(Paris) Das französische Wochenmagazin L’Express widmete der Freimaurerei in der Stadt Lille in der Vorwoche eine Reportage von 20 Seiten. Laut L’Express zählt die nordfranzösische Stadt mit ihren 225.000 Einwohnern die außergewöhnlich hohe Zahl von mehr als 3000 Freimaurern und 80 Logen. Nimmt man das umliegende Einzugsgebiet von Roubaix und Villeneuve-d’Ascq hinzu, gibt es in dieser Nordregion 92 Logen mit über 5000 “Eingeweihten“.
Damit ist Lille zumindest in dieser Hinsicht die Hauptstadt der Freimaurerei in Frankreich und in Europa. Oder wie ein nichtfreimaurerischer Manager L’Express sagte: „Von dieser Stadt hat man nichts verstanden, wenn man ihre freimaurerische Bedeutung kennt.“
Lille Freimaurerhauptstadt Frankreichs und Europas
Lille ist auch keineswegs unbedeutend für die französische Politik. Die Stadt ist für die Sozialistische Partei Frankreichs das, was für die italienischen Linksdemokraten Bologna oder die österreichische Sozialdemokratie Wien ist. Die Vorsitzende der Sozialistischen Partei Frankreichs, Martine Aubry, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden der Europäischen Kommission, Jacques Delors, ist zugleich auch Bürgermeisterin von Lille. Von L’Express befragt, bestritt Aubry, daß auch ihr zweiter Ehemann, der Rechtsanwalt Jean-Louis Brochen Freimaurer sei. Vielmehr betonte sie, wenn schon versucht zu haben, in der Stadtverwaltung den übermächtigen Einfluß der Logen zurückzudrängen. Die Freimaurer wiederum werfen ihr einige Sympathiebekundungen für katholische Persönlichkeiten und Einrichtungen vor. Laut L’Express befinden sich die oberen und höchsten Verwaltungsebenen der Stadtverwaltung nach wie vor fest in der Hand der Freimaurer. Laut einigen Stimmen, die von anderen bestritten werden, handle es sich im Verhältnis Freimaurerei – Bürgermeisterin mehr um familieninterne Probleme. Die freimaurerischen Unterstützer von Aubry hätten sich von der traditionsreichen Loge des Groß-Orients von Frankreich, „Licht des Nordens“ getrennt, um im Rahmen derselben freimaurerischen Obedienz die „aubrystische“ Loge „Res Publica“ zu gründen.
Ohne Logenschurz geht in vielen Sektoren gar nichts
Steigt man von der Stadt in das Parlament hinauf, sieht es nicht anders aus. Fast alle Abgeordneten der Nordregion, ob von rechts oder links, sollen Freimaurer sein. Der einzige Abgeordnete, der von sich selbst behauptet, keiner Loge anzugehören, soll nach Aussagen anderer in Wirklichkeit ebenfalls Freimaurer sein. Der Gerichtsberichterstatter der Lokalzeitung Nord Eclair schätzt, daß „mehr als die Hälfte der Rechtsanwälte und der wichtigen Richter Freimaurer sind“. Die „Brüder“ beherrschen die Wirtschaft. Zu ihrem Herrschaftsbereich gehören die große Energiegesellschaft Dalkia, die vom Freimaurer Bernard Lecomte geleitet wird, die Gewerkschaften und der Sport. Ein von L’Express Befragter wird mit der Aussage zitiert: „In der Region kann man nicht Präsident oder Verwaltungsratsmitglied einer Sparkasse werden, ohne Freimaurer zu sein.“ Im wichtigen genossenschaftlich organisierten Sektor des Bankwesens kontrollieren die Freimaurer der Region traditionell den Credit Agricole, während die Katholiken den Credit Mutuel aufbauten.
Daß diese Aufteilung nach wie vor gilt, bestätigte der ehemalige Landwirtschaftsminister und Präsident des Credit Mutuel Philippe Vasseur. Selbst kein Freimaurer, sei Vasseur, wie L’Express schreibt, inzwischen jedoch bereits stark von Freimaurern „eingekreist“, ohne daß er sich dessen immer bewußt werde. Erst spät kam er drauf, daß sein ehemaliger parlamentarischer Mitarbeiter, Philippe Rapeneau, heute Mitglied des Regionalparlaments, dem Groß-Orient von Frankreich angehört. Und vielleicht erst jetzt, indem er L’Express las, erfuhr er, daß Jean-Baptiste Tivolle, der Generaldirektor der Handelskammer der Region, deren Präsident Vasseur ist, ebenfalls dem Groß-Orient angehört.
