Eminenz, Ihr Hauptbetätigungsfeld ist die praktische Umsetzung des christlichen Gebots der Nächstenliebe. Kann es authentische Liebe zum Nächsten ohne Liebe zu Gott geben?
Das entscheidende Wort in Ihrer Frage ist der Begriff „authentisch“. Einmal ist die Aufforderung zur Nächstenliebe fraglos in der westlichen Kultur und ihrem Einflußbereich überall vernehmbar. Denken Sie nur an die beeindruckende Reaktion auf das schreckliche Erdbeben in Haiti; die Anteilnahme der Medien, die immer wieder berichtet haben; das Engagement der Künstler und Popstars; die Stellungnahmen der Politiker. Fraglos war das alles nicht direkt und notwendig von der Liebe zu Gott inspiriert, hatte aber dennoch sein großes Gewicht und ist höchst erfreulich auch für die Glaubenden. Selbst nicht-christliche Religionen wie Islam oder Buddhismus haben sich die Sorge um den leidenden Mitmenschen inzwischen zu Eigen gemacht.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Dennoch dürfen wir mit Stolz festhalten: Es war Jesus Christus, der durch seine Botschaft und sein Leben das Gebot der Nächstenliebe gestiftet hat. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es läßt sich historisch nachweisen, daß diese Aufforderung nicht von andern Religionsgründern formuliert wurde und auch keineswegs der klassischen Antike oder gar deren Wiederentdeckung durch die Humanisten im Europa der Neuzeit entstammt.
Freilich kann solcher Anspruch auf das „Copy-Right“ schmerzhaft auf die Probe gestellt werden: Ich werde dem christlichen Anspruch der Nächstenliebe nur dann gerecht, wenn ich versuche, auch den Widerwärtigen, auch den Feind zu lieben. Hier zeigt sich, daß das Zentrale der neutestamentlichen Liebe nicht Gefühl oder Zuneigung sind, sondern die sachliche Tat, die mit und von Gott her immer möglich ist.
Das Christentum ist im Vergleich zu allen anderen Religionen und Ideologien „das ganz Andere“. Wird dieses „ganz Andere“ in den sogenannten westlichen Staaten noch ausreichend sichtbar im Konzert der Vielfältigkeiten?
In der Perspektive der Öffentlichkeit und bei politischen Entscheidungen fehlt es fast immer an den Elementen, die das „Wesen des Christentums“ ausmachen – etwa an der eben angesprochenen Feindesliebe. Von außen betrachtet, erscheint unser Glaube wie alle andern Religionen. Im „Konzert der Vielfältigkeiten“ wird das Christentum schlicht gleich geordnet, gleichgeschaltet. Dieser Prozeß der Nivellierung des Spezifischen ist kaum rückgängig zu machen. Und er hat auch sein Gutes. Denn einmal können wir zusammen mit andern Religionen öffentlich dafür eintreten, daß Religion ein unleugbares Element menschlichen Seins ist – ein nicht unwichtiges Unterfangen angesichts etwa mancher Hirnforscher – wie Wolf Joachim Singer, Frankfurt – die dem Menschen eigenständige Geistigkeit absprechen und ihn unter empirisch gesteuerte Mechanismen einordnen. (Prof. Singer ist übrigens einer der führenden Köpfe der antitheistischen „Giordano-Bruno-Gesellschaft“, Berlin).
Die Zeit seiner kulturellen Resonanz läuft ab. Und damit die einer besonderen Schonfrist für uns Glaubende.
Doch wie dem Spezifischen mehr Leuchtkraft geben? Es wird wahrgenommen in dem Maß, in dem es Christen zeigen. Die Zeit seiner kulturellen Resonanz läuft ab. Und damit die einer besonderen Schonfrist für uns Glaubende. Wir brauchen Zeugen, die es gemeinhin sichtbar leben. Manchmal gibt es attraktive Kirchengemeinden. Andere erlebe ich in neuen „Geistlichen Bewegungen“: Charismatische Gemeinde-Erneuerung, Neukatechumenat, Comunione e Liberazione, Focolare, Schönstatt, Sant Egidio – um wenigstens einige zu nennen. Nicht Vollkommenheit zeichnet ihre Mitglieder aus – gewiß. Aber sie sind eine Hoffnung. Erst kürzlich hatte Papst Benedikt wieder von ihnen gesagt, in ihnen zeige sich „die Kraft des Heiligen Geistes, der neue Wege schenkt und in unvorhergesehenen Weisen die Kirche immer wieder jung hält.“
Nach wie vor schwingt in der kollektiven Wahrnehmung unterschwellig die angebliche „Macht“ der Kirche mit. War Macht aber eigentlich nicht zu allen Zeiten weltlich? War die angebliche Macht der Kirche also nicht immer vom Verhältnis und dem Wohlwollen der weltlichen Machthaber abhängig?
