von Josef Bordat
Die Bruchstelle im ethischen Diskus um Stammzellforschung, Abtreibung und Sterbehilfe liegt bei der Antwort auf die Frage nach unserem Bild vom Menschen. Aus unserer anthropologischen Perspektive läßt sich bereits die Grundhaltung ableiten, die wir gegenüber den Kernbereichen der Lebensschutzthematik einnehmen. Ob wir das tatsächliche Leben des Menschen schützen oder sein vermeintliches Leid lindern wollen. Einige Überlegungen zur Diskussion um die Schlüsselthemen des Lebensschutzes sollen die Hintergründe der konträren Positionen aufzeigen, die sich auf unterschiedliche anthropologische und ethische Postulate stützen.
I. Zur Sache
Kein Tag vergeht ohne Nachrichten, die unmittelbar das Thema Lebensschutz betreffen. In Großbritannien droht eine Regelung Gesetzeskraft zu bekommen, die „Abtreibung auf Verlangen“ ermöglicht, das therapeutische Klonen fördert und die Schaffung von Mischwesen aus Mensch und Tier erlaubt. An der Universität Stanford (USA) hat eine Forschergruppe um Stephen Quake entdeckt, daß sich im Blut der schwangeren Frau Erbgutteilchen des Kindes finden lassen, was Lebensschützer zu der Befürchtung veranlaßt, daß dies die Zahl der Abtreibungen von „Down-Syndrom-Kindern“ erhöhen wird. Und in Deutschland wirbt ein ehemaliger Spitzenpolitiker, Hamburgs Ex-Justizsenator Roger Kusch, für seine „Tötungsmaschine“, die bereits einige alternde, aber durchaus rüstige Menschen wie Bettina S. (79) und Inge I. (84) vor einem drohenden oder weiter andauernden Aufenthalt im Pflegeheim „erlöst“ hat.
II. Abhängigkeit und Autonomie
Hinter all diesen Nachrichten, und es ließen sich in diesem Zusammenhang beliebig viele weitere anführen, stehen höchst unterschiedliche Antworten auf die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein. Dahinter stehen höchst unterschiedliche Einstellung zum menschlichen Dasein, die sich in unserem Kulturkreis in zwei grundverschiedenen Menschenbildern kristallisieren: in der Vorstellung der Abhängigkeit des Menschen von Gott als seinem Schöpfer (biblisch-christliches Menschenbild) und der absoluten Autonomie des Menschen als ein Zufallsprodukt der Evolution (humanistisch-säkularistisches Menschenbild). Dabei ist fraglich, was den Menschen eher zur Freiheit befähigt: die demütige Anerkennung seiner Stellung im Schöpfungsplan oder die schrankenlose Selbstverwirklichungsbemühung, die eigensüchtig und ichbezogen zur „Lebensgier“ (Jaspers) neigt. Doch diese Frage können wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen.
