Ein revolutionärer (literarischer) Geist…

Ein Roman, der das Konzil vorwegnahm


Revolutionäre Minderheiten
Revolutionäre Minderheiten

Von Giu­sep­pe Stevi

Anzei­ge

Der revo­lu­tio­nä­re Geist wird zunächst von einer oder meh­re­ren Min­der­hei­ten geteilt. Die Geschich­te lehrt, daß er sich spä­ter von die­ser Min­der­heit oder die­sen Min­der­hei­ten aus­ge­hend aus­brei­tet und unwis­sent­lich die Mas­sen mit ein­be­zieht. Der Zweck von Revo­lu­tio­nen besteht dann dar­in, zwi­schen ver­schie­de­nen Tei­len der Gesell­schaft „abzu­rech­nen“, die einen gegen die anderen.

Auch in der katho­li­schen Kir­che gibt es Revo­lu­tio­nen. Auch hier lau­ert der revo­lu­tio­nä­re Geist in eini­gen Min­der­hei­ten, schafft es dann aber nicht, die Mas­sen zu erfas­sen. Dies gilt zumin­dest für die Revo­lu­tio­nen, die inner­halb der katho­li­schen Kir­che stän­dig und in wech­seln­den Pha­sen stattfinden.

In die­sem Fall tre­ten jedoch beson­de­re Phä­no­me­ne auf. Erstens: Das anfäng­li­che revo­lu­tio­nä­re Bedürf­nis oder die anfäng­li­che revo­lu­tio­nä­re Idee ent­springt nicht der Idee, mit den ande­ren (den Geg­nern, könn­te man sagen) „abzu­rech­nen“, son­dern ent­springt weit mehr dem Bedürf­nis des ange­hen­den Revo­lu­tio­närs, mit sich selbst „abzu­rech­nen“, d. h. in die­sem Fall, mit „sich selbst ins rei­ne zu kom­men“, und zwar aus Grün­den, die nur er kennt oder viel­leicht zu ver­ste­hen glaubt.

Zwei­tens gibt es, wie gesagt, das Phä­no­men, daß die Mas­sen, anstatt den Revo­lu­tio­nä­ren begei­stert zu fol­gen, fern­blei­ben oder die­se all­mäh­lich ver­las­sen und „aus ihrem Schoß“ ver­schwin­den, indem sie sie in ihrem Unmut und in ihrer vor­geb­li­chen intel­lek­tu­el­len Selbst­zu­frie­den­heit zurücklassen.

Wenn den Revo­lu­tio­nä­ren dann die Argu­men­te aus­ge­hen, wer­den sie sich noch mehr auf die Gram­ma­tik stüt­zen und dar­auf bestehen, bestimm­te Wor­te zu benut­zen, wie die des Neu­en, der neu­en Art oder der neu­en Wege, wenn nicht gar der neu­en Grö­ße; aber sie wer­den nicht in der Lage sein, ande­re Bot­schaf­ten zu erfas­sen, die sie über ihre Pro­pa­gan­da­ka­nä­le ver­brei­ten könnten.

Über die Grün­de, die in der katho­li­schen Kir­che zu die­sem Zustand geführt haben, kann man in bezug auf ver­schie­de­ne, auch kon­tin­gen­te Situa­tio­nen spe­ku­lie­ren. Manch­mal kön­nen Tex­te jedoch etwas Inter­es­san­tes ver­ra­ten, sodaß sie mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit zu stil­len Inspi­ra­to­ren revo­lu­tio­nä­rer Hal­tun­gen gewor­den sind.

Mit­te der 1950er Jah­re schrieb ein viel dis­ku­tier­ter fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, Roger Pey­re­fit­te (Castres 1907 – Paris 2000), einen Roman mit dem Titel „Le clés de Saint Pierre“, der 1955 in Frank­reich im Ver­lag Flamma­ri­on erschien und spä­ter auch im deut­schen Sprach­raum unter dem Titel „Die Schlüs­sel von Sankt Peter“ (Stahl­berg, Karls­ru­he 1956) ver­öf­fent­licht wurde.

