Das Kriterium
In der Ausgabe vom dritten Juni der Neuen Zürcher Zeitung nimmt der Wiener Dogmatikprofessor Jan-Heiner Tück Stellung zu den konflingierenden Wortmeldungen der beiden römischen Kardinäle Kurt Koch und Walter Brandmüller, was nämlich die Verbindlichkeit der Verlautbarungen des Zweiten Vatikanischen Konzils im Kontext der Bemühungen um eine Aussöhnung der Piusbruderschaft mit Rom angeht.
Tück ergreift Partei von Kardinal Koch, der die vollumfängliche Verbindlichkeit des Konzils, einschließlich Nostra aetate und Dignitatis humanae, urgiert, um ebenso kompromißlos auf deren Anerkennung zu bestehen.
Meinerseits will ich mich nun nicht im kirchenpolitischen Vorfeld aufhalten. Beziehungsweise: Das Problem in der Debatte, das uns nicht vorankommen läßt und die Meinungsbildung womöglich bis in höchstmaßgebliche Kreise hinein erschwert, ist jene Krankheit unserer Zeit, die sich vielleicht auf folgende Formel bringen läßt: Man optiert ideologisch, um entsprechend strategisch zu argumentieren. Und wir unterstellen uns dies auch schon gegenseitig: „Was will er denn?“, sagen wir, wenn jemand nicht leicht nachvollziehbar argumentiert. Und diese Redeweise verrät uns: Sie sucht den Schlüssel zum Verständnis in der Absicht, entsprechend bei Weltanschauungsfragen o.ä. in der ideologischen Option. Und so bewerten wir die Argumentation als gelungen, wenn sie zielführend ist.
Wenn wir aber, zumal als Christen, auf sachliche Transparenz in der Argumentation setzen müssen, dann müssen wir versuchen, uns, möglichst frei von Vorurteilen, eben dem Anspruch der Sache zu stellen. – Nun geht es aber in der Causa „Piusbruderschaft und Konzilsanerkennung“ um rechte oder falsche Praxis: Was ist zu tun oder zu verlangen, beziehungsweise was ist zu unterlassen etc.? Die sachgemäße Argumentation richtet sich dementsprechend an der normativen Vorgabe aus. Grundlegend ist die Frage: Was ist der Maßstab, an dem sich solche Fragen zu entscheiden haben? Dies zumal, wenn sehr weitreichende Konsequenzen im Blick sind.
Von daher: Zwecks Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß von der Piusbruderschaft eine Anerkennung des Zweiten Vatikanums zu verlangen ist, ist vor allem anderen der dafür richtige Maßstab zu fokussieren. Was ist der Maßstab, der überhaupt die „Kompetenz“ hat, diese in der praktischen Konsequenz so weitreichende Frage zu entscheiden? Mit anderen Worten: Warum soll überhaupt eine solche Anerkennung zur Bedingung gemacht werden, oder eben nicht?
Sondieren wir den besagten Debatteneinwurf von Jan-Heiner Tück unter diesem Gesichtspunkt, so kommt man nicht ganz um das Bedauern umhin, daß sich der Verfasser einen leider zu bescheidenen Rahmen für seine Argumentationsstrategie gesteckt hat. Wenn ich recht sehe, sind die leitenden Maßstäbe für ihn die gleich zu Beginn genannten: „Stellung der katholischen Kirche zur Moderne“, das „Verhältnis zum Judentum und zu den anderen Religionen“, die „Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit“. Entsprechend geht es darum, nicht „hinter das Konzil zurückzufallen“. Hinsichtlich der Normativität der Konzilsaussage wird in entscheidender Instanz nicht mehr gesagt, als daß die verschiedenen Dokumente eine inhaltliche Einheit bilden, auf daß von daher nicht einzelne zur Disposition gestellt werden dürften. – Gewiß: Ein knapp zu haltender Zeitungsbeitrag ist kein weit ausholender Grundsatzartikel. Dies ändert aber nichts daran, daß sich die Benennung all der genannten Motive (gegen eine Relativierung des Konzils) jeweils mit einem schlichten „Na und?“ quittieren läßt. Jedenfalls so, wie sie dastehen. Hier lebt alles vom, in der deutschsprachigen Gegenwartstheologie sehr beliebten, suggestiven Pathos der „Neuzeitanschlußfähigkeit“, ohne daß diese noch einmal auf ihre inhaltliche wie normative Tragweite zulänglich auf den Punkt gebracht wäre.
Nun, da im Rahmen dieser knappen Wortmeldung meinerseits keine Fundamentaltheologie zu betreiben ist, werde ich doch wohl unter uns katholischen Christen, die ich (in erster Linie) anspreche, mir den „fundamentalistischen“ Hinweis gestatten dürfen, daß für uns das Wort Jesu, des fleischgewordenen Logos Gottes, der Maßstab ist. Und in jenem „herrlichen“ Gebet, in dem er darum bittet, daß alle, die an ihn glauben, eins sind (Joh. 17,20sq.), fallen auch die gewichtigen Worte, die mir geradezu einen Schlüssel zur Debatte darzustellen scheinen:
„Heilige sie in der Wahrheit; Dein Wort ist Wahrheit. So wie Du Mich in die Welt gesandt hast, habe auch Ich sie in die Welt gesandt. Und für sie heilige Ich mich selber, damit auch sie selber in der Wahrheit geheiligt seien.“ (Joh 17,17–19)
Sie, die Zwölf (bzw. verbliebenen Elf), werden, in der Welt bleibend (V. 15sq.), „in“ die Welt gesandt: Sie haben eine Sendung für „die Welt“, die Gott retten will, um dieser Welt jedoch konfrontativ gegenüberzutreten (cf. 15,18sqq.). Und die einzig notwendige Ausrüstung für ihre Mission ist ihr „Geheiligt-Sein in der Wahrheit“, die konsekratorische „Ein-geweiht-heit“ in diese Wahrheit, durch den, der sich für sie „heiligt“ und die Wahrheit selber in Person ist (cf. 14,6). – Von daher ist der apostolische Glaube, der Glaube der Apostel, sprich: die Wahrheit, die jene uns überliefert haben, die Christus in die Wahrheit eingeweiht hat, alleiniges Maß für die Jünger Christi aller Zeiten, wo sie doch „durch ihr Wort an mich glauben werden“ (V. 20). Dieser Glaube der Apostel, überliefert durch die apostolische Kirche mit ihren apostolisch legitimierten Hirten, dieser ist der Maßstab, auch für die Kirche und ihre Mission in der Welt heute. Und zwar exklusiv. Diese Selbstverständlichkeit, die im Munde zu führen banal erscheinen mag, hat jedoch ihre Brisanz. Denn es geht dabei um jene Heiligung, die so für Gott in Beschlag nimmt, daß sie jedes Anrufen anderer Maxime und Postulate, die nicht von daher abgeleitet bzw. darum zentriert sind, als fremdkörperhaft entlarvt. Denn zwischen dem Geist Christi und dem Geist der Welt gibt es kein Mittleres oder Vermittelndes (cf. 1 Kor 2,12).
