
Ein Gastkommentar von Hubert Hecker
Der 2019 zum katholischen Glauben konvertierte US-Vizepräsident J.D. Vance erklärte kürzlich in einem Interview, dass ihn vor allem die Lehren des Kirchenvaters Augustinus über den Gottesstaat (De civitate Dei) überzeugt hätten. Im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Streit um die illegale Migration exemplifizierte er seine Einsichten in den „ordo amoris“ des gelehrten Bischofs:
Die Ordnung der Liebe verlange von den Christenmenschen eine abgestufte Pflicht der praktischen Nächstenliebe – vom engen Kreis der Familie, über die Nachbarn, die Mitbewohner der Gemeinde, des eigenen Landes bis hin zu den Menschen der ganzen Welt. Mit dem Hinweis auf Augustinus‘ Lehre kritisierte er die Migrationspolitik der Führer der amerikanischen Bischofskonferenz wie auch des Vatikans. Nach deren Meinung verdienten alle Einwanderer aus aller Welt, auch die illegalen, die gleiche Zuwendung wie die ‚Nächsten‘ in Familie, Nachbarschaft, Gemeinde und Land. Damit „stelle die Amtskirche die augustinische Ordnung der Liebe auf den Kopf“, meinte der amerikanische Vizepräsident (zitiert aus der FAZ vom 17.2.25).
Wie sieht die Position von Papst Franziskus zur Migration aus?
Laut Vatican News vom 6.5.2021 plädierte der Papst angesichts der „gegenwärtigen Migrationsströme für eine Bereitschaft, alle offen aufzunehmen“. Erst vor einem halben Jahr geißelte er als „schwere Sünde“, wenn Migranten, auch illegale, an der Grenze zurückgewiesen würden. „Gott sei mit den Migranten und nicht mit denen, die sie zurückweisen“ (Vatican News 28.8.24). Das neue Gebot für die westlichen Industrieländer, alle Migranten unterschiedslos aufzunehmen, wurde auf der säkularen UNO-Konferenz am 10. und 11. Dezember 2018 in Marrakesch beschlossen. In dem dort abgestimmten Migrationspakt beseitigte man jede Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten sowie zwischen illegaler und regulärer Migration. Es wurde faktisch ein (Menschen-) Recht auf Einwanderung in das Land der Wahl postuliert. Die Zielländer dagegen hätten kein Recht auf Zurückweisung. Kardinalstaatssekretär Parolin gab den UNO-Beschlüssen im Namen von Papst Franziskus seinen Segen.
Im aktuellen Streit um die amerikanische Migrationspolitik gab Franziskus in seinem Brief vom 10.2.2025 an die US-Bischöfe dem von Vance vorgetragenen Konzept des augustinischen „ordo amoris“ eine energische Abfuhr, ohne den US-amerikanischen Vizepräsidenten zu nennen. Die christliche Nächstenliebe sei gerade nicht eine jeweils abgeschwächte „konzentrische Ausweitung“ der Liebe auf andere Personen und Gruppen. Die wahre ‚Ordnung der Liebe‘ werde nur dadurch erkannt, wenn man vom Gleichnis des „barmherzigen Samariters“ (Lk 10,25–37) ausgehend und meditierend zu einer Form der Liebe gelange, die eine „ausnahmslos alle umfassende Geschwisterlichkeit“ begründe (FAZ).
Die Gesamtheit der zu Liebenden betont Franziskus dreifach, einmal negativ mit dem Wort ‚ausnahmslos‘, dann positiv mit dem Begriff ‚alle‘ und schließlich mit ‚umfassender Geschwisterlichkeit‘. Offensichtlich meint Franziskus hier, dass die Christen alle acht Milliarden Menschen der Welt in gleicher Weise lieben sollten. Auch mit dem Begriff ‚Geschwisterlichkeit‘ sind Abstufungen der Nächstenliebe etwa nach Nähe und Ferne oder bei großer und geringerer Not nicht vereinbar.
Eine solche allumfassende, milliardenfache und gleichmäßige Liebe zu allen Menschen ist nicht wirklich menschlich, weder praktisch möglich noch kategorial sinnvoll. Diese allumfassende Liebe ist allein von göttlicher Natur. Gott hat alle Menschen geschaffen und er liebt alle und jeden einzelnen gleichmäßig ohne Unterschiede. Es wäre aber eine unmögliche Hypermoral, eine solche Liebe von Christenmenschen zu fordern, wie Franziskus das macht. Die Menschen als Ebenbilder Gottes sollen zwar barmherzig sein wie der Vater-Gott und nach dessen Vollkommenheit und Heiligung streben, aber eben im Wissen um die analogia entis, dass die Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf von größerer Unähnlichkeit begleitet ist.
Auch das säkular formulierte Recht aller Menschen auf freie Einwanderung in das Land ihrer Wahl und die entsprechende Pflicht der (reichen) Zielländer, alle Migranten unterschiedslos aufzunehmen, entspricht nicht den Völkerrechtsprinzipien von Selbstbestimmung souveräner Staaten über ihre Grenzen und Bevölkerung. Ebenfalls kann und muss nach der katholischen Soziallehre ein Staat in Verfolgung des Gemeinwohls dem uneingeschränkten Zustrom Grenzen setzen können.
Ergibt sich nach dieser Kritik an einer maßlos ausgeweiteten Liebe bzw. Migration, dass das augustinische „ordo amoris“ eben doch das maßgebliche christliche Ordnungskonzept der Nächstenliebe ist?
