
Von Roberto de Mattei*
In diesem Mai jährte sich zum 1700. Male das Konzil von Nicäa – das erste ökumenische Konzil der Kirche. Papst Leo XIV. hat angekündigt, aus diesem Anlaß in die heutige Türkei zu reisen, wo sich Nicäa befindet, um dieses bedeutende Ereignis zu würdigen.
Nicäa mag uns wie ein entfernter Ort in ferner Zeit erscheinen, weit weg von unsern alltäglichen Sorgen. Doch alles, was die Geschichte der Kirche betrifft, muß für uns stets aktuell sein, denn sie ist voller Lehren, die zeitlos sind. Das Internet absorbiert uns oft, wir lesen alles mögliche und glauben, alles zu wissen – doch wieviel Raum nimmt in unserm Leben das Studium der Kirchengeschichte, der Theologie und der christlichen Philosophie ein? Ohne dieses Studium kann sich das geistliche Leben eines Christen nicht entfalten; es bleibt oberflächlich und gefühlsbetont – und wird letztlich verdorren.
Christsein bedeutet, ein Jünger Jesu Christi zu sein. Aber wie kann man ein Jünger Jesu sein, ohne sich in seine Person und sein Wesen zu vertiefen? In seiner ersten Ansprache in der Sixtinischen Kapelle am 9. Mai 2025 sagte Leo XIV.:
„Jesus muß allen verkündet werden – nicht als Übermensch, wie er manchmal dargestellt wird, sondern als der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“
Es war das Konzil von Nicäa – und mit ihm die ersten vier ökumenischen Konzile der Kirche –, das die wahre Natur Jesu Christi als wahrer Gott und wahrer Mensch klärte und die ersten großen Glaubenswahrheiten definierte. Papst Gregor der Große verglich diese ersten vier Konzile mit den vier Evangelien:
„Ich bekenne, daß ich die ersten vier Konzile mit derselben Ehrfurcht verehre wie die vier heiligen Evangelien.“ (Brief I, 24: PL 77, Sp. 478)
Die vier Konzile, auf die er sich bezieht, sind:
- Nicäa (325)
- Konstantinopel I (381)
- Ephesus (431)
- Chalcedon (451)
Diese Konzile legten die grundlegenden Dogmen der Kirche fest: das trinitarische und das christologische Dogma sowie das Dogma der Gottesmutterschaft Mariens.
Die Antitrinitarier des 4. Jahrhunderts, Anhänger des Priesters Arius, leugneten die Gottheit Christi. Sie behaupteten, nur der Vater sei der einzige wahre Gott; das Wort (der Logos) sei bloß Mittler zwischen Gott und Welt und habe eine andere Substanz als Gott. Das Konzil von Nicäa aber definierte gegen die Arianer, daß der Logos wahrer Sohn Gottes, von gleicher Substanz wie der Vater und daher wahrer Gott ist. Der Begriff wesensgleich (homooúsios) bringt die vollkommene Gleichheit von Vater und Sohn zum Ausdruck. Das Konzil von Konstantinopel bestätigte das nicäische Glaubensbekenntnis und lehrte, daß auch der Heilige Geist wahrer Gott ist – gleich dem Vater und dem Sohn.
Das Konzil von Ephesus bekräftigte gegen den Häretiker Nestorius die Gottesmutterschaft Mariens sowie die wahre und substantielle Einheit der göttlichen und menschlichen Natur Christi in der einen Person des Logos – die einzige Person, der sowohl göttliche als auch menschliche Eigenschaften und Handlungen zuzuschreiben sind.
Als Eutyches, ein anderer Häretiker, im Gegensatz zu Nestorius die substantielle Einheit Christi so übertrieb, daß er nicht nur eine Person, sondern auch nur eine Natur in Christus annahm, definierte das Konzil von Chalcedon: In Christus sind zwei Naturen – göttlich und menschlich – untrennbar in einer Person vereint, aber weder vermischt, noch verändert, noch in ihrer Eigenart aufgehoben.