Es han­delt sich um einen Roman, der haupt­säch­lich in der Zeit um 1954 spielt – dem vom ehr­wür­di­gen Pius XII. aus­ge­ru­fe­nen Maria­ni­schen Jahr – und die Geschich­te eines fran­zö­si­schen Semi­na­ri­sten erzählt, der nach dem Ver­las­sen sei­nes Prie­ster­se­mi­nars in Frank­reich nach Rom kommt, um sei­ne Stu­di­en für die Prie­ster­wei­he fort­zu­set­zen, und im Haus eines Kar­di­nals der römi­schen Kurie wohnt. Auf die­se Annah­men wird eine Geschich­te über die enge Bezie­hung des Semi­na­ri­sten zu einem ita­lie­ni­schen Mäd­chen auf­ge­pfropft; eine Geschich­te, die sich spä­ter als fähig erwei­sen soll­te, den Semi­na­ri­sten zu erlö­sen, und zwar so, daß sie zusam­men mit ande­ren Even­tua­li­tä­ten sei­ne Rück­kehr nach Frank­reich begün­stig­te, um sei­ne Stu­di­en in dem Semi­nar zu been­den, das er ver­las­sen hat­te, und sich den Her­aus­for­de­run­gen zu stel­len, die Schritt für Schritt ihn zu den ver­schie­de­nen Wei­hen und bis zum Prie­ster­tum führen.

Der fran­zö­si­sche Autor greift durch minu­tiö­se und sehr rea­li­sti­sche Beschrei­bun­gen, indem er Namen von Per­so­nen der Kurie unter Papst Pius XII. nennt, die in jenen Jah­ren tat­säch­lich in die­sen Rol­len in Rom tätig waren, durch eine eben­so minu­tiö­se Beschrei­bung römi­scher Orte und der Palä­ste des Hei­li­gen Stuhls, durch eine kaden­zier­te, manch­mal gestreß­te Erzäh­lung, die auch Kri­tik an den Metho­den der mate­ri­el­len Ver­sor­gung nicht aus­läßt, eine gan­ze Rei­he von Prak­ti­ken, Bräu­chen, Fröm­mig­kei­ten des­sen an, was er für die römi­sche Kir­che hält, der er sei­ne eige­ne Vor­stel­lung von wah­rer Katho­li­zi­tät ent­ge­gen­set­zen will.

In der Tat greift der Schrift­stel­ler nicht das an, was er nega­tiv als „die römi­sche Kir­che“ defi­niert. Er greift viel­mehr die katho­li­sche Kir­che in ihrer gan­zen Uni­ver­sa­li­tät an und ver­un­glimpft bei­spiels­wei­se die Gebets- und Andachts­ta­ge so vie­ler Prie­ster, die Andachts­prak­ti­ken so vie­ler Gläu­bi­ger, die Cha­ris­men zahl­rei­cher reli­giö­ser Orden und, noch kras­ser, bestimm­te Insti­tu­tio­nen wie den Reli­qui­en­kult der Hei­li­gen, die Ablaß­pra­xis und den katho­li­schen Ritus.

Es muß gesagt wer­den, daß sogar die Sei­ten die­ses Buches – das Auf­se­hen erreg­te und über das viel gespro­chen wur­de – sogar einen sug­ge­sti­ven Ein­fluß zu bestimm­ten The­men auf bestimm­te Krei­se zu haben schie­nen, auf sol­che, die oft den kirch­li­chen Hier­ar­chien jener Zeit nahe­stan­den. Um bei der Geschich­te zu blei­ben, schei­nen die Ent­schei­dun­gen zur Umset­zung bestimm­ter Beschlüs­se, die sich nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil erga­ben, eine zustim­men­de Ant­wort auf die irri­ge Kri­tik die­ses Autors zu sein.