Theologen geben dazu folgende Hinweise:
• Sicherlich kann die augustinische ‚Ordnung der Liebe‘ zunächst als Grundregel christlicher Nächstenliebe angenommen werden. Thomas von Aquin hat die Lehre des Augustinus bestätigt und differenzierend weiterentwickelt: „Wir sind zwar verpflichtet, jedem Menschen Gutes zu wünschen, aber wir können nicht jedem Gutes tun. Daher sagt der heilige Augustinus, dass wir alle zu lieben (diligere) verpflichtet sind, aber nicht gehalten sind, allen Gutes zu tun (benefacere)“ (aus einem Leserbrief der FAZ am 21.2.2025)
• Aus der Bibel kann die Grundregel der abgestuften Nächstenliebe begründet werden. Aber es gibt darin eben auch mehrere Jesus-Sprüche und Beispiele, die zu einem Mehr gegenüber der Regelkonformität auffordern – etwa mit dem Gebot der Feindesliebe. Eine Ausweitung der Ordo-amoris-Regel besteht auch im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der befand sich damals in Judäa auf der Reise, für ihn Ausland, und er half einem, mit dem er weder über Familie, Nachbarschaft, Gemeinde oder Land verbunden war. Als christliche Maxime kann man diesem Beispiel entnehmen, dass man, mit Fremden konfrontiert, die sich in großer Not befinden, unmittelbar helfen sollte nach seinen eigenen Möglichkeiten. Auf heute übertragen heißt das z. B., bei weltweiten Hungersnöten, Katastrophen etc. durch Spenden oder institutionell durch staatliche Nothilfemaßnahmen die Not nach Kräften zu lindern, wie das Privatpersonen und die westlichen Länder auch regelmäßig machen.
• Thomas von Aquin gibt ein Beispiel für eine Regelausnahme, etwa dass wir in manchen Fällen „denen konkrete Hilfe geben, die größere Not haben, anstatt jemandem, der uns näher steht“. Der Aquinate mag dabei an die mittelalterlichen Bettler gedacht haben, so der amerikanische Theologe Stephen J. Pope, die bei fehlendem Sozialstaat damals allein auf die Hilfe der Menschen angewiesen waren. Es geht also auch um die Berücksichtigung der „Grade der Not“, sei sie nun nah oder fern.
Als Resümee aus diesen Überlegungen sei festgehalten:
Die augustinische Regel des ‚ordo amoris‘ kann als Grundregel der christlichen Nächstenliebe angesehen werden. Aber zu der nach Nähe und Ferne abgestuften Pflicht der tätigen Nächstenliebe gibt es erweiternde Differenzierungen – etwa nach der Größe der Not oder zur Feindesliebe.
Wie sieht die Konstellation der Migrationsprobleme aus, auf die die christlichen Prinzipien angewandt werden sollen?
In der US-amerikanischen Debatte geht es hauptsächlich um die illegale Einwanderung von Migranten, insbesondere aus Mittel- und Südamerika an der langen Südwest-Grenze mit Mexiko. In der Ära von Präsident Biden registrierten die US-Grenzbehörden eine sprunghafte Erhöhung der versuchten Grenzübertritte auf durchschnittlich 6.850 pro Tag. 2023 kamen täglich etwa 5000 von Schlepperbanden geschleuste illegale Migranten in die USA, also mehr als 1,8 Millionen unkontrollierte Einwanderer. An den kontrollierten Grenzübergängen registrierte die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde (CBS) seit 2021 „landesweit 55.106 Festnahmen von Ausländern mit strafrechtlichen Verurteilungen oder ausstehenden Haftbefehlen“ – so der republikanische Ausschuss für Heimatschutz. Die Kriminalitätszahlen bei den Illegalen dürften aufgrund der potenzierten Gesamtzahlen um ein Vielfaches höher liegen. Aufgrund dieser Erfahrungen hat die Trump-Vance-Regierung beschlossen, die Zahlen der illegalen Einwanderer drastisch zu senken.
Übrigens geht es auch bei der CDU-Initiative im „Zustrombegrenzungsgesetz“ vom 31.1.2025 in der Hauptsache um die Zurückweisung von illegalen Migranten, die ihre Pässe entsorgt haben, um eine Abschiebung nach Recht und Gesetz zu verhindern. Frankreich macht es seit Jahren vor, die Illegalen an der Grenze zurückzuweisen. Die Kontrolle der Herkunft ist auch deshalb notwendig, um auch Kriminelle und islamistische Gefährder abweisen zu können.
Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich nun aus den moraltheologischen Überlegungen bezüglich der Kontroverse um die Migration?
Die Position von Papst Franziskus, alle Migranten unterschiedslos aufzunehmen, ist auch aus dem erweiterten „ordo caritatis“ nicht zu rechtfertigen. Die begrenzten Aufnahmekapazitäten jedes Landes sprechen als rationales Argument gegen die vermeintliche Pflicht, Migranten unbegrenzt aufzunehmen. Ebenso ist Franziskus‘ Behauptung, die Zurückweisung von (illegalen) Migranten sei „schwere Sünde“, denn die hätten Gott auf ihrer Seite, die staatlichen Zurückweiser dagegen nicht, theologisch anmaßend.
Gerade das Argument des Thomas von Aquin, dass der „ordo caritatis“ die Grade der abzuhelfenden Notsituationen berücksichtigen sollte, erfordert eine strikte Kontrolle und Prüfung der Migranten an den legalen Grenzstationen. Aufgrund der oben erwähnten begrenzten Kapazitäten ist eine kontrollierte Aufnahme der Einwanderer zwingend, um die wirklich größten Notfälle von wirtschaftlicher Art und politischer Unterdrückung zu berücksichtigen.
Bild: Youtube/NBC (Screenshot)
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