III. Geschöpflichkeit: Christliches Menschenbild
Ausgangspunkt des christlichen Menschenbildes ist dabei die Geschöpflichkeit des Menschen. Gott schuf den Menschen als sein Abbild, so steht es gleich dreimal hintereinander in Gen 1, 26 und 27: „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. […] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Der evangelische Theologe Karl Barth beschreibt diese Schöpfung des Menschen als „ein Gespräch Gottes mit sich selbst, eine Beratung wie zwischen mehreren göttlichen Beratern und eine darauf begründete göttliche Beschlußfassung [1]Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik (3. Bd., 2. Teil: „Die Lehre von der Schöpfung“). Zürich 1948, S. 204. . Der Mensch sei, so Barth, „im Bilde“ und „nach dem Bilde“ Gottes geschaffen. [2]Barth: Kirchl. Dogm., S. 206. Dabei ist Gottebenbildlichkeit „keine Qualität des Menschen“, sie besteht nicht „in etwas, das der Mensch ist oder tut“, sondern „sie besteht indem der Mensch selber und als solcher als Gottes Geschöpf besteht“. Barth sagt: „Er wäre nicht Mensch, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre. Er ist Gottes Ebenbild, indem er Mensch ist.“
Damit ist der Mensch als geschaffenes Ebenbild Gottes von seinem Ursprung, seinem Wesen und seiner Zielbestimmung her nicht eigenbestimmt, seine Würde ist, im Sinne Luthers, eine dignitas aliena, eine „fremde Würde“. Etwas, das sich im Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt, denn der Sohn hat seine Sohnschaft nur im negativen Modus gelebt. Er kann seine Beziehung zum Vater nicht mehr auf seine eigene Sohnes-Würde bauen, denn diese hat er verloren. So bekennt er: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.“ (Lk 15, 21). Er muß hoffen, daß der Vater seinerseits die Beziehung neu aufbaut. Dies tut er, in dem er von sich, von seiner Würde, von seinem Besitz gibt. So antwortet der Vater auf das Bekenntnis des Sohnes: „Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an.“ (Lk 15, 22). Gewand, Ring und Schuhe sind Besitztümer des Vaters, auf die der Sohn eigentlich keinen Anspruch hat; er empfängt sie aus Gnade. Helmut Thielicke faßt das sehr schön zusammen, wenn er ausführt: „Die Ebenbildlichkeit des verlorenen Sohnes beruht nicht auf der Eigenschaft des Sohnes, Sohn geblieben zu sein, sondern auf der des Vaters, Vater geblieben zu sein.“ [3]Helmut Thielicke: Theologische Ethik. Tübingen 1972, S. 294. .
IV. Unabhängigkeit: Humanistisches Menschenbild
Dagegen steht das Autonomiekonzept des Humanismus. Wir bestimmen uns als Menschen selbst, auch über das gottgewollte Maß an Selbstbestimmung hinaus. Vielmehr spielt eine solche Bemessung im Drang nach Selbstverwirklichung gar keine Rolle, da es aus der Sicht des Humanismus‘ Gott und Gottes Willen nur als Konstrukte des Menschen gibt. Der Mensch im Humanismus ist unabhängig von jeder heteronomen Beschränkung.
Autonomie verschafft dem Menschen – um mit Kant zu sprechen – die Fähigkeit zur „Selbstgesetzgebung“. Daß die Autonomievorstellung bei Kant mit der christlichen Anthropologie und dem christlichen Würdeverständnis in der humanitas-Formal des Kategorischen Imperativ konvergieren, wird oft übersehen: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ [4]Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Zit. nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1907, S. 429. Der Mensch ist Zweck an sich selbst, er ist Selbstzweck. Das heißt umgekehrt aber auch, daß überall dort, wo der Mensch als Mittel zu einem vermeintlich höheren Zweck dient, seine Würde verletzt wird.
V. Die Anthropologie geht der Ethik voraus
Gerade die Instrumentalisierung menschlichen Lebens ist es, die bei Fragen des Lebensschutzes zur Debatte steht. Das Menschenbild bestimmt dabei unweigerlich die Moralität. Es gibt unterschiedliche Menschenbilder, die wiederum mehr oder weniger gut begründet sind, aber letztlich auf prinzipiellen Annahmen basieren, etwa: „Gott existiert (nicht).“ Von diesen Menschenbildern ausgehend kann man unterschiedliche Ethiken entwickeln, die von diesem Punkt an in sich völlig konsistent sind. Wenn ich sage, eine Entität X ist (k)ein Mensch, dann muß ich X auch (k)eine Würde zuschreiben, eine Zuschreibung, die mich entweder von der Notwendigkeit zur Achtung des Anderen befreit oder aber zur Achtung verpflichtet. Das ist die ganze Krux des menschlichen Miteinanders: Wir sprechen von unterschiedlichen Entitäten mit unterschiedlichen Daseinsgründen, wenn wir „Mensch“ sagen.
