(Toledo) Giuliano Ferrara und seine Tageszeitung Il Foglio nahm mit „Begeisterung“ das Interview mit Kardinal Antonio Canizares von Toledo auf, das am 11. März vom Corriere della Sera veröffentlicht worden war. Darin erklärte der spanische Purpurträger, die Forderung nach einem internationalen Abtreibungsmoratorium zu unterstützen. Der Kardinal sagte wörtlich, daß Abtreibung „die schlimmste Verfallserscheinung der Menschheitsgeschichte“ sei.
In der gestrigen Sonntagsausgabe hakte Il Foglio mit einem eigenen Interview mit Kardinal Canizares nach. Darin geht es um Abtreibung, Abtreibungs(un)kultur und Abtreibungsgesetzgebung, die dahinter stehende Ideologie und deren nihilistischen Folgen, die Autonomie des modernen Menschen und neue Rechtsvorstellungen. Eine Kernfrage des Interviews:
Il Foglio: Warum sind Sie der Meinung, daß das Abtreibungsthema heute so entscheidend sei, wichtiger als andere Probleme?
Kardinal Canizares: Die Abtreibung ist die Verletzung des grundlegendsten und heiligsten aller Menschenrechte: des Rechts auf Leben, das auf das engste mit der unverletzlichen Würde eines jeden Menschen verbunden ist und damit die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und der Gesellschaft bildet. Mit der Abtreibung verletzt man den Grundsatz des „Nicht-Tötens“, der in die Natur des Menschen eingeschrieben ist und zur „gemeinsamen Grammatik“ des menschlichen Wesens gehört. Es handelt sich um ein Verbrechen gegen die Person und die Gesellschaft, das sich zudem gegen unschuldige, schwache und wehrlose Menschen richtet.
Den Tod durch Abtreibung eines Unschuldigen zu legitimieren bedeutet, das Fundament der Gesellschaft zu untergraben und zu zerstören. Die so massive Anwendung der legalisierten Abtreibung in unseren Tagen – es sind jährlich viele Millionen – auf der Grundlage einer entsprechenden Gesetzgebung, die in der einen oder anderen Weise die Abtreibung fördert, stellt eine ungeheure Niederlage für die Menschheit dar: in Wirklichkeit werden nämlich der Mann und die Frau besiegt. Es wird die Gesellschaft besiegt, die auf dem Allgemeinwohl gründet, da man mit der Abtreibung das Leben eines Menschen für niedere Werte und das Allgemeinwohl mit der Zerstörung des Lebens häufig einfach dem Wohlstand opfert. Es wird der Arzt besiegt, der seinen Eid verleugnet und den höchsten Ehrentitel der Medizin: das menschliche Leben zu schützen und zu retten. Es werden die Gesetzgeber besiegt und jene, die für die Wahrung des Rechts zu sorgen haben, denn sie alle sind dazu berufen, Gerechtigkeit zu verwirklichen und den Schwachen zu verteidigen. Es wird nicht zuletzt auch der Rechtsstaat besiegt, der auf den grundlegendsten Schutz verzichtet, den er dem heiligen Recht einer jeden Person auf Leben schuldet.
Anstatt seiner Verpflichtung gemäß zum Schutz des Unschuldigen in Gefahr zu intervenieren, dessen Tod zu verhindern und mit geeigneten Mitteln sicherzustellen, daß seine Existenz und sein Aufwachsen garantiert ist, erlaubt der Staat mit seinen Gesetzen die Verletzung eines Elementarrechts und die Exekution ungerechter „Todesurteile“, ohne daß der zum Tode Verurteilte sich wehren kann. Auf diese Art vertritt man nicht den Rechtsstaat.
Wir können das Ganze noch vertiefen: Die abtreibungsfreundlichen Gesetzgebungen stellen den menschlichen Charakter des neuen Lebewesens in Frage, das gezeugt wurde und im Mutterleib heranwächst. In diesen Gesetzgebungen ist dieses Lebewesen eine Sache, ein irgendwas, nicht ein Jemand, ein Wer, dessen Persönlichkeitsrechte man nicht unterschlagen kann, die jedem menschlichen Wesen untrennbar innewohnen. Damit wird nicht nur das Grundrecht auf Leben in Frage gestellt, sondern auch die Person selbst. Davon ausgehend weiß man schon nicht mehr, wer das Subjekt des Grundrechts auf Leben ist: das menschliche Wesen simpliciter ut talis als solches oder jenes, das die Gesetzgeber, die Parlamentsmehrheiten, im Klartext jene die Macht ausüben, bestimmen, für ein solches zu halten?
Hier geht es um eine schwerwiegende Grundsatzfrage: Wer, wann und wie ist ein Mensch. Wer entscheidet das? Oder liegt es in den Händen des Menschen – der Machthaber – zu entscheiden, wann man eine Person ist? Das alles hat enorme Konsequenzen, zum Beispiel im Verständnis der Menschenrechte, im Bereich der Zeugung und der Erweiterung “neuer“ Rechte usw. Deswegen ist das Thema Abtreibung so entscheidend, wichtiger als die anderen Probleme. So versteht man, weshalb es das schwerwiegendste Problem ist, das es in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat
(Il Foglio/JF)