Zu den Irr­tü­mern gehö­ren Äuße­run­gen, die, wür­de man sie heu­te lesen, den Zei­tun­gen unse­rer Tage ent­nom­men zu sein schei­nen, wie zum Bei­spiel, als man – so heißt es – „das Kon­kla­ve am Hori­zont“ sah und mit Blick auf die ver­schie­de­nen Kar­di­nä­le kom­men­tier­te, daß „viel­leicht, wenn der Papst es schaf­fen soll­te, neue Namen auf­tau­chen wür­den. Ihm wur­de unter­stellt, die Zahl der Kar­di­nä­le erhö­hen zu wol­len, um fer­ne, nach Pur­pur dür­sten­de Län­der zufrie­den­zu­stel­len. Er wür­de dies zwei­fel­los aus­nut­zen, um den Vor­teil der Ita­lie­ner wie­der­her­zu­stel­len, die nun in der Min­der­heit waren. Der Prä­fekt der Riten schloß mit dem alten Epi­gramm: ‚Die Päp­ste geben die Hüte, nicht die Köp­fe‘“ (Roger Pey­re­fit­te: Die Schlüs­sel von Sankt Peter).

Es scheint also die Beob­ach­tung mög­lich, daß nicht nur eine Viel­zahl pasto­ra­ler Moda­li­tä­ten, die voll und ganz gül­tig sind und zu denen der fran­zö­si­sche Autor kei­ne Alter­na­ti­ven vor­schlägt, son­dern auch eini­ge Ent­schei­dun­gen, die als „Wunsch des Kon­zils“ oder zur Recht­fer­ti­gung ande­rer ähn­li­cher Initia­ti­ven prä­sen­tiert wer­den, die­sem Buch ent­nom­men wurden.

Es drängt sich der Ein­druck auf, daß bestimm­te Ent­schei­dun­gen oder Ori­en­tie­run­gen durch den Ver­zicht auf ein kla­res katho­li­sches Zuge­hö­rig­keits­ver­ständ­nis und auf das Ver­trau­en auf das Tran­szen­den­te umge­setzt wur­den, ins­be­son­de­re durch die Ent­lee­rung und Ver­ar­mung der reli­giö­sen Prak­ti­ken und der pasto­ra­len Hand­lun­gen, mit der Fol­ge, daß eine Bot­schaft zur Selbst­auf­ga­be aus­ge­sandt wur­de, zugun­sten von Ersatz­hand­lun­gen und ver­schie­de­nen Arten von mensch­li­chen und gewöhn­li­chen Protagonismen.

Es scheint fast so, als wol­le man unter bestimm­ten Umstän­den einen anony­men Weg gehen, der ange­sichts des Wor­tes Got­tes bewußt unsi­cher ist.

Fast scheint es, als woll­te man eben­so bewußt jenen vor­sich­ti­gen, ver­trau­ens­vol­len und stär­ken­den Gedan­ken auf­ge­ben, von dem das Buch an einer Stel­le berich­tet, dem aller­dings der Autor immer die gan­ze nega­ti­ve Kon­no­ta­ti­on einer pas­si­ven abwar­ten­den Hal­tung gegen­über der irri­gen Posi­ti­on zuge­schrie­ben wird, die einen refor­mi­sti­schen Akti­vis­mus anstrebt: „Wenn ein Baum zwei­mal tau­send Jah­re alt ist, braucht er unse­re schwa­che Hil­fe nicht. Über­las­sen wir ihn der guten Pfle­ge des himm­li­schen Gärt­ners“ (op. cit., S. 382).

Was für eine schö­ne Bot­schaft, wenn man sie ehr­lich im Licht des christ­li­chen Geheim­nis­ses und nicht im Licht der irdi­schen Myste­ri­en liest …

Sie for­dert uns nicht auf, pas­siv zu sein und abzu­war­ten, son­dern ermahnt uns nur, ehr­lich zu arbei­ten, den Blick immer hoch zu hal­ten, auf die Äste des Bau­mes zu schau­en und die aus­ge­zeich­ne­ten Früch­te zu sehen und zu ern­ten, die der Baum seit zwei­tau­send Jah­ren trägt.

Und die guten Früch­te wer­den wir fin­den, weil sie durch die zwei Jahr­tau­sen­de wäh­ren­de gute Pfle­ge garan­tiert sind, die so ist, weil sie vom sel­ben Gärt­ner stammt.

Dar­um soll­ten wir wach­sam, aber zuver­sicht­lich sein in die Wir­kung der guten und zwei­tau­send­jäh­ri­gen Pfle­ge durch den himm­li­schen Gärtner.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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