Während es sich im anthropologischen Paradigma der Geschöpflichkeit des Menschen (und hilfsweise auch mit der deontologischen Ethik Kants) in jedem Fall prima facie verbietet, den Menschen um eines vermeintlich „guten Zwecks“ willen zum Mittel zu machen, stellt sich im anthropologischen Paradigma des Humanismus die Frage anders: Hier ist nicht das Leben selbst ein Zweck an sich, sondern das (unterstellte) Interesse des Lebenden wird zum Fluchtpunkt ethischer Erwägungen. Die autonome Beschlußfassung über (mögliche) Präferenzen des Menschen steht über dem Faktum des Lebens, das mithin nicht mehr unabtastbar ist, sondern Gegenstand von Verfügungsverhandlungen wird.
Nota bene: Auch die Argumentation von Lebensschutz- und Behindertenorganisationen, die sich zu Recht darüber entsetzen, daß die Diagnose „Down Syndrom“ sehr häufig zu einer Abtreibung führt, geht in die falsche Richtung. Wer daran erinnert, daß Menschen mit Down-Syndrom ein lebenswertes Leben führen, und deshalb nicht abgetrieben werden sollten, der hat zwar zweifelsohne Recht, umgeht aber die Absolutheitsdimension menschlichen Lebens als gottgewollt, der unterschlägt die Tatsache, daß es sich beim Menschen erübrigt, die Frage nach dem Sinn des jeweiligen Lebens zu stellen, weil das menschliche Leben selbst dieser Sinn ist. Zugespitzt: Auch wenn für einen Menschen mit „Down Syndrom“ oder einer anderen Behinderung kein angenehmes Leben zu erwarten wäre (aus unserer Außenperspektive beurteilt), besteht eine Art „Lebenspflicht“, wie sie auch Kant angemahnt hat.
VI. Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens
Faktizität und Vermutung sind denn auch bei der Frage des Lebensbeginns die höchst unterschiedlichen Leitmotive.
Für diejenigen, die offenbar keine Probleme damit haben, das menschliche Leben zu instrumentalisieren und – nach Abwägung eigener Interessen – gegebenenfalls zu töten, handelt es sich bei Embryonen und Föten um „Zellhaufen“ ohne Eigenwert und ohne Daseinsberechtigung. Wert und Recht des Menschen seien immer und unter allen Umständen an der Präferenzstruktur des autonomen Subjekts auszurichten, eine etwaige Würdezubilligung abhängig von der aktual realisierten Interessenssphäre. Menschliches Leben beginne viel später, etwa dann, wenn Hirnströme meßbar sind oder auch erst nach der Vollendung der Geburt – je nach dem, man findet verschiedene Positionen. Und es endet da, wo der selbstbestimmte Mensch es für sich bzw. seine Angehörigen enden lassen möchte.
Die Unbestimmtheit der Vermutungen hinsichtlich des Lebensbeginns sind eine entscheidende Schwäche aller Definitionen, die dem Menschen Bedingungen auferlegen, die er erfüllen muß, damit er Mensch sein darf.
Exkurs: Peter Singers schiefe Ebene
Für den Vordenker der Abtreibungslobby, den australischen Philosophen Peter Singer, hat die angebliche Unfähigkeit von Föten, die jünger sind als 18 Wochen, „of feeling anything at all, since their nervous system appears to be insufficiently developed to function“ [5]Peter Singer: Practical Ethics. Cambridge 1979, S. 118. die Konsequenz, daß „an abortion up to this point terminates an existance that is of no intrinsic value at all“ [6]Ebd.. Noch einmal: Es sei unwahrscheinlich, daß Föten vor der 18. Schwangerschaftswoche fähig sind, etwas zu empfinden, weil ihr Nervensystem noch nicht genug entwickelt scheint. Deshalb beende eine Abtreibung vor der 18. Schwangerschaftswoche eine Existenz, die überhaupt keinen Wert an sich habe. Also: Singer ist der Meinung, werdendes menschliches Leben habe (selbst in diesem Stadium, nach der Hälfte der Schwangerschaft) „no intrinsic value at all“ – „keinen Wert an sich“.
