
Von Roberto de Mattei*
Am 19. März 2025 distanzierte sich Italiens Premierministerin Giorgia Meloni in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer öffentlich vom Manifest von Ventotene, das 1941 von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi während ihrer Gefangenschaft auf der Insel Ventotene verfaßt wurde.
Die Äußerungen der Ministerpräsidentin haben heftige politische Reaktionen hervorgerufen, und zwar nicht nur, weil das Manifest als einer der Gründungstexte der Europäischen Union gilt, sondern auch, weil Altiero Spinelli als Meister der internationalen Linken gefeiert wird. Die Premierministerin beschränkte sich auf einige wenige Zitate, aus denen der antidemokratische und illiberale Charakter des Manifests klar hervorgeht, das zur Diktatur des Proletariats und zur Abschaffung oder jedenfalls Einschränkung des Privateigentums aufruft. Zu den Einwänden gehört, daß Sätze nicht extrapoliert werden könnten, sondern kontextualisiert werden müßten. Wenn dies getan werden muß, ist es das beste, das Manifest von Ventotene in den Kontext des Lebens von Altiero Spinelli zu stellen, der ein militanter Kommunist und zutiefst antikatholisch war, wie er selbst in seiner Autobiografie mit dem Titel „Come ho tentato di diventare saggio“(„Wie ich versuchte, weise zu werden“) offenbart, die 1984–1987 im Verlag Il Mulino erschien. Ein würdiger italienischer Historiker, Prof. Massimo de Leonardis, analysierte diese Autobiografie in einem langen Artikel, der im Juli-August 2007 in der Fachzeitschrift Nuova Storia Contemporanea (Neue Zeitgeschichte) erschien, und ich greife auf diesen Artikel zurück, um einige Einzelheiten aus dem Leben von Altiero Spinelli zu beleuchten.
Er stammte aus einer atheistischen und sozialistischen Familie, die ihre Kinder nicht taufen ließ und ihnen Namen gab, die völlig von der christlichen Tradition entfernt waren: Altiero, Anemone, Asteria, Azalea, Cerilo, Fiorella, Gigliola, Veniero. Während des Kampfes gegen das Banditentum in Kalabrien hatte sein Großvater mütterlicherseits, als er ein als wundertätig geltendes Kruzifix aus einer Kirche entfernte und verbrannte, den Bauern im Scherz gesagt: „Jetzt werden wir sehen, ob er ein Wunder vollbringen wird.“
Als Kind überkam Altiero Spinelli manchmal zusammen mit seiner Schwester Azalea ein „plötzlicher Zerstörungsdrang“, und Spinelli zerbrach wild die Äste eines toten Baumes und schrie dabei aus vollem Hals: „Tod den Priestern, Tod den Priestern“. Im Alter von etwa 15 oder 16 Jahren wurde er mit der Gottes-Frage konfrontiert und kam zu dem Schluß, daß „ Gott wahrscheinlich die großartigste Fabel ist, die die Menschheit je erfunden hat“, und kehrte „still, aber entschlossen zum strengen und furchtlosen Atheismus“ seiner Eltern zurück. Obwohl er eine Vorliebe für Texte aus verschiedenen Religionen hatte, hielt er die von der Kirche gelehrten Texte für „ unwahrscheinliche Fabeln“ , die in ihm lediglich „eine ironische Neugier“ weckten.
Mit siebzehn Jahren trat er der Kommunistischen Partei Italiens bei. Er sei ihr beigetreten, sagt er, „wie man Priester wird“, „verführt von einer Organisation, die sich als Klerus ausgibt, als Hüter der geheimen Gesetze, die den Tod alter und die Geburt neuer menschlicher Gesellschaften regeln, und entschlossen, die absolute Macht an sich zu reißen, die für die Schaffung der neuen und vollkommenen Gesellschaft notwendig ist“. Er verließ die Partei 1937, kehrte jedoch im Alter von siebzig Jahren als Unabhängiger in die Kommunistische Partei Italiens zurück: „Semel abbas, semper abbas“, schrieb er selbst, was so viel bedeutet wie „Einmal Abt, immer Abt“, und meinte damit, daß jeder, der einmal Kommunist war, es für immer bleibe.