Von daher ist die Rechnung einfach, wenngleich nicht simpel: Zur Beurteilung, ob und inwieweit wir, d.h. die Kirche, – im Umgang mit der Piusbruderschaft, aber auch im Binnenraum jener, die (formaljuridisch wenigstens) „im vollen Frieden“ mit der Kirche leben – die konziliären Aussagen urgieren sollen, kann nur der apostolische Glaube selber als Maßstab (im Sinne der ‚norma normans‘) herangezogen werden, wie er durch das apostolische Tradenden- und Lehramt dieser Kirche überliefert ist. Nichts anderes: also keine politischen Opportunitäten, „Anschlußfähigkeiten“ an die Leitmotive eines Zeitalters etc. Es sei denn, für derart Postulate ließe sich geltend machen, daß sie sich aus der konkreten Anwendung dieses Maßstabs aller Maßstäbe (mehr oder minder) zwingend ergeben: aber das muß erst einmal schlüssig aufgezeigt statt pathetisch suggeriert werden.
Der Kern des Problems
Damit spiele ich doch schon Lehramt gegen Lehramt aus, wird man mir vorhalten. Dieser Vorwurf trifft gewiß insofern zu, als das Zweite Vatikanische Konzil seinerseits nun einmal zweifellos eine Ausübung des Lehramtes der Gesamtkirche war, mithin im Dienste jener Überlieferung der Wahrheit Christi stand, für die der Beistand des Heiligen Geistes verheißen ist. Nur: Einerseits hat das Konzil anerkanntermaßen dort, wo es nicht solches wiederholte, was schon als ‚de fide‘ feststand, nicht noch einmal, „aus eigenem“ sozusagen, letztverbindlich gesprochen, also: nicht mit göttlicher Wahrheitsgarantie und so unfehlbar. Andererseits ist die hermeneutische Leistung des Konzils, seine Arbeit der „Übersetzung“ des Glaubensgutes ins Heute für sehr viele fraglich geworden. Fraglich in ihrer Verläßlichkeit, und zwar mit Blick auf die ererbte Glaubensregel („regula fidei“). Dies ist ein Faktum, an dem man nicht leichthin vorbeigehen darf: Es wäre lieblos. Und was dabei von erstrangiger Bedeutung ist: Diejenigen, die besagtermaßen Anstoß nehmen und deren Kreis sich nicht auf solche, die sich aktiv oder passiv im Rahmen der kirchenrechtlichen Irregularität bewegen, beschränkt, sind in ihrer Treue zum überlieferten Glauben, weitestgehend jedenfalls, unverdächtig. Im Gegenzug ist die Verwobenheit der (beanspruchten) „Konzilsobservanz“ mit einer weit um sich greifenden materialen Entfremdung vom überlieferten Glauben strukturell zu nennen (ob de jure oder de facto, muß für unsere Belange nicht entschieden werden). Dies soll den entschieden lehramtstreuen Personen und Gruppierungen keinen Abbruch tun. Allein: Auch dort greifen viele Verunsicherungen um sich; und auch die höchstkirchenamtliche Diktion kann, wie sie zur Zeit besteht, eben nicht als rundweg verläßlich bezeichnet werden. (So hat der Youcat viele Defizite: Die Lehrdarlegung zu Meßopfer und Realpräsenz ist unbefriedigend, der Tod zumindest recht schlüpfrig als Ende des Pilgerstandes markiert; ganz zu schweigen von der Peinlichkeit, wie man die definierte [!] Lehre vom wahren Verdienst des Gerechtfertigten angeht.)
Vor diesem Hintergrund erscheint die Präsumption für die inhaltliche Richtigkeit des vom Zweiten Vatikanum ausgeübten Lehramtes, die ihm wie jeder Lehramtsausübung (diesseits ‚de fide‘) von Haus aus zu gelten hat, entschieden angefochten: Die Verläßlichkeit der hermeneutische Leistung des Konzils erscheint, erst einmal pauschal gesagt, fragwürdig. – Freilich stoßen hier auf ein intrikates Anschlußproblem. Es ist dies die Frage nach der exakten Bestimmung der Untergrenze, wie ich sie (in diesem Forum) schon wiederholt aufgeworfen habe: Bis zu welchem Ausmaß kann ein Ökumenisches Konzil, auf dem der gesamte Lehrkörper versammelt ist, in der Darlegung seiner Lehre sich als unzuverlässig erweisen, nämlich mit Blick auf die Glaubensregel selber, und zwar selbstverständlich dort, wo es nicht mit Endgültigkeitsanspruch lehrt? Das Mindeste, was man als katholischer Christ ausschließen muß, ist doch, daß nicht fast der ganze Lehrkörper mit dem Papst voran (= die moralische Totalität) vom Glauben abgefallen ist, eben dadurch, daß er sich in eindeutigen Widerspruch zum Glaubensgut gesetzt hätte. – Daß diese Bestimmung so ausreicht: darauf will ich mich hier nicht festlegen. Allein, mit Blick zum Beispiel auf das Problem von Dignitatis humanae, worin offenkundig das Gegenteil von dem gelehrt wurde, was jahrhundertelang gelehrt und praktiziert wurde (wonach die dem katholischen Glauben widersprechende Lehre und Praxis gerade kein natürliches Recht auf eine öffentliche Präsenz hat, die von der staatlichen Gewalt unbehelligt bliebe): Wenn ich sage, eine solche Lehrinnovation von solcher inhaltlicher Tragweite könne gar nicht anders als (kraft göttlichen Beistandes) verläßlich sein, um somit „per accidens“ unfehlbar zu sein, womit die Verläßlichkeit von Dignitatis humanae aber gewährleistet sei, dann gilt immer noch: „probetur antecedens“, der Voraussetzungssatz für diese Folgerung ist zu beweisen. Ähnliches gilt für den Hinweis auf weitreichende Konsense und Rezeptionen: die letzten fünfzig Jahre müssen gegen die Jahrhunderte zuvor ankommen. Und die ultimative Irrelevanz dieser Jahrhunderte für die formale Verbindlichkeit einer Lehre muß dann auch noch transparent gemacht werden. Davon kann nicht dispensiert werden. Es hilft hier nichts, wie Tück es tut, die Raffinesse des Papstes (in seiner Vorweihnachtsansprache von 2005) zu bewundern: der Hinweis auf das „Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf unterschiedlichen Ebenen“ ist für sich allein auch nicht viel mehr als ein geschickter Rhetorismus.
