von Aloysius Winter
- Den Wortlaut der Texte zu verstehen bedeutet nicht,
das abgrundtiefe Geheimnis durchschaut zu haben.
Bild: Martin Huhs
Nachdem ich vor vier Jahren den bischöflichen Auftrag erhalten hatte, sog. Indultmessen im klassischen Ritus nach dem Meßbuch Johannes XXIII. von 1962 zu zelebrieren, habe ich diesen Ritus neu entdecken dürfen, den ich bereits bei meiner Primiz vor mehr als fünfzig Jahren in seinen gleichbleibenden Teilen auswendig kannte. Dabei habe ich ihn neu sehen gelernt. Daß er jetzt so viel Widerspruch findet, kann ich eigentlich nicht begreifen.
Was wird den treuen Katholiken, die die seit der frühen Kirche gewachsene, im Kernbereich mehr als anderthalbtausend Jahre alte und schließlich „auf Veranlassung des Konzils von Trient“ (Summorum Pontificum) vom heiligen Papst Pius V. festgeschriebene Form des Ritus der Hl. Messe und seine „Sakralität“ (Benedikt XVI.) zu schätzen wissen, nicht alles unterstellt und vorgeworfen: daß sie hinter das Konzil zurückwollten, einem überholten Kirchen- und Priesterbegriff nachtrauerten, an der Ökumene nicht interessiert seien und auch der Religions- und Gewissensfreiheit ablehnend gegenüberständen – alles abstruse Vorwürfe, die auch auf den Hl. Vater zurückfallen würden, wenn sie denn zuträfen. Sie werden Altgläubige genannt oder sogar Traditionalisten, was für sie einigermaßen ehrenrührig ist, weil solche Bezeichnungen den Unterschied zu bestimmten Gruppen mit solchen Tendenzen verwischen, die es ja tatsächlich gibt.
Dabei hat das letzte Konzil keine neuen Glaubenslehren eingeführt, sondern nur den alten, überlieferten Glauben der Kirche weiter präzisiert, und die Konzilsväter haben dabei selbst die überkommene Liturgie gefeiert. Das neue Meßbuch Papst Pauls VI. ist das Ergebnis der Arbeit einer nachkonziliaren Kommission, deren Ergebnisse keineswegs allesamt vom Konzil gefordert worden waren. Die Aufstellung eines sog. Volksaltars und die üblich gewordene generelle Zelebration zum Volke hin (versus populum) war z.B. nicht Gegenstand eines Konzilsbeschlusses. Die allgemeine Einführung in das neue Messbuch fordert lediglich (unter Berufung auf die Instruktion der Ritenkongregation von 1964 „Inter Oecumenici“), daß eine Kirche „für gewöhnlich einen feststehenden, geweihten Altar haben“ soll, „der frei steht, damit man ihn ohne Schwierigkeiten umschreiten und an ihm, der Gemeinde zugewandt, die Messe feiern kann“ (262) – das kann also geschehen, ist aber nicht verbindlich vorgeschrieben.
Dennoch wird ständig als Haupteinwand gegen die klassische Liturgie vorgebracht, der Priester wende der Gemeinde den Rücken zu (beim Busfahrer redet niemand von seinem Rücken!) und verhindere so die Mitwirkung der Gläubigen. Tatsächlich beten Priester und Gemeinde seit der frühesten Zeit gemeinsam zum Kreuz hin (zu Christus hin in Erwartung seiner Wiederkunft, bei den meist nach Osten ausgerichteten Kirchen unter dem Symbol der im Osten aufgehenden Sonne). Nur Gesprächspartner blicken einander an: wenn der Priester die Gemeinde anspricht, wendet er sich um: „Der Herr sei mit euch!“ Schließlich ist es auch nicht unbedingt jedermanns Sache, sich beim Beten ins Gesicht schauen zu lassen, und man möchte das auch anderen nicht zumuten. Jedenfalls wird durch solche Zurückhaltung die Konzentration auf das Wesentliche gefördert und die Gefahr von Ablenkungen und Zerstreuungen gemindert.