Bei der Frage nach der weltlichen Macht der Kirche müssen wir einmal beachten, daß wir Kirche in der Welt sind. Das 2. Vatikanische Konzil hat sich gründlich und ausführlich mit der Unterschiedlichkeit beider Bereiche und deren Verwiesenheit aufeinander befaßt. Nach der Pastoralkonstitution geht die Kirche „den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ (Nr. 40).
Jesus selbst hatte sich ja schon bei der Gründung der Kirche der Strukturen des auserwählten Volkes bedient
Das Konzil zieht daraus den Schluß, daß sich die Kirche auf die Welt einzulassen und von ihr zu lernen hat. Das hat sich durch die Geschichte der Kirche hin in der Übernahme philosophischer Strömungen, anthropologischer Fragen und gesellschaftlicher Modelle zum Vorteil des Evangeliums immer wieder vollzogen. Kirche ist kein musealer Torso.
Jesus selbst hatte sich ja schon bei der Gründung der Kirche der Strukturen des auserwählten Volkes bedient, soweit sie seiner Sendung dienen konnten. Natürlich ist dies Miteinander von weltlicher und geistlicher Ordnung immer delikat und ist auch gelegentlich mißlungen (übrigens viel seltener, als Kirchenkritiker uns einzureden versuchen!).
Dabei war u. U. das Interesse von Kirchenvertretern an weltlicher Macht, aber auch das von weltlichen Führern an Macht über kirchliche Bereiche von Übel. (Heute tragen im Parteienstreit solche gesellschaftliche Größen manchmal das Bekenntnis ihrer Kirchenzugehörigkeit vor sich her – „Ich bin katholisch“ – um dann munter anthropologische oder ethische Thesen zu verkünden, die weit entfernt sind von der kirchlichen Lehre).
Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“ hat sich nicht bewährt, sondern zur Abhängigkeit seiner Glaubensgemeinschaft vom Kirchenregiment der Fürsten geführt
Wie also könnte die Kirche ihren Auftrag, das Evangelium heute zu den Menschen zu tragen, erfüllen, ohne eine gesellschaftliche Stimme zu haben? Die Kirche kann sich nicht spiritualistisch verflüchtigen, will sie ihrer Sendung nicht untreu werden. Dazu braucht sie eigenständige gesellschaftliche Präsenz – wenn Sie das als „Macht“ bezeichnen wollen. (Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“ hat sich nicht bewährt, sondern zur Abhängigkeit seiner Glaubensgemeinschaft vom Kirchenregiment der Fürsten geführt).
Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande
In unsern Tagen hat Papst Benedikt XVI. nicht versäumt, klare Weisungen für das Zueinander der politischen und religiösen Institutionen zu geben. Etwa in seiner ersten Enzyklika Gott ist die Liebe. Er ordnet der Politik als zentralen Auftrag zu, eine gerechte Gesellschaft heraufzuführen: Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande; deshalb müsse der Staat die Freiheit und den Frieden der Bekenner verschiedener Religionen untereinander gewährleisten. Beide Sphären, die Kirche und die Religion, „sind unterschieden, aber doch aufeinander bezogen“: Mit dieser Kompetenzzuweisung klammert der Papst aus, daß die Kirche ihre Sendung sieht in gesellschaftlichem Einfluß und im Durchsetzen politischer Ziele.
Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen
Die Geschichte hat immer wieder gezeigt: Wenn eine Glaubensgemeinschaft sich nur vorwiegend für das irdische Heil engagiert, findet sie bald keinen Glauben mehr bei der Verkündigung des ewigen Heiles (z. Bsp. „Deutsche Christen“ im Dritten Reich; z. Bsp. extreme „Befreiungstheologie“ in Lateinamerika). So umschreibt der Papst dann das Feld, für das die Kirche in der Verwiesenheit beider Sphären aufeinander Verantwortung hat: „Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen.“ Das meint nicht, sie dürfe im Ringen um die Gerechtigkeit abseits bleiben. Ihre Pflicht sei vielmehr, „auf dem Weg der Argumentation“ und durch das Wecken „seelischer Kräfte“ die Menschen zu „Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten“ zu führen.
(Die Fragen stellte Jens Falk)
Paul Josef Kardinal Cordes, geboren 1934 in Kirchhundern (Kreis Olpe), empfing 1961 die Priesterweihe. Nach medizinischen, philosophischen und theologischen Studien in Münster, Paderborn und Lyon promovierte er 1971 bei Karl Lehmann. Er war für das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz tätig und wurde 1975 von Papst Paul VI. zum Weihbischof von Paderborn ernannt und im Jahr darauf geweiht. 1980 berief ihn ihn Papst Johannes Paul II. als Vizepräsident des Päpstlichen Rates für die Laien nach Rom. 1995 wurde er zum Titularerzbischof und zum Präsidenten des Päpstlichen Rates „Cor Unum“ ernannt und 2007 von Papst Benedikt XVI. ins Kardinalskollegium aufgenommen.