Mit diesen etwas umwegigen Hinführungen und Salvierungen (gegen Mißverständnisse) wähne ich mich nun aber beim Kern des Problems angekommen, und dieses Problem trägt in erster Linie gar nicht den Namen „Piusbruderschaft“. Das Problem besteht vielmehr in einem Ärgernis, das deren Existenz bedingt hat: Offensichtlich ist die Verläßlichkeit des Zweiten Vatikanums als Hermeneut des unwandelbar gültigen Glaubensgutes für „heute“ (was es sein wollte!) nicht beziehungsweise nicht rundweg transparent; analog für das darauf basierende nachkonziliäre Lehramt. Dies betrifft die Richtigkeit der Lehrinhalte an ihnen selber genommen wie aber (gerade) auch die der Akzentsetzungen. Und eigentlich ist es, bei Licht besehen, für den schlicht und redlich Denkenden nicht einzusehen, warum dieses Ärgernis bis zur Stunde ununterbrochen fortbestehen muß. Warum kann diese Frage nach der Verläßlichkeit nicht einer Lösung zugeführt werden anhand von Prinzipien, die als ererbte allseits unverdächtig sind (vorausgesetzt, man ist bereit, die Verbindlichkeit dieses Erbens anzuerkennen)? Und zu solchen Prinzipien sind dann selbstredend auch solche „Untergrenzen“ zu rechnen, die ich oben angesprochen hatte. Wenn die einen sagen: Dignitatis humanae gilt, es ist eine Konzilsaussage (wenngleich kein Dogma), die anderen aber auf Quanta cura etc. verweisen: Kann man sich da nicht ein für allemal dazu aufraffen, ‚sine ira et studio‘ die Frage anzugehen, was denn nun aus genau welchen Gründen Vorfahrt hat? Die Frage ist also: Was sagt just das apostolische Erbe zu den Prinzipien verläßlicher Lehrpräsentation (dieses Erbe freilich gemäß seiner Ausfaltung durch die Jahrhunderte hindurch und gemäß seiner konsensualen theologischen Aneignung)? Ich sehe nicht, was die Lösung behindern könnte, es sei denn der Würgegriff ideologischen Denkens, das immer neue Argumentationsstrategien zu seiner Selbstbehauptung erfindet, oder die Bande der Verstrickung in das Pragma der Politik („wir haben jetzt so lange auf Religionsfreiheit gemacht; wie stehen wir jetzt da, wenn …“). Aber: „Heilige sie in der Wahrheit“: das ist der Ausweg. Es war Pilatus, der mit „Wahrheit“ nichts verbinden konnte, mit dem Pragma dafür um so mehr …
Um dasselbe mal etwas schlichter, damit freilich vereinfachend, auf den Punkt zu bringen: Das Zweite Vatikanum ist entgegen allem Anschein für die katholische Kirche eben nicht das gewesen, was seinerzeit das Godesberger Programm für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war. Godesberg hat keinen Maßstab: man kann hinter Godesberg zurück auch dann nicht SPD-Mitglied sein wollen, wenn es mit klassischen Essentials der deutschen Sozialdemokratie bricht. Man muß dann eine neue Partei gründen, eine „SPD alter Genossenschaft“ oder was weiß ich wie. An das Zweite Vatikanum kann ich einen Maßstab anlegen: Denn es selber hatte, jedenfalls nach Maßgabe seiner führenden Garanten (allen voran des moderierenden Papstes), gewiß nicht die Absicht, eine Summe von Verlautbarungen hervorzubringen, deren rechte Hermeneutik gerade auch die der Diskontinuität wäre. Es anerkannte vielmehr das Glaubensgut als unhintergehbaren Maßstab für seine Übersetzungsleistung. Und etwas anderes kam von vornherein auch nicht in Betracht. Leider haben zur Zeit viele auch in der Kirche den geistigen, besser: geistlichen, Kompaß verloren, um sich aufzuführen, als hätten wir es nicht mit der katholischen Kirche und dem Zweiten Vatikanum zu tun, sondern mit der SPD und Godesberg …
Nostra aetate – Heilsnotwendigkeit der Kirche – die Juden
Das Postulat, das Konzil (im besagten Sinne und unter besagten Voraussetzungen und Grenzen) am Maßstab der apostolischen Überlieferung zu messen, gilt um so mehr für Nostra aetate (NA), zumal es in der formalen Verbindlichkeit als niederrangig einzustufen ist. Und natürlich gibt es inhaltliche Rückverweise auf das vergleichsweise hochrangige Dokument Lumen gentium (LG; Artikel 16). Allerdings: Während NA 1 et 2 die nichtchristlichen Religionsgemeinschaften selber, in freilich sehr bedingter Weise, würdigt, geht es in LG 16, vom jüdischen Volk abgesehen, um die Stellung der Angehörigen der nichtchristlichen Religionen in puncto heilsbedeutsamer Hinordnung auf die Kirche Christi. Entsprechend: Während LG im engeren Sinne lehramtlich ist, um an besagter Stelle von der Heilsmöglichkeit jener zu handeln, die aufgrund schuldloser Ignoranz keinerlei institutionelle Verbindung mit der Kirche Christi aufweisen, um im Rahmen einer „Hinordnung“ auf diese Kirche gerettet werden zu können, trägt NA vielmehr den Charakter einer kirchenpolitischen und programmatischen Äußerung: Es geht darum, eine Verständigungsbasis für Interkooperation und Dialog zu legen, die freilich doktrinale Implikationen hat. – Entsprechend scheint mir mit NA sehr wohl einen Schritt über LG hinausgegangen zu sein: Man werfe nur einen Blick auf LG 16 Ende und vergleiche dies mit der fast skandalös wohlwollenden Religionsphänomenologie, die unter NA 1 et 2 betrieben wird. Und die interreligiös (aber auch ökumenisch) noch sehr zurückhaltenden Gesten von Papst Paul VI. zeigen, daß die skandalös indiskreten Begegnungen, Handlungen und Veranstaltungen unter dem Wojtyla-Pontifikat zwar ohne NA schwer verständlich zu machen sind, jedoch keineswegs als konsequente Testamentsvollstreckung angesehen werden können. – Mithin sind all diese Stationen auf dem Konzil selber und des darauf folgenden päpstlichen Kirchenregiments noch einmal differenziert zu befragen. Gerade die skandalösen Gesten der Wojtyla-Ära und die Folgerungen, die daran geknüpft wurden, haben noch einmal eigene Probleme geschaffen beziehungsweise Hürden zum traditionalistischen Lager aufgebaut.