Hier wird die Bedingung der Empfindungsfähigkeit in actu gestellt, als anthropologischer Hintergrund einer interessenorientierten utilitaristischen Ethik. Um nach Singer vom Menschen sprechen zu können, muß das menschliche Leben empfindungsfähig sein. Wohin diese Auffassung führt, möchte ich an Singers Vorstellungen kurz illustrieren.
Das Interesse, von Schmerzen verschont zu bleiben, ist Ausdruck der Leidensfähigkeit. An diesem Begriff unterscheidet Singer die „Wesen“: „Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, dieses Leiden zu berücksichtigen. Es kommt nicht auf die Natur des Wesens an. Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig, Freude oder Glück zu erfahren, dann gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit die einzig vertretbare Grenze für die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer.“ [7]Peter Singer: Praktische Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 84 f.
Keine Empfindung, keine Rücksicht. Man kann sich vorstellen, daß damit dem Mißbrauch von menschlichem Leben als Mittel zum „guten Zweck“ Tür und Tor geöffnet ist, sowie ein Mensch noch nicht oder nicht mehr „empfindungsfähig“ ist.
Wer so denkt wie Singer, für den ist im Umkehrschluß auch kein Unterschied zwischen Mensch und Tier zu machen: „Weit davon entfernt, sich für jedes Leben einzusetzen, […] zeigen diejenigen, die gegen Abtreibung protestieren, jedoch regelmäßig das Fleisch von Hühnern, Schweinen und Kälbern verspeisen, nur ein vordergründiges Interesse am Leben von Wesen, die zu unserer Spezies gehören. Denn bei jedem fairen Vergleich moralisch relevanter Eigenschaften wie Rationalität, Selbstbewußtsein, Bewußtsein, Autonomie, Lust und Schmerzempfindung und so weiter haben das Kalb, das Schwein und das viel verspottete Huhn einen guten Vorsprung vor dem Fötus in jedem Stadium der Schwangerschaft und wenn wir einen weniger als drei Monate alten Fötus nehmen, so würde sogar ein Fisch, ja eine Garnele mehr Anzeichen von Bewußtsein zeigen. Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Wahrnehmungsfähigkeit, der Sensibilität etc.“ [8]Peter Singer: „Schwangerschaftsabbruch und ethische Güterabwägung“, in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S.139–159, hier: S. 154 f.
Als eine Folge der Orientierung an Empfindungsfähigkeit bzw. an dem utilitaristischen Interessebegriff trennt Singer, wie aus dem Zitat deutlich wird, nicht Menschen von Tieren, sondern Personen (Wesen, mit der Fähigkeit, Interessen zu entwickeln) von „Nicht-Personen“ (Wesen, die diese Fähigkeit nicht haben). Dabei gehören „some nonhuman animals“ [9]Singer: Pract. Eth., S. 97. in die erste Gruppe (etwa Affen), jeder menschliche Fötus jedoch in die zweite, denn: „no fetus is a person“ [10]Singer: Pract. Eth., S. 118. .
Wer aufgrund des Prinzips der Interessenerwägung alle Wesen unterschiedslos auf Präferenzbildungsfähigkeit hin untersucht, muß auch die letzte Konsequenz aus dieser Argumentation ziehen: „Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche […], weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben.“ [11]Singer: Prakt. Eth., S. 122 f. Nicht das Leben des Embryo, nicht das des Fötus, sondern das des Neugeborenen, also – das ist wohl unstreitig – eines Menschen, wird hier von Singer mit Hilfe eines utilitaristischen Konzepts, welches das Lebensrecht an die Fähigkeit bindet, Wünsche, Interessen und Präferenzen zu haben, in einer unfaßbaren Weise degradiert. Nur: Dahin gelangt man eben, wenn man sich auf die schiefe Ebene der ethischen Differenzierung von Embryonen, Föten, Menschen und Personen begibt.
