(Vatikan) Der Audienzkalender von Papst Franziskus ist dichtgedrängt. Heute, Freitag, empfing der Papst am Vormittag Mauro Kardinal Piacenza, Präfekt der Kleruskongregation. Es ist nicht bekannt, ob dabei auch das venezolanische Interview des künftigen Staatssekretärs Pietro Parolin mit Aussagen zum Priesterzölibat oder mehr eigentlich die Reaktionen darauf zur Sprache kamen. Ebenso in Audienz empfangen wurden hintereinander der Großpönitentiar Manuel Kardinal Monteiro de Castro und der Erzbischof von Florenz, Giuseppe Kardinal Betori.
Der Papst empfing weiters Miguel Insulza, den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Der Chilene hatte, bevor er 2005 das OAS-Amt übernahm, seine politische Karriere am äußersten linken Flügel der christdemokratischen Partei Chiles begonnen, der zur Bildung der Koalition Unidad Popular mit der chilenischen Volksfront drängte, die 1970 bei den Präsidentschaftswahlen Salvador Allende zum Sieg führte. Vor zwei Tagen, am 11. September war der 40. Jahrestag des Militärputsches, mit dem General Augusto Pinochet Allende 1973 stürzte und Insulza ins Exil zwang.
Gestern nachmittag empfing Papst Franziskus den „Vater der Befreiungstheologie“ Gustavo Gutierrez, der lange von der Glaubenskongregation beobachtet wurde, der sich aber im Gegensatz zu anderen Befreiungstheologen nicht dem Marxismus unterordnete, weshalb seine Schriften nie verurteilt wurden. Das Treffen im Domus Santa Marta wird als Geste der Versöhnung gewertet, die durch Glaubenspräfekt Gerhard Ludwig Müller, einem langjährigen Freund von Gutierrez vorangetrieben wird. Ein Versuch, die vom Marxismus befreite Befreiungstheologie in die Kirche zu integrieren.
Indiz dieser „Integration“ nach konfliktreichen Jahrzehnten, die sich erst mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks abschwächten, ist auch ein am Mittwoch vom Osservatore Romano veröffentlichtes Interview mit Gutierrez. Darin kam der peruanische Theologe auch auf die beiden klärenden Instruktionen der Glaubenskongregation, Libertatis nuntius (1984) und Libertatis coscientia (1986) zu sprechen, die von der Glaubenskongregation unter der Leitung von Joseph Kardinal Ratzinger zur Unterscheidung der Geister über die Befreiungstheologie veröffentlicht wurden. In ihnen wurden marxistische Elemente der Befreiungstheologie herausgearbeitet und verurteilt.
30 Jahre danach und in einem völlig veränderten politischen Klima sagte Gutierrez im Osservatore Romano-Interview mit erstaunlichem Optimismus dazu: „Manchmal sind diese Texte nicht genau gelesen worden. Zum Beispiel wurde in der ersten Instruktion gesagt, daß später ein positiveres Dokument erarbeitet würde. Eine Art, um zu sagen, daß das ein negativer Text war, der einzig auf die Irrtümer schaute. Es ist die Pflicht des Lehramtes, Anmerkungen zu machen, auch wenn im ersten Dokument von der Befreiungstheologie auf sehr allgemeine Weise gesprochen wird. Die Befreiungstheologie besteht aus Namen und Menschen, nicht aus Ideen, die von ihrem Kontext losgelöst sind. Die zweite vatikanische Instruktion versucht besser den Sinn dieser Theologie zu verstehen. Aber das alles gehört in der Zwischenzeit der Vergangenheit an, weil heute die Befreiungstheologie besser bekannt und mehr geschätzt wird als früher.“
Warum dies so ist, begründet Gutierrez im Interview folgendermaßen:
„Ich glaube, daß die Befreiungstheologie heute voller Ressourcen sei und nicht an Biß verloren habe, und das allein schon wegen der Tatsache, daß das Thema der Armut immer da ist, und das immer drängender. Die Armut ist ein biblisches, ein ewiges Thema.“
Was aber meint der Ausdruck „Armut“? Ein kurzer Einblick in das soziologisierende und psychologisierende Denken von Gustavo Gutierrez:
Für Gutierrez ist Begriff Armut „komplex, da es die reale Armut gibt, die die Situation von dem meint, der nicht viel zählt, der unbedeutend ist aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen seiner Kultur, Sprache, Hautfarbe oder wegen der Zugehörigkeit zur weiblichen Welt, die zu den am meisten benachteiligten gehört. Wir sind deutlich in der Feststellung, daß die Armut nie eine allein ist und vor allem, daß sie nie gut ist.“
Und weiter:
Nach Medellin (1968) wurde von der Befreiungstheologie eine Unterscheidung vorgenommen. In erster Linie, ich wiederhole es, gibt es die reale oder materielle Armut, ich bevorzuge es von realer zu sprechen; dann gibt es die geistliche Armut, wie Hannah Arendt sagte, die jener, die kein Recht haben Rechte zu haben; schließlich noch die Armut als Solidarität mit den Armen und gegen die Armut. Die geistliche Armut ist eine Metapher im Sinn, daß sie das Wort Armut aufgreift, das einem präzisen semantischen Kontext angehört, und es auf einen anderen überträgt. Geistliche Armut, ein Ausdruck, der in der Geschichte auf seltsame und reduktive Weise gebraucht wurde, bedeutet nämlich genau, das eigene Leben in die Hände Gottes zu legen, das eigene Dasein der Hilfsbedürftigkeit und der Kleinheit anzuerkennen. Letztlich gibt es die Armut als Anteilnahme, deren allen bekanntes großes Beispiel Bischof Romero ist: er war bestimmt nicht arm im Sinn von unbedeutend, aber er solidarisierte sich mit den Armen gegen die Armut.
Und schließlich:
Die Befreiungstheologie ist keine Theologie der sozialen Befreiung, auch wenn die Befreiung einen sozialen Aspekt hat; es gibt auch die persönliche Befreiung, die die Mentalität betrifft, und dann auch die Befreiung von der Sünde. Das zusammen nennt sich Heil, die somit nicht nur Rettung von der Sünde bedeutet. Daß die Befreiung Christi nicht allein nur das ist, sagt der Brief an die Galater im fünften Kapitel, wo wir am Anfang lesen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Dabei geht es nicht um einen Pleonasmus. Die Befreiungstheologie sucht die Freiheit des Menschen, der Menschheit, Freiheit von der Ungerechtigkeit, von der falschen Mentalität und schließlich von der Sünde.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican Insider