Aber dessen ungeachtet ist zur Bewertung all dieser Stationen in der Aus-übung des Lehr- und Hirtenamtes auf dem Konzil und danach in puncto „Anschlußfähigkeit an die apostolische Tradition“ folgendes in Betracht zu ziehen: Die Päpste haben, in konkreter Aktualisierung des Dogmas ihrerseits, im 19. und 20. Jahrhundert massiv auf folgendem insistiert: Die katholische Kirche ist für alle heilsnotwendig; die tatsächliche Zugehörigkeit zur Kirche wird im Falle schuldlosen Nichtwissens („ignorantia invincibilis“) durch das (implizite) Votum ersetzt. Ungeachtet des letzteren hat die katholische Kirche die dringliche Einladung an exzeptionslos alle außerhalb ihrer Befindlichen zu entrichten, da sich ebenso exzeptionslos all jene in einem Zustand der Heilsgefährdung befinden (wenngleich in unterschiedlichem Maße): DS 2865sqq; 2997sqq.; 3821 u. 3866sqq. Ist nun aber gerade der letzte dieser drei Punkte über all die konziliären und nachkonziliären Würdigungen der nichtkatholischen (ob nun christlichen oder nichtchristlichen) Bekenntnis- und Religionsgemeinschaften beziehungsweise der religiösen Praxis innerhalb derselben noch hinlänglich im Blickfeld? Überlagert nicht eine zu optimistische Anerkennung des Guten die notwendige Sichtung der Defekte nach deren radikalem Ernst? Ist nicht schon durch die Attitüden des Konzils, und zwar ansatzweise in LG, entfalteter dann in „Unitatis redintegratio“ so wie in NA, jener Irenismus angebahnt, welcher das konfrontative Gegenüber unmöglich macht, in dem sich die katholische Kirche als die einzig wahre Kirche Christi gegenüber allen anderen zu halten hat? – Gegenüber allen Propheten der Verständigung, die ihr suggestives „nicht zurück hinter …“ anbringen wollen, ist hier schlicht auf folgendem zu insistieren: Die differenziertere Beschreibung des Verhältnisses der katholischen Kirche zu all denen, die (einfachhin wengistens) draußen sind, entsprechend die differenziertere Beurteilung von deren Situation, all dies ist nur zu berechtigt. Aber sie bleibt konstitutiv rückgebunden an die Koordinaten, die die Päpste besagtermaßen vorgegeben haben. Hier gibt es nichts zu rütteln; und wo nötig, sind die entsprechenden Korrekturen vorzunehmen. Unbedingt. Die Übersetzungsleistung des Konzils ist an dieser Vorgabe zu messen, nicht umgekehrt, beziehungsweise nicht diese Vorgabe an einer progressiven Hermeneutik. Man kann nicht Katholik sein, wenn man das nicht akzeptiert.
Was das Konzil selber angeht, ist all dies zum weit überwiegenden Teil eine Frage nicht der Lehrinhalte an sich, sondern der Akzentsetzung. Jedoch: Auch wenn ich großen Respekt vor der Versiertheit jener habe, welche die Konzilstexte redigierten, auf daß (wenn wir vom Sonderfall Dignitatis humanae ein¬al absehen) ein doktrinaler Lapsus längst nicht so leicht nachzuweisen ist, wie so manch kritiksüchtiger Rechthaber glaubt: es gibt schon Fälle, da man Bedenken in bezug auf einzelne Lehrinhalte und ‑aussagen haben kann; wie gesagt, diesseits des Problems mit Dignitatis humanae. Dazu zähle ich zum einen den berühmten Satz aus „Unitatis redintegratio 3“, der Heilige Geist habe sich nicht geweigert, die nichtkatholischen Kommunitäten als Heilsmittel zu gebrauchen, der im dringenden Verdacht steht, dem strengen Wortsinn nach („in rigore sensus“) falsch zu sein. Dazu gehört auch – und damit komme ich zu einem brisanten Thema – die Deskription der heilsrelevanten Hinordnung auf die Kirche für die schuldlosen Nichtchristen unter LG 16. Nicht, daß man eine Hinordnung anmahnt, die offensichtlich über die subjektive (im Votum) hinausgeht. Das Problem ist die Sonderstellung des jüdischen Volkes, wie sie darin beschrieben wird. Kann ohne weiteres beziehungsweise einfachhin („simpliciter“), also ohne präzisierende Einschränkung, davon die Rede sein, daß die Zugehörigkeit zu diesem Volk eine Hinordnung auf die Kirche Christi begründet beziehungsweise diesem Volk eine solche eignet? Daß es als fortexistentes Volk der ersten Erwählung seine Teleologie in Christus hat und so auf ihn hingeordnet ist (auch der leiblichen Abstammung nach, wie zu Recht herausgestellt wird), ist unbestritten. Aber was ist mit dieser Hinordnung angesichts dessen, daß die (konkrete) Fortexistenz dieses Volkes unter dem Vorzeichen der Verweigerung gegenüber seinem Messias steht? Wenn es mit Blick auf DS 1348 Dogma ist, daß das Halten der altbundlichen Zeremonialgesetze nach der Ankunft Christi und der Verkündigung des Evangeliums (objektiv) schwer sündhaft ist, eben weil das Verrichten dieser Riten – die ihrem Wesen nach auf den kommen sollenden Christus verweisen – entsprechend nach Christi Ankunft und Tod geradewegs dieses Gekommen-Sein negiert, wenn analog schon für die Fortexistenz dieses Volkes als mosaischer Religionsgemeinschaft selber gilt, daß solches eben das Gekommen-Sein seines Messias, in dem es sein Ziel hat, negiert: Sind dann nicht jüdische Existenz qua die einer bzw. in einer mosaischen Religionsgemeinschaft samt entsprechender Praxis von jener Ambivalenz, wonach solches zwar einerseits auf Christus hinordnet, da es in ihm sein Ziel hat, andererseits solches nach Christi Ankunft geradewegs von Christus wegverordnet? Was von Christus gilt, gilt dann aber entsprechend auch von der Kirche Christi. Von daher scheint mir die Konzilsaussage von LG 16 in der Tat mit einer schweren Hypothek belastet: Gemäß DS 1348 samt seiner biblischen Grundlage geht es schwerlich an, einfachhin und ohne jede Differenzierung, welche die analogielose Ambivalenz sui generis markiert, jüdische Existenz als auf die Kirche hinordnenden Faktor zu beschreiben.
