
Der deutsche Kurienerzbischof Monsignore Georg Gänswein, langjähriger und treuer Begleiter sowie Privatsekretär von Papst Benedikt XVI., zählt zu jenen hochrangigen Kirchenmännern, die unter dem argentinischen Pontifikat keine wohlwollende Behandlung erfuhren. Anläßlich der Audienz für die Apostolischen Nuntien aus aller Welt kehrte Erzbischof Gänswein nunmehr in den Apostolischen Palast zurück und begegnete zum ersten Male Papst Leo XIV.
Erzbischof Gänswein war gleichsam der Blitzableiter, der den hochbetagten Benedikt schützte – jenen Papst, der in einer vom amtierenden Pontifex nur widerwillig geduldeten Kohabitation im Vatikan lebte. Schon allein die körperliche Rüstigkeit Benedikts genügte, um gewisse Entwicklungen unter Papst Franziskus zu zügeln, da man in Santa Marta sehr wohl wußte, daß ein nicht geringer Teil der Weltkirche sich weiterhin mehr an Benedikt XVI. als an dessen Nachfolger orientierte. So konnte etwa infolge der Amazonassynode Anfang des Jahres 2020 die beabsichtigte Lockerung des priesterlichen Zölibats noch verhindert werden. Den Zorn von Papst Franziskus bekam dafür Monsignore Gänswein zu spüren.
Als sich der amtierende Pontifex davon überzeugt hatte, daß Benedikts Kräfte allmählich schwanden, folgte der Racheakt: Mit dem Motu proprio Traditionis custodes, das im Juli 2021 in Kraft trat, leitete Franziskus einen scharfen Bruch mit der liturgischen Linie seines Vorgängers ein. Nach dem Heimgang Benedikts XVI. im Dezember 2022 wurde Erzbischof Gänswein im Frühjahr des darauf folgenden Jahres auf unsanfte Weise aus dem Vatikan entlassen und ohne jede Aufgabe in seine Heimatdiözese Freiburg im Breisgau zurückgesandt – eine Maßnahme, die als deutliche Geste der Distanzierung verstanden wurde, wobei es weniger um Msgr. Gänswein ging, sondern vielmehr um die letzte demonstrative Distanzierung vom Pontifikat von Benedikt XVI. Franziskus war nachtragend.
Erzbischof Gänswein schwieg und hielt still. Er trug mit Geduld die vielfachen Demütigungen, die ihm Papst Franziskus wie auch einige seiner deutschen Mitbrüder im Bischofsamt zufügten. Auch in seiner Heimatdiözese wurde ihm keine pastorale oder administrative Aufgabe anvertraut. Ohne Widerspruch nahm er es auch hin, daß Franziskus ihn in einem der zahlreichen Gesprächsbücher – jenem von Javier Martínez-Brocal mit dem Titel Papa Francisco. El sucesor: Mis recuerdos de Benedicto XVI („Papst Franziskus. Der Nachfolger: Meine Erinnerungen an Benedikt XVI.“), das im Frühjahr 2024 erschien – öffentlich in Mißkredit brachte. Der Papst behauptete darin, Gänswein habe Benedikt gegen ihn instrumentalisiert.

Nach zahlreichen Fürsprachen zugunsten des verdienten Prälaten – und vielleicht auch im Bewußtsein einer gewissen Ungerechtigkeit – ernannte Franziskus ihn schließlich, zwei Monate nach Erscheinen des genannten Buches, im Juni 2024 zum Apostolischen Nuntius für das Baltikum. Dort versieht der Titularerzbischof seither seinen Dienst.
Am Dienstag, dem 10. Juni, wurde Monsignore Gänswein gemeinsam mit allen Apostolischen Nuntien von Papst Leo XIV. in Audienz empfangen und tags darauf, am Mittwoch, dem 11. Juni, auch zum Mittagessen mit dem Heiligen Vater geladen.
Während der Audienz hielt Papst Leo XIV. eine Ansprache an die versammelten Nuntien, die vom Heiligen Stuhl bislang nicht in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Der von Leo XIV. in der Ansprache genannte Kardinal ist der Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, dem alle Nuntien und Ständigen Vertreter des Papstes unterstehen.
Bei diesem Zusammentreffen schenkte Leo XIV. allen 98 Nuntien und fünf Ständigen Vertretern bei internationalen Vereinigungen einen Ring, der eine Gravur der ältesten öffentlich zugänglichen Marienikone der Welt zeigt, der Salus Populi Romani, und an der Innenseite die Inschrift trägt: „Sub umbra Petri“, „Unter dem Schatten von Petrus“. Diese Stelle findet sich in der Apostelgeschichte 5,15 und lautet vollständig:
„Selbst die Kranken trug man auf die Straßen hinaus und legte sie dort auf Betten und Bahren, in der Hoffnung, daß wenigstens der Schatten des Petrus auf einen von ihnen falle, wenn er vorbeiging.“

Nachstehend der vollständige Wortlaut der Ansprache von Leo XIV. an die Nuntien:
Eminenzen, Exzellenzen, Monsignori!