Spinelli wurde also nie weise. Wie kann es uns also überraschen, wenn wir im Manifest von Ventotene Worte wie jene lesen, die von Giorgia Meloni zitiert wurden? „Um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden, muß die europäische Revolution sozialistisch sein“; „Privateigentum muß von Fall zu Fall abgeschafft, eingeschränkt, korrigiert und erweitert werden“; „In revolutionären Zeiten, in denen Institutionen nicht verwaltet, sondern geschaffen werden müssen, versagt die demokratische Praxis kläglich“.
Ein Punkt ist jedoch sicher, wie uns der Prof. de Leonardis erinnert: Spinellis Europa war völlig unchristlich, oder besser gesagt antichristlich.
Schon das Manifest von Ventotene trug deutlich den antichristlichen Stempel, der sich heute in der EU in virulenter Weise manifestiert. Dort heißt es nämlich: „Nur zu zwei Fragen ist es notwendig, die Ideen aufgrund ihrer besonderen Bedeutung in unserem Land im Augenblick genauer zu klären, nämlich zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche und zum Wesen der politischen Vertretung: a) Die katholische Kirche sieht sich weiterhin unerschütterlich als die einzig vollkommene Gesellschaft, der sich der Staat unterordnen müsse, und stattet sie mit den weltlichen Waffen aus, um ihrer Orthodoxie Respekt zu erzwingen. Sie präsentiert sich als natürlicher Verbündeter aller reaktionären Regime, die sie auszunutzen versucht, um Ausnahmen und Privilegien zu erlangen, ihr Vermögen wieder aufzustocken und ihre Tentakel erneut über Schulen und das Familiensystem auszustrecken. Das Konkordat, mit dem der Vatikan das Bündnis mit dem Faschismus in Italien schloß, muß unbedingt abgeschafft werden, um den rein säkularen Charakter des Staates zu bekräftigen und die Vorherrschaft des Staates über das zivile Leben eindeutig festzulegen. Alle religiösen Überzeugungen müssen gleichermaßen respektiert werden, der Staat darf jedoch kein Budget mehr für religiöse Überzeugungen haben und muß seine Bildungsarbeit zur Entwicklung des kritischen Geistes wieder aufnehmen.“
Statt Familie und Kirche der Erziehungsstaat. Aber wozu soll er erziehen? Im Prolog seiner Autobiografie, in dem er darlegt, auf welchen geheimen und tiefgründigen Ideen er sein Leben aufzubauen versucht hatte, erinnert Spinelli daran, daß die erste Maxime, die Meister Eckhart zugeschrieben wird, folgendermaßen lautet: „Wenn man einen wahren Menschen fragen würde: ‚Warum tust du deine Werke?‘, würde er, wenn er ehrlich geantwortet würde, nur sagen: ‚Ich arbeite, um zu arbeiten‘.“ „Ich arbeite, um zu arbeiten“ bedeutet, zu handeln ohne über die eigene Arbeit hinausgehende Ziele, versunken in einen immanenten und eigennützigen Aktivismus. Es ist die Philosophie der kommunistischen Praxis.
Die letzte Maxime, die Altiero Spinelli inspirierte, lautet seiner eigenen Erinnerung nach, diesmal Goethes „Studentenlied“, auch bekannt als „Das Lied von der Freiheit“, entnommen: „Ich habe meine Sache auf das Nichts gestellt.“
Das Geheimnis des Lebens von Altiero Spinelli, wie auch das aller schlechten Lehrer der sozialistisch-kommunistischen Linken, war neben dem Praxismus der Nihilismus, der auf existentieller, moralischer und sozialer Ebene in den Abgrund des Nichts führt.
Die Alternative zum Nihilismus kann nur eine Rückkehr zu Ihm sein, der im gegenwärtigen Chaos der einzige Weg, die einzige Wahrheit und das einzige Leben unserer Existenz bleibt (Joh 14,6).
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Bildmontage