Bevor man mir entgegenhält, wie man nach Auschwitz so zynisch taktlos, um nichts Schlimmeres zu sagen, reden bzw. schreiben könne: Es geht zum einen alles andere als darum, in einem Anfall abgründig unchristlicher Ahumanität irgendwelche physische menschliche Existenz als schwer sündhaft zu deklarieren. Und letzteres ist das Ipsissimum des Antisemiten im eigentlichen (sprich: rassistischen) Sinne (mal abgesehen davon, daß „Sünde“ nicht unbedingt zu seinem Sprachschatz gehört.
Den Christen pervertiert es, jemandem zu verübeln, daß es ihn gibt. Vielmehr geht es hier um die Existenz als bzw. in einer Religionsgemeinschaft, auch wenn in diesem Fall die Institution „Nation“ o.ä. mit der Institution Religionsgemeinschaft zusammenfällt. Vom letzteren einmal abgesehen: Für die Existenz unter anderen nichtchristlichen Religionsgemeinschaften gilt ebenso, daß sie objektiv schwer sündhaft ist; der Sonderfall jüdischer Existenz liegt jedoch darin, daß hier an einer von Gott auf Christus und seine Kirche hin gestifteten institutionellen Größe entgegen ihrer Teleologie festgehalten wird. Von daher gilt hier und nur hier: Was einerseits auf Christi Kirche hinordnet, verordnet zugleich von ihr weg. Überdies ist für den dem Evangelium treuen Christen der Zynismus des Antisemitismus, in dessen Fluchtpunkt wenigstens der Genozid liegt, deshalb ein Unding, da, mit Blick auf Röm 9–11, seinem Glauben gemäß dieses Volk fortbestehen muß, bis endlich die Verheißung an ihm erfüllt werde, die Teleologie, die an ihm haften bleibt, auch an ihm und mit ihm eingelöst werde. Diese Logik ist jene des werbenden Wartens und wartenden Werbens, gleichwohl im Bewußtsein des uns von den Juden abgründig Trennenden; mit exterminatorischem Haß hat solches nichts gemein. Einmal überspitzt gesagt: Nicht unser Insistieren darauf, daß die Mission der Kirche gerade auch den Juden gilt und daß diese qua Juden eben auch unsere Gegner bleiben, verortet uns in einem „Antisemitismus“, ohne den es Auschwitz nicht gegeben hätte; vielmehr: wenn, dann deshalb, da wir vergessen hatten, daß Gott seine Erwählung nicht zurückgenommen hat, mithin die Einlösung der Teleologie dieses Volkes durch unsere Mission immer noch aussteht, ist Auschwitz „unsererseits“ möglich geworden. Hier hat Max Frisch in seinem „Andorra“ wohl etwas Richtiges gesehen: Wir waren nicht katholisch genug, an diesem Volk desinteressiert. Und es ist das Verdienst des Zweiten Vatikanums, diese vergessene Wahrheit wieder in Erinnerung gerufen zu haben, freilich in einer einseitigen, um nicht zu sagen: naiven, Akzentuierung, die sich ihrerseits als belastend ausgewirkt und neue Probleme geschaffen hat. Und alles in allem kann hier die Piusbruderschaft, die ja nicht nur aus Richard Williamson besteht, als vorbildlich gelten.
Das Problem bei Vatikanum II ist von daher, daß es in die durchaus zu Recht und überzeugend zugrunde gelegte Konzeption der konzentrischen Kreise, die sich um die einfachhin genommene Kirchengliedschaft („plene incorporantur“) legen (cf. LG 13, Ende) – im Sinne von Beziehungen und Zuordnungen zu dieser Kirche, wo man schuldlos außerhalb der Kirche steht –, die Existenz des jüdischen Volkes harmonistisch „hineinverarbeiten“ wollte, um die Sperrigkeit dieser Größe dafür zu übersehen, nämlich aufgrund besagter Ambivalenz. Die Konzilsaussage wird von daher nicht rundweg falsch, bleibt jedoch in ihrer Undifferenziertheit höchst problembehaftet. Das Problem der nachkonziliären Stellungnahmen, gerade auch im Zuge des Wojtyla-Pontifikates, ist, daß man der Versuchung nicht widerstand, die naiv-harmonistischen Konzilsaussagen fortzuschreiben zu einer Ideologie eines fast nahtlosen Schulderschlusses, in dem sich gar, wie Kardinal Koch jüngst ausführte, Kirche Christi und Synagoge zum „einen Volk Gottes“ zusammenfinden sollen, wenngleich da noch die Sache mit der Person Christi als eine Art Unterscheidungslehre bleibt. Dies ist dann aber Traditionsbruch und Verfälschung der Konzilsaussagen zugleich. Und wer die Anerkennung von Nostra aetate gleichsam als Chiffre für das wenigstens stillschweigende Einverständnis mit einer solchen Ideologie abverlangen will, ist dazu durch nichts legitimiert, nicht einmal durch das Konzil selbst: Er hat die apostolische Tradition gegen sich, welche die Piusbruderschaft ins Recht setzt, und gerade nicht die Anwälte von derart Ideologien.
