht von den gro­ßen The­men des Glau­bens spre­chen – ob Gott tri­ni­ta­risch ist oder wie Inspi­ra­ti­on der Hei­li­gen Schrif­ten zu ver­ste­hen sei usw. Es geht um die kon­kre­ten Pro­ble­me des Mit­ein­an­der und um die gemein­sa­me Ver­ant­wor­tung für die Gesell­schaft, für den Staat, für die Mensch­heit. Dabei muß man ler­nen, den ande­ren in sei­nem Anders­sein und Anders­den­ken anzu­neh­men. Dafür ist es nötig, die gemein­sa­me Ver­ant­wor­tung für Gerech­tig­keit und Frie­den zum Maß­stab des Gesprächs zu machen. Ein Dia­log, in dem es um Frie­de und Gerech­tig­keit geht, wird von selbst über das bloß Prag­ma­ti­sche hin­aus zu einem ethi­schen Rin­gen um die Wahr­heit und um das Mensch­sein; ein Dia­log um die Wer­te, die allem vor­an­ge­hen. So wird der zunächst rein prak­ti­sche Dia­log doch auch zu einem Rin­gen um das rech­te Mensch­sein. Auch wenn die Grund­ent­schei­de als sol­che nicht zur Debat­te ste­hen, wird das Mühen um eine kon­kre­te Fra­ge zu einem Pro­zeß, in dem durch das Hören auf den ande­ren bei­de Sei­ten Rei­ni­gung und Berei­che­rung emp­fan­gen kön­nen. So kann die­ses Mühen auch gemein­sa­me Schrit­te auf die eine Wahr­heit hin bedeu­ten, ohne daß die Grund­ent­schei­de geän­dert wer­den. Wenn bei­de Sei­ten von einer Her­me­neu­tik der Gerech­tig­keit und des Frie­dens aus­ge­hen, so wird die Grund­dif­fe­renz nicht ver­schwin­den, aber es wächst doch auch eine tie­fe­re Nähe zueinander.

Für das Wesen des inter­re­li­giö­sen Dia­logs wer­den heu­te im all­ge­mei­nen zwei Regeln als grund­le­gend angesehen:

1) Der Dia­log zielt nicht auf Bekeh­rung, son­dern auf Ver­ste­hen. Dadurch unter­schei­det er sich von der Evan­ge­li­sie­rung, von der Mission.

2) Dem­ge­mäß ver­blei­ben bei die­sem Dia­log bei­de Sei­ten bewußt in ihrer Iden­ti­tät, die sie im Dia­log für sich und für den ande­ren nicht in Fra­ge stellen.

Die­se Regeln sind rich­tig, aber ich fin­de sie doch in die­ser Form zu vor­der­grün­dig for­mu­liert. Ja, der Dia­log zielt nicht auf Bekeh­rung, son­dern auf gegen­sei­ti­ges bes­se­res Ver­ste­hen – das ist rich­tig. Aber die Suche nach Erken­nen und Ver­ste­hen will doch immer auch Annä­he­rung an die Wahr­heit sein. Bei­de Sei­ten sind so im stück­wei­sen Zuge­hen auf Wahr­heit auf dem Weg nach vorn und zu grö­ße­rer Gemein­sam­keit, die von der Ein­heit der Wahr­heit gestif­tet wird. Was das Fest­hal­ten an der eige­nen Iden­ti­tät betrifft: Es wäre zu wenig, wenn der Christ mit sei­nem Iden­ti­täts­ent­scheid sozu­sa­gen vom Wil­len her den Weg zur Wahr­heit abbre­chen wür­de. Dann wird sein Christ­sein etwas Will­kür­li­ches, bloß Posi­ti­ves. Er rech­net dann offen­bar gar nicht damit, daß man es in der Reli­gi­on mit Wahr­heit zu tun bekommt. Dem­ge­gen­über wür­de ich sagen, der Christ habe das gro­ße Grund­ver­trau­en, ja, die gro­ße Grund­ge­wiß­heit, daß er ruhig ins offe­ne Meer der Wahr­heit hin­aus­fah­ren kön­ne, ohne um sei­ne Iden­ti­tät als Christ fürch­ten zu müs­sen. Gewiß, wir haben die Wahr­heit nicht, aber sie hat uns: Chri­stus, der die Wahr­heit ist, hat uns bei der Hand genom­men, und wir wis­sen auf dem Weg unse­res Rin­gens um Erkennt­nis, daß sei­ne Hand uns fest­hält. Das inne­re Gehal­ten­sein des Men­schen von der Hand Chri­sti macht uns frei und zugleich sicher. Frei – wenn wir von ihm gehal­ten sind, kön­nen wir offen und angst­los in jeden Dia­log ein­tre­ten. Sicher sind wir, weil er uns nicht los­läßt, wenn wir nicht selbst uns von ihm lösen. Mit ihm eins ste­hen wir im Licht der Wahrheit.