Die ersten vier Konzile der Kirche bestimmten also verbindlich:
- Es gibt nur einen Gott in drei Personen.
- Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, hat zwei Naturen – eine göttliche und eine menschliche –, aber nur eine göttliche Person.
Aus diesen Mysterien ergeben sich vier große Wahrheiten:
1. Die Gottheit Jesu Christi.
Er ist Gott, die zweite göttliche Person. Er ist Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
2. Die wahre Menschheit Jesu.
Er ist auch Mensch – mit Leib und Seele, Verstand, Willen und Sinnen. Christus besitzt alle menschlichen Eigenschaften, weil er neben der göttlichen auch eine vollkommene menschliche Natur hat.
3. Die Einheit beider Naturen.
Die göttliche und die menschliche Natur sind in Christus vereint, aber nicht vermischt. Jesus Christus ist zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch.
4. Die Einheit der Person.
Die göttliche Person des Logos ist Träger der beiden Naturen. Die menschliche Natur ist in Christus vollkommen der göttlichen Person untergeordnet, wie der menschliche Körper ohne die Seele nichts tun kann.
Wer diese Wahrheiten nicht kennt oder leugnet, kann sich nicht Christ nennen. Christsein bedeutet, nach dem Bild Christi geformt und von Ihm verwandelt zu werden, durch Ihn das Leben zu empfangen und in diesem göttlichen Leben zu wachsen.
Dom François de Sales Pollien erklärt in seinem wertvollen Werke Soyez chrétiens (Annecy 1897), daß es kein christliches Leben geben kann, wenn nicht vier Merkmale – die Christus auszeichnen – auch im Christen gegenwärtig sind:
- Die vollkommene göttliche Dimension.
- Die vollkommene menschliche Dimension.
- Die Vereinigung beider.
- Die Aufhebung der menschlichen Selbständigkeit vor Gott.
Das erste Element ist das Göttliche:
Gott muß der Mittelpunkt unsres Lebens sein. Wer an Gott glaubt und Ihn erkennt, muß sein ganzes Leben auf Ihn und seine Ehre ausrichten – bestrebt, seine Herrlichkeit in sich wachsen zu lassen.
Das zweite Element ist das Menschliche:
Wir müssen unsern Leib, unser Herz und unsern Verstand entfalten – jedoch auf ihr wahres Ziel hin: Gott. Hierbei ist die Menschheit Jesu unser Vorbild. Doch im Gegensatz zu Christus, der von Anfang an vollkommen war, ist unsere Vollkommenheit ein Ziel, das wir mit aller Kraft anstreben müssen.
Das dritte Element ist die Vereinigung beider:
Durch die Gnade kommt das göttliche Leben in unsere Seele. Ohne göttliche Gnade vermögen wir nichts wahrhaft Gutes. Dieses Element entspricht der unvermischten Vereinigung der beiden Naturen Christi.
Das vierte Element ist die Unterordnung des Menschlichen unter das Göttliche:
Unsere menschliche Freiheit und unser Wille müssen sich vollständig dem Willen Gottes unterordnen – bis dahin, daß nicht mehr wir leben, sondern Christus in uns (vgl. Gal 2,20). Wie in Christus die göttliche Person Träger beider Naturen ist, so soll auch in uns nur Er regieren.
Das christliche Leben gleicht einem Keim, der wachsen muß – hin zur Verwirklichung jener vier Merkmale, die wir in Christus sehen. Das ist das große Ziel der christlichen Seele: ein gelebtes Christentum, kraftvoll, männlich, leidenschaftlich – ohne Sentimentalität oder Schwäche. Nur dann können wir auf Jesu Frage: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ antworten – mit Worten, aber vor allem mit unserm Leben – wie Simon Petrus:
„Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Mt 16,13–20)
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
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