Zugegebenermaßen bin ich nicht exakt im Bilde über den genauen Bestand von Theologoumena, der in der Piusbruderschaft betreffs „Judentum und Juden“ als verbindlich kursiert. Ich glaube auch, daß da insgesamt etwas aufgebauscht wird. Insofern man jedoch darauf insistiert, daß die Kirche Christi, die katholische Kirche für exzeptionslos alle heilsnotwendig ist, also auch für die Juden, daß die Missionstätigkeit der Kirche dementsprechend ebenso exzeptionslos allen gilt und gerade auch den Juden, daß schließlich und endlich deren objektive Stellung im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk samt entsprechender Praxis von jener tiefgreifenden Ambivalenz ist, von der oben die Rede war und welche ein harmloses „Einvernehmen“ mit ihnen für uns Christen unmöglich macht (sie sind „ältere Brüder„und Gegner in einem): insoweit ist man dort schlicht im Recht. Es ist eine schwere Versündigung am Erbe Christi, diesbezüglich irgendein Abschwören oder wenigstens Mund-Halten zu verlangen.
Von daher riskiere ich einmal folgende Frage, die selbstredend quer zur korrekten Diktion in der politischen und akademischen Welt liegt: Wenn man Angst hat, maßgebliche Autoritäten und institutionelle Präsenzen der Juden bzw. des Jüdischen in der westlichen Welt würden daran Anstoß nehmen, um deshalb den Schritt der Versöhnung mit der Piusbruderschaft zu scheuen oder dieselbe gar zu hintertreiben, ja um deshalb überhaupt schon die sperrige Stringenz des Christusglaubens zu verschleiern: tut man dann etwas anderes, als Christus erneut dem Hohen Rat auszuliefern, Christus in seinen Gliedern, die ihm so teuer sind, Christus mit seiner Wahrheit, für die Zeugnis abzulegen er in diese Welt gekommen ist?
Aus Gründen, die nicht dargelegt werden müssen, kann dies nicht unkommentiert im Raume stehen bleiben. Deshalb zur Erläuterung der hier herangezogenen Motivik: Es ist ein Faktum, daß der Gegenwartsdiskurs in der westlichen Welt, bis hinein in die Theologie (zumal in Deutschland), erheblich geprägt ist durch Rücksichtnahmen auf jüdische Präsenzen, so wie sie vor allem institutionalisiert in Erscheinung treten und welche von daher erheblichen Einfluß ausüben. Die historischen Gründe dafür sind freilich bekannt; die Gründe, die solche Rücksichtnahme generell erst einmal in ihr Recht setzen. Weit weniger dringt jedoch ins allgemeine Bewußtsein, daß dieser Sachverhalt beträchtliche diskursive Schieflagen mit sich bringt, mit erheblichen Auswirkungen für die Selbstbestimmung von Religionsgemeinschaften, was ihre intimsten Angelegenheiten angeht, wie die Gestaltung ihrer Liturgie und die Formulierung ihres Selbstverständnisses im Verhältnis zu anderen. Klar, worauf ich mit dieser zunächst religionssoziologisch-neutralen Formulierung anspiele: die Debatten um die Karfreitagsfürbitte und die Regulierung der Piusbruderschaft, Themen, die „unsere“ Religionsgemeinschaft, die katholische Kirche betreffen. – Von daher komme ich zum Schluß, daß „unsere“ Stellung im Forum der säkularen Weltöffentlichkeit mit unserem Verhältnis zu besagten jüdischen Präsenzen (die alles andere als exklusiv, aber tonangebend sind) engstens verzahnt ist: es ist dies ein Junktim. Und daß in bezug auf dieses Junktim bestimmte Themen, die mit unserer Selbstbestimmung und unserem Selbstverständnis als Glaubensgemeinschaft eng kohärieren, offensichtlich erheblich konfliktives Potential bergen, auf daß zumindest derjenige, der sich den überlieferten „Optionen“ etc. verpflichtet weiß, kaum anders kann, als hier eine bedrohliche Übergriffigkeit zu diagnostizieren. – Ich bin mir der Gefahren problematischer Assoziationen bewußt: Aber eine gewisse Parallele mit den Verhältnissen, wie sie das johanneische Schrifttum im Neuen Testament beschreibt, drängen sich auf: In der Gegnerschaft des institutionalisierten Judentums bzw. der Synagoge, die Christus und seine Jünger erfahren, artikuliert oder verdichtet sich demnach die Gegnerschaft „der Welt“: 9,39–41 und bes. 15,18–25. So riskant die Andeutung solcher Parallelen auch ist: Der im wachen Glauben mitdenkende Christ kann sich solchen Erwägungen nicht einfach entziehen. – Etwas deutlicher: Daß „ir Deutsche“ ständig unsere Vergangenheit „aufs Brot geschmiert bekommen“, was sich „die frechen Israelis“ da unten so alles erlauben etc.: das sind doch mehr Themen für grölende Glatzköpfe mit tumber Vorliebe für Erdfarben und barbarische Schriftzeichen. Mein Thema hat mit etwas anderem zu tun: Es ist das Regiment eines gewissen Weisen lessingscher Prägung, das sich unmerklich bei uns eingeschlichen hat, um seine Despotie um so nachhaltiger zu entfalten, ein Regiment, das man auf besagte „jüdische Präsenzen“ alles andere als reduzieren kann, damit jedoch nachhaltig verflochten ist.
