Wenn man von der Reinheit Marias spricht, bezieht man den Begriff unwillkürlich auf die geschlechtliche Sphäre und sieht in ihr jeden Menschen, dessen ganze Liebes- und Lebenskraft in vollkommener Hingabe zu Gott ging. Das ist richtig, sagt aber nicht genug; vielleicht nicht einmal das Eigentliche. Der Eindruck einzigartiger Reinheit, der von ihr ausgeht, wurzelt in der Weise ihres Existierens: darin, daß der Glaube einfachhin zur Form ihres persönlich-weiblichen Lebens, und die Wirklichkeit, welche sie glaubte, zum Inhalt ihres unmittelbaren Daseins wurde – in einer Einheit, welche ebensoviel Gnade wie Natürlichkeit, Gehorsam wie Erfüllung, Leistung wie Schönheit war.
Mit diesem Glauben geht Maria aus dem Alten in das Neue Testament hinüber: Indem sie Mutter wird, wird sie Christin. Diese Tatsache ist ebenso tief, wie sie einfach ist. Ein einziges Faktum; eine einzige Haltung; eine einzige Verwirklichung. Das ist nicht auszuschöpfen. Es bedeutet mehr als alle Außergewöhnlichkeit der Legende. Der Erlöser Aller ist ihr Sohn. In der Aufgabe, die Alle angeht, verwirklicht sie ihr Eigenstes: nicht nur im Gehorsam das Weib zu sein, das das sein muß, wenn Menschwerdung geschehen soll, sondern ebendamit, persönlich, als dieses Weib, als diese Mutter, in ihrer eigene Erlösung einzutreten.
(Romano Guardini: Die Mutter des Herrn)