Politik, Sex, Freimaurer und Dominique Strauss-Kahn
Die Reportage des L’Express hat als Ausgangspunkt einen Skandal von der Sorte, die stets große Aufmerksamkeit finden, wenn sich Politik und Prostitution vermischen. Im Luxushotel Carlton von Lille wurde ein Eskort-Service entdeckt mit Frauen aus Belgien. Gedeckt vom Hoteldirektor trafen sich in den Hotelzimmern VIP-Kunden mit Prostituierten, unter ihnen auch der offensichtlich bei solchen Anlässen nie fehlende ehemalige Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn. Die Prostitution ist in Frankreich illegal, doch weder die Organisatoren noch die Kunden hatten im Luxushotel von Lille Angst vor der Polizei. Der Grund dafür liegt auf der Hand, befindet sich doch auch der Polizeichef der Nordregion selbst unter den Angeklagten. Ihm wird vorgeworfen, selbst Organisator und Kunde des florierenden horizontalen Gewerbes in nobler Umgebung gewesen zu sein. Sechs von sieben Angeklagten im Carloton-Skandal sind Freimaurer. Reiner Zufall?
Lille vergleichbar mit Bologna und Wien
Man könnte sich auf fragen, warum die Freimaurer so allmächtig in dieser französischen Stadt ist. Eine erste Antwort kommt von der Politik. Die Region ist seit Jahrzehnten fest in der Hand der Sozialistischen Partei. Die Parallelen zu „roten“ Städten wie Bologna und Wien wurden bereits erwähnt. Nicht nur die führende Schicht wurde mehrheitlich in den Logen geformt. Im Unterschied zu anderen französischen Regionen sind beiden wichtigsten Obedienzen, der Groß-Orient und die Großloge in Lille seit einem Jahrhundert (!) von den Sozialisten kontrolliert. Vielleicht konnte deshalb ein Sozialist wie Strauss-Kahn daran denken, in Lille leichter davonzukommen als in New York.
Herkunft von Msgr. Marcel Lefebvre
Der eigentliche Grund für die freimaurerische Dominanz ist jedoch, daß Lille und die Nordregion traditionell zu den am stärksten katholischen Gegenden Frankreichs gehören. Die Textilindustrie, die bis vor wenigen Jahren die regionale Wirtschaft dominierte, befand sich jahrzehntelang in der Hand einer Gruppe katholisch-konservativer Familien. Es ist wohl kein Zufall, daß in einer Familie, die mit dieser Textilindustrie verbunden war, 1905 in Tourcoing Msgr. Marcel Lefebvre (1905–1991) geboren wurde. Lille und die ganze Nordregion war wie das nahe Belgien, wie weite Teile Österreichs und Bayerns, wo man nach dem „Säulensystem“ lebte, wie die Soziologen sagen, sozusagen von der Wiege bis zur Bahre getragen von der katholischen Säule oder eben von der freimaurerisch-sozialistischen.
Katholisch oder freimaurerisch von der Wiege bis zur Bahre
Wer in einer katholischen Familie geboren wird, besucht eine katholische Familie, eine katholische Universität – sehr wahrscheinlich die Universität Löwen in Belgien -, verbringt seine Freizeit mit den katholischen Pfadfindern, wo er wahrscheinlich seine künftige Ehefrau kennenlernt und arbeitet in einem katholischen Unternehmen. Der Sohn eines Freimaurers besucht eine staatliche Schule, wird dort mehrheitlich freimaurerische Lehrer haben, wird an der Freien Universität von Brüssel studieren, die lange Zeit ganz offiziell von der Freimaurerei gefördert wurde, und nachdem er nur zivil im Rathaus geheiratet hat, wird er vielleicht in einer Bank oder einem Unternehmen arbeiten, dessen Direktoren und Manager mit den Logen verbunden sind.
Die so für Belgien beschriebene Situation gilt genauso für Lille und die Nordregion. Wo es eine große und starke katholische Tradition gibt, ist die Auseinandersetzung mit der Freimaurerei intensiver. Die Freimaurerei ist seit dem 18. Jahrhundert in der Gegend präsent. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts steht Schule gegen Schule, Universität gegen Universität, Bank gegen Bank. Als Teil der freimaurerisch-sozialistischen Säule werden sie eingesetzt, um gegen die starke katholische Seite anzukämpfen und deren Hegemonie in allen Bereichen zu brechen und möglichst an deren Stelle zu treten. Diese Polarisierung ist vergleichbar mit jener in der norditalienischen Stadt Turin. Wo es eine fest verwurzelte katholische Kultur gibt, organisierten sich die Freimaurer mit um so mehr Nachdruck. Dies erinnert in manchen Zügen auch an regionale Ausprägungen des Kulturkampfes im deutschen Sprachraum.
In Lille gehören die Freimaurer zum Alltag, in Wien schreiben nur die Medien nicht darüber
In Lille handelt es sich jedoch nicht um eine ferne Vergangenheit, sondern um tagesaktuelle Meldungen, die die Zeitungsseiten füllen. In Lille ist die Freimaurerei so aktuell wie im „roten“ Wien. Der Unterschied liegt lediglich darin, daß sich die österreichische Presse den freimaurerischen Netzwerken nicht widmet. Der Lucona-Skandal bildete eine Ausnahme. Doch schon lange vor Udo Prokschs Tod kehrte wieder ein großes Schweigen zum Thema Loge und Sozialdemokratie ein.
Text: BQ/Giuseppe Nardi