Von daher erlaube ich mir eine letzte Provokation in dieser Angelegenheit, in dem ich folgende Szene zu zeichnen wage: In dieser schweren Stunde (in Sachen Piusbruderschaft etc.) tritt Christus erneut an jeden maßgeblich Beteiligten heran, vom Heiligen Vater bis zu jedem einzelnen Theologen mit Meinungsführerschaft, Er zeigt ihm seine Wunden, und Er fragt ihn: „Was ist dir lieber, die Freundschaft mit mir oder die Freundschaft der Welt? Stehst du mir bei in meiner Agonie, die ich noch immer leide, oder opferst du meine mir teuren Glieder der Freundschaft mit jenen tonangebenden Stimmen, auch unter meinen leiblichen Brüdern, die meinen, die Maßstäbe für Humanität definieren zu dürfen?“ Und die allzu beflissenen Anwälte der jüdisch-christlichen „Versöhnung“ fragt er: „Glaubst du wirklich, mir einen Dienst zu erweisen, indem du Soldarität mit meinen jüdischen Brüdern dadurch übst, daß du die Glieder meines Leibes preisgibst? Merkst du nicht, wie weh du mir damit tust? Fasele mir nicht zu viel von ‚Gottes Augapfel‘; wie, wenn gerade sie es sind, die du mit deinem Protest der ‚Anständigen‘ so sehr verachtest? Ja, ich bin von Davids Samen; aber ‚Jesus‘ ist mein Name und nicht ‚Nathan‘, verwechsle das nicht! Und Christus, Gottes Weisheit und Kraft: das bin Ich.“
Positives zum Konzil und seiner Rezeption
Tücks Artikel in der Neuen Zürcher lebt ja nun nahezu davon, daß er – in Widerspruch zu Kardinal Brandmüller – die Graduierung der Verlautbarungen des Zweiten Vatikanums nach ihrer formalen Verbindlichkeit paralysiert. Er selbst verweist auf den pastoralen Charakter des Konzils. Es muß ihm da widersprochen werden. Hier gilt durchaus „concilium sui ipsius interpres“ („das Konzil ist sein eigener Interpret“). Zum einen ist die Frage nach der formalen Verbindlichkeit eigens aufgeworfen worden und vom Generalsekretariat in „Notificationes“ („Bekanntmachungen“) dahingehend beantwortet worden, daß (diesseits des Grades „de fide“) die Aussagen des Konzils eben anzunehmen sind, wie es im Sinne des Konzils ist, worüber der behandelte Gegenstand und der Tenor der Lehrvorlage Auskunft gibt. Entsprechend ist gleichwohl ein gewichtiger Unterschied zu machen zwischen bloßen Erklärungen einer- und den dogmatischen Konstitutionen andererseits. Und auch innerhalb der Konstitutionen sind Unterschiede zu verzeichnen. Die Deskription der konkreten Weise, wie sich die Kirchlichkeit bzw. kirchliche Vermittlung der möglichen Heilserreichung derer gestaltet, denen ohne eigene Schuld die „volle Eingliederung“ fehlt, nämlich unter LG 15 u. 16, scheint mir vergleichsweise niederrangig anzusiedeln und deshalb konstruktiver inhaltlicher Detailkritik leichter zuführbar zu sein, nämlich gegenüber der Hierarchologie, wie sie unter LG 18–27(/29) breit entfaltet wird: Unter LG 18 Ende wird in einem Atemzug das Papstdogma von „Pastor aeternus“ förmlich bestätigt und die Absicht bekundet, in Fortsetzung davon die Lehre von den Bischöfen „vor allen zu bekennen und zu erklären“ („coram omnibus profiteri et declarare“). Damit wird nicht alles gleichermaßen verbindlich gemacht (vgl. das „docet Sacra sive Sancta Synodus“ unter den Nummern 20 u. 21), jedoch die Höhe des Lehrgegenstandes seiner Gesamtheit nach markiert. Mit Blick auf die Kollegialitätslehre, inzwischen ein klassischer Stein des Anstoßes für die Traditionalisten, will ich damit denn auch wirklich nicht meinerseits eine Hürde markieren. Vielmehr: Ich bin der dezidierten Ansicht, daß zumal im Lichte der berühmten „Nota explicativa praevia“ die bischöfliche Mitträgerschaft der höchsten Gewalt, sondern konstituiert sie: Der Papst behält die höchste Gewalt unabhängig vom Kollegium der Bischöfe, wobei letzteres diese Gewalt im Sinne einer wesensmäßigen „Ausweitung“ vom Primat her mitbesitzt. – Für diese Sicht gibt es, worauf ich schon anderswo hingewiesen habe, Vorbilder in der Neuscholastik. Allem voran im Traktat „De ecclesia Christi“ von Kardinal Louis Billot (Tomus 3, Rom 1900, 91–95). Bemerkens¬werte Anklänge der späteren Lehre des Zweiten Vatikanums finden sich zum Beispiel schon bei Clemens Schrader, der denn auch schon Erwägungen anstellt, die in Richtung auf die vom Konzil gelehrte sakramentale Rückbindung der Bischofsjurisdiktion in der Bischofsweihe weisen („De Corpore Christi mystico sive De ecclesia Christi theses“, hgg. von H. Schauf, Freiburg 1959, 296–301). – Die Sa¬che mit der Kollegialität etc. ist also tatsächlich ein illustrer Anwendungsfall für die „Hermeneutik der Kontinuität und nicht des Bruches“. In der Tat steht hier eine (nahezu vollständige) Neurezeption des Konzils an, die denn auch mit der Vorstellung, das Konzil biete die ideologische Grundlage für eine zentrifugale Episkopalpolitik, von Grund auf bricht.