Zurück zum Lebensbeginn
Der „wahre“ Beginn menschlichen Lebens ist nunmehr gebunden an die Empfindungsfähigkeit – unterstellt, Singers Argumentation würde übernommen, was sie von Abtreibungsbefürwortern und Sterbehilfelobbyisten zumindest implizit tatsächlich wird. Zum Maß aller Dinge wird nun die Hirntätigkeit, da die Aktivität des Gehirns für Empfindungen des Menschen notwendig und hinreichend ist. Dabei vernachlässigen wir jetzt einmal die Probleme, die mit der festen Bindung des Menschen an seine Ratio grundsätzlich bestehen und übergehen den grausamen Mißbrauch des Bestimmungsprinzips Vernunft, wie es von Aristoteles ausgehend im Abendland zu einer Abwertung von Menschen anderer Kulturen führte, denen man schlicht die Vernunftbegabtheit absprach und damit über sie nach Belieben verfügen konnte. Statt dessen beschäftigen wir uns noch ein wenig mit dem Begriff der Hirntätigkeit an sich und fragen konkret: Daß Hirnströme auftreten – wann ist das der Fall? Antwort eines handelsüblichen Biologiebuchs: „In der 9. Woche.“. Daß damit ein Teil der Abtreibung innerhalb der 3‑Monats-Frist an Föten vorgenommen wird, die sehr wohl Schmerzen empfinden können, sei hier nur am Rande erwähnt. Und auch um die Frage, warum Singer bei seinen Ausführungen den doppelten Zeitraum nennt, soll es jetzt nicht gehen.
Es geht vielmehr um die Frage, was von der Setzung zu halten ist. Ist es eine willkürliche Setzung. Nein, denn die Orientierung geschieht am Grundsatz der Empfindungsfähigkeit. Es gibt also ein Sachargument für die Setzung, was auch immer davon zu halten ist. Ist es aber eine im Rahmen der erforderlichen Klarheit angemessene Setzung? Nein, da es sich nicht um einen Zeitpunkt, sondern um eine Zeitspanne, genauer: eine unbestimmte Menge von Zeitpunkten handelt. Denn die 9. Woche hat – wie jede andere Woche auch – einen Montag, einen Dienstag, einen Mittwoch usw. Der Montag hat einen Morgen, einen Mittag, einen Abend. Dies bringt Schwierigkeiten mit sich. Wenn ich sage: „Das Fußballspiel beginnt um 20:30 Uhr.“, kann sich jede und jeder, die bzw. der das Spiel sehen will, darauf einrichten. Wenn es aber heißt, es beginnt irgendwann zwischen 19 und 21 Uhr, am Abend halt, bedeutet dies eine große Unsicherheit hinsichtlich des tatsächlichen Anstoßzeitpunkts. Die Information ist letztlich nur von erheblich begrenztem Wert.
Man mag einwenden, daß die Tatsache, ob Hirnströme fließen oder nicht, sich exakt messen und sich damit der Zeitpunkt eindeutig bestimmen läßt. Das mag für das jeweilige Individuum gelten, doch es gibt Unterschiede von Mensch zu Mensch. Zudem gibt es Unterschiede bzw. könnte es Unterschiede geben von Meßgerät zu Meßgerät, so daß bei ein- und demselben Menschen das Gerät von Firma X anzeigt: „Ja, es gibt Hirnströme.“, während das Gerät von Firma Y anzeigt: „Nein, es gibt keine Hirnströme.“, abhängig von der Qualität der Meßtechnik. Menschliches Leben bzw. dessen Anfangsbestimmung abhängig zu machen von der Sensibilität der jeweils neusten Meßgeräte ist keine besonders kluge Art und Weise des Umgangs mit der Frage nach dem Lebensbeginn.