Einen besonderen Gruß entbiete ich Ihnen allen, hochgeschätzte Päpstliche Vertreter. Bevor ich die vorbereiteten Worte mit Euch teile, gestattet mir, Seiner Eminenz und Euch allen kurz zu versichern: Das, was der Herr Kardinal soeben vorgetragen hat, habe ich nicht auf Anraten irgend jemandes gesagt, sondern aus innerer Überzeugung: Euer Dienst, Euer Amt ist unersetzlich. Vieles, was in der Kirche geschieht, wäre ohne Euer Opfer, Eure Arbeit und Euren täglichen Einsatz nicht möglich. Gerade auf diese Weise wird es möglich, daß eine so bedeutende Dimension der Sendung der Kirche weitergetragen werde – namentlich in jenem Bereich, von dem ich sprach: der Auswahl geeigneter Kandidaten für das Bischofsamt. Von Herzen danke ich Euch für Euer Wirken! Und nun bitte ich um ein wenig Geduld.
Nach der gestrigen Feier am Vormittag, begangen anläßlich des Jubeljahres der Heiligen Römischen Kirche, freue ich mich, nun einige Zeit mit Euch zu verbringen, die Ihr als Vertreter des Papstes bei den Staaten und internationalen Organisationen in aller Welt wirkt.
Zuallererst spreche ich Euch meinen Dank dafür aus, daß Ihr den teils weiten Weg auf Euch genommen habt, um heute hier zu sein. Vergelt’s Gott! Ihr selbst seid – schon durch Eure Person – ein Abbild der katholischen Kirche, denn es gibt kein anderes diplomatisches Corps auf Erden, das in solcher Weise universell aufgestellt wäre wie das unsere! Und zugleich darf ich sagen: Nirgendwo auf der Welt existiert ein diplomatisches Corps, das in solcher Einmütigkeit verbunden wäre, wie Ihr es seid – denn Eure, unsere Gemeinschaft gründet nicht bloß in funktionaler oder idealer Übereinkunft, sondern in Christus und in der Kirche. Es lohnt, über diesen Umstand nachzusinnen: Die Diplomatie des Heiligen Stuhles ist allein schon durch ihre Mitarbeiter ein Vorbild – gewiß kein vollkommenes, aber doch ein bedeutsames – für jene Botschaft, die sie der Welt vermittelt: die Botschaft der menschlichen Brüderlichkeit und des Friedens unter allen Völkern.
Geliebte Mitbrüder, ich mache meine ersten Schritte in jenem Dienst, den der Herr mir anvertraut hat. Und ich empfinde Euch gegenüber dieselbe Dankbarkeit, die ich vor wenigen Tagen in der Ansprache an das Staatssekretariat äußerte – Dankbarkeit gegenüber allen, die mir helfen, den mir übertragenen Dienst Tag für Tag zu erfüllen. Diese Dankbarkeit wächst, je mehr ich in den täglichen Aufgaben erkenne, daß Euer Wirken dem meinigen oft vorausgeht. Ja, dies gilt in besonderer Weise für Euch. Denn wenn mir eine Situation vorgelegt wird, etwa betreffend die Kirche in einem bestimmten Lande, so darf ich auf die Unterlagen, Überlegungen und Zusammenfassungen zurückgreifen, die von Euch und Euren Mitarbeitern sorgfältig vorbereitet wurden. Das weltumspannende Netz der Päpstlichen Vertretungen ist unablässig tätig und lebendig. Dafür hege ich aufrichtige Hochachtung und tiefen Dank. Ich sage dies nicht nur im Hinblick auf Eure Hingabe und Organisation, sondern noch mehr hinsichtlich der Beweggründe, die Euch leiten: jenes pastorale Ethos, das uns prägen sollte, und jenes geistliche Leben, das uns innerlich trägt. Durch diese Gaben darf auch ich das erfahren, was der heilige Papst Paul VI. schrieb: daß durch seine Vertreter, welche in den verschiedenen Nationen residieren, der Papst am Leben seiner Kinder teilhat und, indem er sich gleichsam in dieses Leben hineinbegibt, deren Bedürfnisse und Hoffnungen schneller und sicherer erkennt (vgl. Apostolisches Schreiben Motu proprio Sollicitudo omnium Ecclesiarum, Einleitung).