Noch ein letztes: Im nachkonziliären Konflikt zwischen Konzilsanhängern – ich beziehe mich herbei auf die Lehramtstreuen – und konzilskritischen Traditionalisten, ja unter Umständen gar zwischen unterschiedlichen Nuancierungen innerhalb des konzilskritischen Traditionalistenlagers geht es nicht unwesentlich auch um die Wahrung zweier Ansprüche: einerseits der Trennschärfe der überlieferten Doktrin, die denn auch nicht zur Verhandlung ansteht bzw. anstehen darf; andererseits der sachgerechten Umschreibung der komplexen Verhältnisse. Und dies läßt sich schön verdeutlichen am Beispiel des Verhältnisses der heilsnotwendigen Kirche zu denen, die faktisch draußen sind, worin ja auf „dem Konzil“ und noch in seiner Folge viel gerungen wurde. – Daß nun unterschiedliche theologische Ansätze, die legitim sind, hier entsprechend unterschiedliche Akzente setzen, ist naheliegend: hier aller Akzent auf der Deutlichkeit der Grenzziehung, dort viel Sinn für die Erfordernisse einer differenzierten Anwendung. Wenn man will, kann man das, was man als „Integralismus“ bezeichnet, als eine Haltung bestimmen, welche derart exklusiv die Wahrung besagter Trennschärfe im Auge hat, daß sie dafür die der Komplexität geschuldeten Differenzierungen opfert, zumal wenn diese Haltung von Emotionen und Ressenti¬ments getragen ist. „Liberalismus“ (in der Doktrin) entsteht dann, wenn die komplexe Deskription und Würdigung, zum Beispiel derer „draußen“, die doktrinalen Grenzziehungen opfert, um die sachgemäße Anwendung der Doktrin zu einem Latitudinarismus, der die Doktrin längst vergessen hat, zu verfälschen. Der, bei der menschlichen Begrenztheit schwer zu vermeidende, Antagonismus zwischen den oben angedeuteten legitimieren Akzentuierungen läßt sich nun, was eben das Verhältnis der Kirche zu denen draußen angeht, bis in die Neuscholastik zurückverfolgen. So bestimmt zum Beispiel Louis Billot, ein Beispiel bester französischer Clairvoyance, die Zugehörigkeit zur Kirche unter der exklusiven Dualität „in re – in voto“ („in der Sache – dem Wunsch nach“; in: De Ecclesia Christi I, theses 2, 10–14, Rom 1898, 108–129, 292–337): sobald ein Kriterium „in re“ nicht verwirklicht ist, liegt nur noch Mitgliedschaft „in voto“ vor, auch bei Getauften. Johann Baptist Franzelin formuliert nicht die explizite Gegenthese. Da er jedoch grundlegend zwischen der Zugehörigkeit zur Kirche einfachhin und im integralen Sinne („simpliciter et ex integro“) und der Zugehörigkeit (oder dem Bezug) zu ihr „gemäß etwas“ und im partiellen Sinne („secundum quid et ex parte“) unterscheidet, eröffnet ihm dies die Möglichkeit, gerade die Stellung der getauften Nichtkatholiken eingehender zu würdigen: Die bloß materiellen Häretiker sind kraft ihrer Taufe Glieder der Kirche im Urteil Gottes, wenngleich nicht im „forum externum“ der Kirche (De Ecclesia Christi, thesis 23, Rom 1887, 402–423). Und ausdrücklich gibt er sich Rechenschaft darüber, wie schwer es ist, die Grenzen für ein unüberwindliches (und so entschuldbares) Nichtwissen zu ziehen, um sich dazu auch auf Papst Pius IX. selber berufen zu können (ibd., 406). Es scheint eben, daß die Sicht Franzelins stärker von der Geschichte und den Verhältnissen des Volkes seiner Muttersprache bestimmt war: als Deutschsprachiger wußte man eben, daß es da, und sei es jenseits der eigenen Herkunftsregion, auch noch „die Lutherischen“ o.ä. gibt, wußte man um eine Bikonfessionalität, die faktische Selbstverständlichkeit war. Während nun die Deskription Billots im kurz angebundenen „reapse“ („zu den Gliedern der Kirche sind tatsächlich / in Wahrheit allein diejenigen zu zählen“) von „Mystici Corporis“ (DS 3802) einen deutlicheren Anhalt findet, kann man im „plene incorporantur“ („jene werden der Gemeinschaft der Kirche voll eingegliedert“) von LG 14 ein Echo auf die Darstellung bei Franzelin erkennen. (Man beachte auch, daß dem „plene incorporari“ unter LG 14 gerade kein ausdrückliches „partialiter incorporari“ unter LG 15 entspricht). – Man mag nicht zu Unrecht fragen, ob der Verzicht auf Franzelins „simpliciter“ im Konzilstext nicht schon Gefahren für besagte „Trennschärfe“ birgt; das größere Problem ist jedoch das oben benannte: daß die differenzierte Beschreibung der möglichen Heilserlangung durch Kirchenbezug mit Blick auf diejenigen, die schuldlos (einfachhin) draußen sind, nicht konzertiert ist durch eine ebenso nachdrücklich betonte (objektive) Heilsgefährdung für die letztgenannte Personengruppe.
Damit will ich für eines geworben haben: Auch im Rahmen eines zu erhoffenden offeneren Diskurses über das Konzil möge man die legitime theologische Vielfalt nicht übersehen. Der berechtigte Rückgriff auf die Tradition darf nicht zu plakativen Entgegensetzungen verleiten, die in der Tradition, so wie sie sich in der theologischen Reflexion bei unverdächtigen Vertretern darstellt, in Wahrheit keinen Anhalt haben. Sowohl diejenigen, die alles Gewicht auf die Trennschärfe legen, um der Differenzierung weniger zugeneigt zu sein, um somit durch den Abgrund des „Integralismus„gefährdet zu sein, als auch diejenigen, die stärker auf die komplexe Deskription setzen, die im Gegenzug den Abgrund des „Liberalismus“ oder „Latitudinarismus“ vor Augen haben müssen, haben Platz im Ringen um die Wahrheit, solange sie alle unzweideutig und vorbehaltlos die überlieferte Glaubensregel („regula fidei“) anerkennen und deren für alle geltendes Richtmaß so konsequent anerkennen, daß sie hierbei nicht ihren eigenen Eifer damit verwechseln.
„Ut omnes unum sint – daß sie alle eins seien“ (Joh 17,21), kann man da nur wünschen. Eins in der heiligenden Wahrheit, in der sie alleine eins sein können, aber auch um der Wahrheit willen, damit diese durch gemeinsames Ringen im Bewußtsein desselben apostolischen Maßstabes um so klarer hervortrete:
„Und Ich habe die Klarheit, die Du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins sind, wie Wir eins sind; Ich in ihnen, und Du in mir, damit sie vollendet seien auf eines hin: damit die Welt erkenne, daß Du mich gesandt hast und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast.“ (Joh 17,22sq.).
Dr. theol. Klaus Obenauer ist Privatdozent an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Obenauer betont zu Recht: Nur in der Treue zum apostolischen Glauben liegt der Schlüssel zu wahrer Reform der Kirche.
Auch kirchliche Einheit ist nur dort möglich, wo man sich offen und ehrlich diesem apostolischen Anspruch und Auftrag der Kirche stellt.