VII. Der Würdebegriff
Was man sich damit jedoch – durchaus gewollt – konstruiert, das ist ein abgestufter Würdebegriff das menschlichen Lebens. Sehr treffend brachte dies Peter Schaber in der Sonntagszeitung vom 19. Mai 2002 zum Ausdruck: „Es ist meiner Meinung nach keineswegs so, daß der moralische Status des Embryos von der Befruchtung bis zur Geburt unverändert bleibt. Ich würde bei der Zusprechung von Menschenwürde verschiedene Entwicklungsstufen des Embryos unterscheiden. Für mich sind bestimmte Eigenschaften wie etwa der Beginn der Gehirnentwicklung oder die einsetzende Empfindungsfähigkeit moralisch von Belang. Je mehr sich der Embryo dem Zeitpunkt der Geburt nähert, desto moralisch gewichtiger scheint mir das Wesen.“ Genau diese Abstufung, die freilich nötig ist, um ohne Gewissensbisse forschen und abtreiben zu können, macht das deutsche Grundgesetz nicht.
Juristische Bemerkungen
Die Norm, die in Deutschland eindeutig gegen jede Verwendung von Menschenleben zur Erfüllung bestimmter Zwecke spricht, ist Art. 1, Abs. 1, Satz 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Daß die Tötung eines Menschen zum Zweck möglicher Fortschritte in der medizinischen Forschung, auch wenn diese künftiges Leid lindern, dessen „Würde“ verletzt, dürfte i. A. unstrittig sein. Ebenso ist die „Würde“ des Menschen verletzt, der im Rahmen einer Abtreibung getötet werden soll, wenn diese aus einem Interesse der Mutter erfolgt, das nicht gleichrangig dem Leben des zu tötenden Menschen ist.
Aber wer sagt denn, mag hier eingewendet werden, daß es sich bei dem Embryo bzw. Fötus um einen Menschen handelt. Genau dies ist ja Gegenstand der anthropologischen Auseinandersetzung. Also: Handelt es bei dem, was da getötet wird, aus juristischer Sicht um einen Menschen? Was bedeutet Mensch im Zusammenhang mit Art. 1 GG, Abs. 1, Satz?
Hierzu sei an zwei Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts erinnert: 1. „Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ‚lebt‘; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden.“ [12]Urteil des BVerfG vom 25.02.1975, AZ 1 BvF 1/74 u. a. (BVerfGE 39, 1, veröffentlicht in: NJW 1975, 573). , und 2. Das Grundgesetz enthält keine „dem Entwicklungsprozeß der Schwangerschaft folgenden Abstufungen des Lebensrechts“ [13]Urteil des BVerfG vom 28.05.1993, AZ 2 BvF 2/90 u. a. (BVerfGE 88, 203, veröffentlicht in: NJW 1993, 1751). .
Art. 1, Abs. 1, Satz 1 GG muß demnach so gelesen werden: „Die Würde des menschlichen Lebens ist unantastbar.“ Danach stellt die Tötung (zweifellos ein Fall von „Verletzung der Würde“) von Embryonen (als „menschliches Leben“) unabhängig von Zweck und Zusammenhang der Tötung einen Verstoß gegen Art. 1, Abs. 1, Satz 1 GG dar. Somit verstößt das Stammzellgesetz, das ja diese Tötung positiviert, und jede Abtreibung, die diese Tötung vollzieht, gegen Art. 1, Abs. 1, Satz 1 GG.
Philosophische Bemerkungen
Es gibt, philosophisch betrachtet, keinen sinnvolleren Ursprungszeitpunkt als den Ursprung selbst – und der liegt nun einmal de facto in der Zeugung. Alle anderen Zeitpunkte, die dieser Faktizität zum Trotz Vermutung zu Schmerzempfinden etc. anstellen, sind mehr oder weniger unbestimmte Fristenlösungen. Auch wenn sie nicht völlig willkürlich sind, sondern aus Sachverhalten entwickelt werden, könnten sie doch stets auch anderes liegen, ohne wesentliche Verschlechterung der Argumentationslage.