Und dann mißfällt das Latein in der Liturgie; aber die Hochform der neuen Messe ist ebenfalls lateinisch, die Volkssprache ist nur erlaubt. In der klassischen Messform gibt es dagegen eine solche Erlaubnis nicht. Leider gehen die dafür erforderlichen Sprachkenntnisse immer mehr zurück, und ohne sie sollte ein Priester sich auf die Zelebration der neuen Form des römischen Ritus beschränken. Die Gläubigen aber haben die Möglichkeit, an der heiligen Handlung mit Hilfe von Übersetzungen („Schott“ oder „Bomm“) unmittelbar teilzunehmen. Zunächst werden meistens zum Behelf die Texte in Kopie ausgelegt. Als wohltuend wird auch die Stille während des Canons bezeichnet, die Gelegenheit zum persönlichen Gebet bietet, statt durchgängig auf die vorgegebenen Gebetstexte festgelegt zu werden. Und schließlich: den Wortlaut der Texte zu verstehen bedeutet nicht, das abgrundtiefe Geheimnis durchschaut zu haben.
Bei der heute vorherrschenden Kritik kommt der geistliche Reichtum der klassischen Liturgie nicht mehr in den Blick: die vielfältigen Bezugnahmen auf die Märtyrer und Heiligen der Kirche, die die lebendige ‚Gemeinschaft der Heiligen’ zum Ausdruck bringen und den Blick auf die ‚triumphierende Kirche’ lenken; die ausdrucksstarken Opferungsgebete, die Gebete zur Heiligsten Dreifaltigkeit, das mehrfache Eingeständnis der eigenen Unwürdigkeit des zelebrierenden Priesters („für meine unzähligen Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten“), der Ausdruck der Ehrfurcht durch Kniebeugen vor und nach Berühren des Leibes Christi und des Kelches mit Seinem heiligen Blut, der sakramentale Segen für jeden Kommunikanten bei der heiligen Kommunion, die kniend und mit dem Mund empfangen wird (Spendung statt bloßer Austeilung) usw. Das eucharistische Opfermahl steht ganz im Zeichen des einen und einzigen Opfers Christi, das als geschichtliche Handlung Jesu kraft seiner göttlichen Natur gleichwohl überzeitlich wirksam ist und in jedem hl. ‚Messopfer’ gegenwärtig wird.
Dabei verbieten sich alle ‚kreativen’ Eigenmächtigkeiten des Priesters, die vielfach die neue Messform überwuchern und von nicht wenigen Gläubigen als anstößig empfunden werden. Schließlich hat das letzte Konzil, auf das man sich gerne beruft, angeordnet, daß außer dem Apostolischen Stuhl und den Bischöfen und ihren Vereinigungen „niemand sonst, auch wenn er Priester wäre, nach eigenem Gutdünken in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern“ darf (SC 22 § 3).
Die überlieferte Form des Ritus wäre es wert, ein Weltkulturerbe genannt zu werden. Für unzählige Heilige des Himmels war sie der ‚Höhepunkt’ ihres Lebens und die ‚Quelle’ ihrer Kraft (vgl. SC 10). Das letzte Konzil hat ausdrücklich erklärt, „daß die Kirche allen rechtlich anerkannten Riten gleiches Recht und gleiche Ehre zuerkennt“ (SC 4). „Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein.“ (Benedikt XVI. in seinem Begleitbrief an die Bischöfe vom 7. Juli 2007). Es bleibt zu hoffen, daß die durch dieses päpstliche Schreiben angezielte „innere Versöhnung in der Kirche“ zustande kommt, daß die verschiedenen Formen des einen Ritus sich gegenseitig ergänzen und bereichern und daß von allen Verantwortlichen in der Kirche „all dem Raum“ gelassen wird, „wozu der Glaube selbst Raum bietet“ (Benedikt XVI. – Begleitbrief).
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Dr. theol. Lic. phil. Aloysius Winter ist em. o. Professor für Fundamentaltheologie, Religionsphilosophie und phil.-theol. Propädeutik. Zuletzt ist bei Katholisches der Beitrag Ist Ökumene eine Einbahnstraße? von ihm erschienen.