Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich gerne mit euch über das Gebet Jesu vor seinem Tod am Kreuz meditieren. Der Evangelist Markus berichtet: »Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloï , Eloï , lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34). Aus den Evangelien wissen wir, daß der Herr sechs Stunden, von neun Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags, am Kreuz hing. Die ersten drei Stunden waren begleitet vom Spott verschiedener Personengruppen, die damit ihren Unglauben bekundeten. Von den drei darauffolgenden Stunden sagt der Evangelist, daß eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Auch der Kosmos nimmt teil an dem Ereignis des herannahenden Todes des Gottessohnes. Die Finsternis erfaßt Menschen und Dinge. Inmitten von alldem zeigt der Herr durch sein Gebet, daß er sich der Nähe des Vaters gewiß ist, der diesen höchsten Akt der Liebe annimmt, wenngleich seine Stimme nicht hörbar ist. Jesus stirbt betend. Und die Gebetsworte Jesu sind nicht irgendwelche Worte, die er in diesem Augenblick selbst erfunden hätte. Sie sind der Anfang von Psalm 22, in dem der Psalmist die Spannung zwischen der Not und der Gottverlassenheit Israels sowie der Gewißheit seiner Hoffnung, der Gewißheit der bleibenden Gegenwart und Güte Gottes, ausdrückt. Er betet mit dem gesamten leidenden und betenden Israel. Indem er dieses Gebet spricht, nimmt er das Gebet Israels, seine Leiden und seine Nöte auf und trägt sie in die Gewißheit des Hoffens und Glaubens hinein – und nicht nur das Leiden Israels, sondern das Leiden aller Menschen, die nach Gott suchen und ihn nicht finden können. Alle Not und Bedrängnis der Welt ist in dieses Gebet hineingenommen, das ein Gebet der Menschheit ist, das er zu seinem macht und damit an das Herz Gottes bringt. Die Evangelisten haben uns bewußt den Wortlaut, den Wortklang im Aramäischen überliefern wollen, so daß wir gleichsam direkt hören können, wie Jesus diese uralte Gebetsüberlieferung aufnimmt und in den Akt seiner Hingabe an den Vater umwandelt und uns hineinzieht. Das Gebet Jesu ist nicht der Schrei von jemandem, der nicht mehr weiß, was er soll, oder der verzweifelt auf den Tod zuginge. Es ist das Gebet Israels und der Menschheit, das Gebet von Menschen, die durch das Böse bedrängt werden und die doch alles zum Herzen Gottes bringen. Und er gibt ihm seine letzte Gewißheit, daß unser Schreien in der Auferstehung endlich seine Antwort finden wird. So drücken die Worte Jesu einerseits die ganze Not der Menschheit und unser aller Bedrängnis aus. Zugleich aber durchdringen und durchtränken sie es mit Vertrauen und Hingabe und geben es in die Hände des nur scheinbar schweigenden Gottes. Sie lassen uns gewiß werden, daß der schweigende Gott doch der nahe und rettende Gott ist.
Einen herzlichen Gruß richte ich an alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Bringen auch wir Gott im Gebet unser tägliches Kreuz, im Bewußtsein, daß er da ist und uns erhört, daß wir hineinbeten in das Beten Jesu, in das Beten der Menschheit und so in das Hören Gottes. Das Beispiel Jesu lehrt uns vor allem auch, für die vielen zu beten, die die Last des täglichen Lebens fühlen, die nur die Abwesenheit Gottes spüren und seine Anwesenheit nicht wahrnehmen, um sie in unser Gebet hinein und so zu Gott hinaufzuziehen. Dies ist die Gewißheit, mit der uns das Beten Jesu erfüllt: Gott ist gegenwärtig, seine Liebe ist größer als aller Haß und aller Schmerz dieser Welt.