Wir wissen aber, daß der gerade gezeugte Mensch alles hat, was es braucht, um ein Mensch zu werden. Er ist nach der Zeugung notwendig und hinreichend als Individuum bestimmt. Und dieser Mensch hat alles, um Person zu werden. Dabei sagt das nicht nur die katholische Kirche vom vermeintlich hohen Roß des Lehramts. Gerade die Genforschung gibt der Kirche in einer ihrer anthropologischen Kernaussagen Recht: Bereits zum Zeitpunkt der Zeugung liegt das gesamte Genmaterial vor, der individuelle Mensch und damit die Person ist in potentia angelegt.
VIII. Fazit
Daher sollten wir das menschliche Lebewesen von Anfang zuerst und vor allem als eine potentielle Person betrachten, die im moraltheoretischen Kontext wie eine Person zu behandeln ist. Das schon deshalb, um nicht auf der schiefen Ebene, die Singer et al. konstruieren, die Menschenwürde ins Rutschen zu bringen. Wenn er vorschlägt, daß man über die Existenz etwaiger behinderter Kinder ja noch mal in aller Ruhe und mit ärztlichem Rat nachdenken dürfen sollte, um dann die verpaßte Abtreibung vielleicht doch noch zu vollziehen, gerade weil ein Baby für ihn keine Person sein kann, weil es keine aktualen Interessen hat, dann bin ich doch sehr beunruhigt, weil es mir zeigt, daß das Problem der Grenzziehung, des Personstatus‘ eines Menschen in seinen Lebensphasen im Bereich der Anthropologie und die interessengeleitete Abwägungspraxis des Würdebegriff im Bereich der Ethik zusammengehören. Es zeigt mir, daß das Menschenbild der Moral vorausgeht und es deswegen wichtig ist, den Beginn des Lebens gut und genau, also mit geringst möglichem Interpretationsspielraum, zu bestimmen. Hier hat die katholische Morallehre auf der Basis der christlichen Schöpfungstheologie eine Bestimmung vorgenommen, die zu einem konsistenten und beispielhaft stringenten Verständnis des Menschen führt. An ihr sollte sich jeder, der es wirklich ernst meint mit absoluter Menschenwürde, orientieren.
Nach dem Studium (Wirtschaftsingenieurwesen, Soziologie, Philosophie) und der Promotion zum Dr. phil. ist Josef Bordat derzeit als freier Publizist in Berlin tätig.
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↑1 | Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik (3. Bd., 2. Teil: „Die Lehre von der Schöpfung“). Zürich 1948, S. 204. |
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↑2 | Barth: Kirchl. Dogm., S. 206. |
↑3 | Helmut Thielicke: Theologische Ethik. Tübingen 1972, S. 294. |
↑4 | Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Zit. nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1907, S. 429. |
↑5 | Peter Singer: Practical Ethics. Cambridge 1979, S. 118. |
↑6 | Ebd. |
↑7 | Peter Singer: Praktische Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 84 f. |
↑8 | Peter Singer: „Schwangerschaftsabbruch und ethische Güterabwägung“, in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S.139–159, hier: S. 154 f. |
↑9 | Singer: Pract. Eth., S. 97. |
↑10 | Singer: Pract. Eth., S. 118. |
↑11 | Singer: Prakt. Eth., S. 122 f. |
↑12 | Urteil des BVerfG vom 25.02.1975, AZ 1 BvF 1/74 u. a. (BVerfGE 39, 1, veröffentlicht in: NJW 1975, 573). |
↑13 | Urteil des BVerfG vom 28.05.1993, AZ 2 BvF 2/90 u. a. (BVerfGE 88, 203, veröffentlicht in: NJW 1993, 1751). |