Nun möchte ich ein biblisches Bild mit Euch teilen, das mir kam, als ich über Euren Dienst in Verbindung mit dem meinigen nachdachte. Zu Beginn der Apostelgeschichte (3,1–10) findet sich der Bericht von der Heilung des Gelähmten, der trefflich den Dienst Petri beschreibt. Wir befinden uns an der Schwelle der christlichen Erfahrung, und die junge Gemeinde, versammelt um die Apostel, weiß sich einzig auf Jesus Christus, den Auferstandenen, gegründet. Ein Gelähmter sitzt am Tor des Tempels und bittet um Almosen – ein Bild für eine Menschheit, die die Hoffnung verloren zu haben scheint und sich in ihr Schicksal ergeben hat. Auch heute begegnet die Kirche vielfach Männern und Frauen, die keine Freude mehr empfinden, die an den Rand gedrängt wurden oder die das Leben gezwungen hat, gleichsam um das tägliche Dasein zu betteln. Die Apostelgeschichte berichtet: »Da blickte ihn Petrus zusammen mit Johannes an und sprach: ›Sieh uns an!‹ Und er richtete seinen Blick auf sie, in der Hoffnung, etwas zu empfangen. Petrus aber sprach: ›Silber und Gold besitze ich nicht; doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, steh auf und wandle!‹ Und er faßte ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, und aufspringend konnte er stehen und gehen; und er trat mit ihnen in den Tempel ein, gehend, springend und Gott lobend.« (3,4–8)
Bedenkenswert ist die Aufforderung Petri: »Sieh uns an!« – Sich in die Augen zu blicken heißt, Beziehung zu stiften. Der Dienst Petri ist ein Dienst der Beziehung, des Brückenbauens. Und ein Päpstlicher Vertreter ist zuallererst im Dienst eben jenes Rufes, jenes Blickes. Seid stets der Blick Petri! Seid Männer, die Beziehungen stiften können, gerade dort, wo es besonders schwer ist. Bewahret dabei stets dieselbe Demut und den gleichen Realismus wie Petrus, der wohl weiß, daß er nicht für alles eine Lösung besitzt: »Silber und Gold habe ich nicht«, spricht er; doch weiß er auch, was er geben kann – Christus selbst, den tiefsten Sinn jeglicher Existenz: »Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, geh!«
Christus geben heißt Liebe geben, Zeugnis jener Caritas ablegen, die zu allem bereit ist. Ich zähle auf Euch, daß in den Ländern, in denen Ihr lebt und wirkt, alle wissen: Die Kirche ist immer bereit, aus Liebe alles zu geben. Sie steht stets auf der Seite der Geringen, der Armen; und sie wird immer das heilige Recht verteidigen, an Gott zu glauben – zu glauben, daß dieses Leben nicht den Mächten dieser Welt ausgeliefert ist, sondern von einem geheimnisvollen Sinn durchdrungen wird. Nur die Liebe ist glaubwürdig angesichts des Leidens der Unschuldigen, der heutigen Gekreuzigten – von denen viele unter Euch persönlich wissen, da Ihr Völkern dient, die Opfer von Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit geworden sind oder auch jenes trügerischen Wohlstandes, der täuscht und enttäuscht.
Liebe Mitbrüder, es sei Euch stets Trost, daß Euer Dienst „sub umbra Petri“ geschieht – wie Ihr es eingraviert finden werdet auf dem Ring, den Ihr als mein Geschenk empfangen sollt. Fühlt Euch stets verbunden mit Petrus, behütet von Petrus, gesendet von Petrus. Allein in der Gehorsamkeit und in der gelebten Gemeinschaft mit dem Papst kann Euer Dienst fruchtbar sein zum Aufbau der Kirche in Einheit mit den Ortsbischöfen.
Tragt stets einen segnenden Blick in Euch, denn der Dienst Petri ist ein Dienst des Segnens: das Gute zu erkennen, auch das verborgene, das kleinere. Fühlt Euch als Gesandte – Missionare des Papstes –, berufen, Werkzeuge der Gemeinschaft und Einheit zu sein, im Dienst an der Würde des Menschen, in der Förderung aufrichtiger und fruchtbarer Beziehungen mit den Autoritäten, mit denen Ihr zur Zusammenarbeit berufen seid. Eure Fachkenntnis sei stets durchdrungen vom entschiedenen Streben nach Heiligkeit. Es seien Euch die Heiligen zum Vorbild, die im diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhles standen – etwa der hl. Johannes XXIII. und der hl. Paul VI.
Geliebte Brüder, Eure heutige Gegenwart möge die Erkenntnis stärken, daß der Dienst Petri darin besteht, im Glauben zu stärken. Ihr selbst benötigt diese Stärkung zuerst, um sodann selbst zu deren Boten zu werden – zu sichtbaren Zeichen, in allen Teilen der Erde.
Die Heilige Pforte, die wir gestern gemeinsam durchschritten haben, ermutige uns, mutige Zeugen Christi zu sein, der unsere Hoffnung ist – gestern, heute und in Ewigkeit.
Danke.
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/VaticanMedia (Screenshots)