Am Schluß soll wenig­stens noch ein kur­zes Wort über die Ver­kün­di­gung, die Evan­ge­li­sie­rung ste­hen, über die ja das Post­syn­oda­le Doku­ment im Anschluß an die Vor­schlä­ge der Väter aus­führ­lich spre­chen wird. Ich fin­de, daß die wesent­li­chen Ele­men­te des Vor­gangs der Evan­ge­li­sie­rung sehr spre­chend in der Erzäh­lung des hei­li­gen Johan­nes von der Beru­fung zwei­er Täu­fer­jün­ger erschei­nen, die zu Jün­gern Jesu Chri­sti wer­den (Joh 1, 35 – 39). Da ist zunächst der ein­fa­che Akt der Ver­kün­di­gung. Johan­nes der Täu­fer zeigt auf Jesus hin und sagt: „Seht, das Lamm Got­tes!“ Der Evan­ge­list erzählt wenig spä­ter ein ähn­li­ches Gesche­hen. Dies­mal ist es Andre­as, der zu sei­nem Bru­der Simon sagt: „Wir haben den Mes­si­as gefun­den“ (1, 41). Das erste und grund­le­gen­de Ele­ment ist die schlich­te Ver­kün­di­gung, das Keryg­ma, das sei­ne Kraft aus der inne­ren Über­zeu­gung des Ver­kün­di­gers schöpft. In der Erzäh­lung von den zwei Jün­gern folgt dann das Hören und das hin­ter Jesus Her­ge­hen, das noch nicht Nach­fol­ge, son­dern eher eine hei­li­ge Neu­gier, eine Such­be­we­gung ist. Bei­de sind ja Men­schen, die Suchen­de sind, Men­schen, die über den All­tag hin­aus in der Erwar­tung Got­tes leben – in der Erwar­tung, daß er da ist und daß er sich zei­gen wird. Von der Ver­kün­di­gung ange­rührt, wird ihr Suchen kon­kret. Sie wol­len den näher ken­nen­ler­nen, den der Täu­fer als Lamm Got­tes bezeich­net hat­te. Der drit­te Akt kommt dadurch in Gang, daß Jesus sich umwen­det, sich ihnen zukehrt und sie fragt: „Was sucht ihr?“ Die Ant­wort der bei­den ist wie­der­um eine Fra­ge, die die Offen­heit ihres War­tens anzeigt, die Bereit­schaft zu neu­en Schrit­ten. Sie fra­gen: „Rab­bi, wo wohnst du?“ Jesu Ant­wort: „Kommt und seht!“ ist eine Auf­for­de­rung mit­zu­ge­hen und im Mit­ge­hen mit ihm sehend zu werden.

Das Wort der Ver­kün­di­gung wird da wirk­sam, wo im Men­schen die hören­de Bereit­schaft für die Nähe Got­tes da ist; wo der Mensch inner­lich auf der Suche und so unter­wegs zum Herrn hin ist. Dann trifft ihn die Zuwen­dung Jesu ins Herz hin­ein, und dann wird die Begeg­nung mit der Ver­kün­di­gung zur hei­li­gen Neu­gier, Jesus näher ken­nen­zu­ler­nen. Die­ses Mit­ge­hen führt dort­hin, wo Jesus wohnt, in die Gemein­schaft der Kir­che, die sein Leib ist. Es bedeu­tet Ein­tre­ten in die Weg­ge­mein­schaft der Katechu­me­nen, die zugleich Lern- und Lebens­ge­mein­schaft ist, in der wir im Mit­ge­hen Sehen­de werden.

„Kommt und seht!“ Die­ses Wort, das Jesus zu den bei­den suchen­den Jün­gern sagt, sagt er auch zu den suchen­den Men­schen von heu­te. Am Ende des Jah­res wol­len wir den Herrn dar­um bit­ten, daß die Kir­che trotz all ihrer Arm­se­lig­kei­ten immer mehr als sei­ne Wohn­statt erkenn­bar wird. Wir bit­ten ihn, daß er auch uns im Hin­ge­hen zu sei­nem Haus immer mehr sehend macht; daß wir immer bes­ser, immer über­zeu­gen­der sagen kön­nen: Wir haben den gefun­den, auf den alle Welt war­tet, Jesus Chri­stus, wah­rer Sohn Got­tes und wah­rer Mensch. In die­sem Sinn wün­sche ich Ihnen allen von Her­zen geseg­ne­te Weih­nach­ten und ein glück­li­ches Neu­es Jahr. Danke.

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Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

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