
Papst Franziskus zeigt seit Beginn seines Pontifikats ein sehr ausgeprägtes Interesse am interreligiösen Dialog, doch eine Person ist davon ausgeklammert: der Dalai Lama.
Am Sonntag ist der älteste Bruder des Dalai Lama, des spirituellen Oberhaupts des tibetischen Buddhismus und Oberhaupts der Gelug-Schule, der jüngsten der vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus, verstorben. Wer sich eine Kondolenz von Santa Marta erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Seit bald zwölf Jahren bemüht sich der Dalai Lama um eine Begegnung mit dem Kirchenoberhaupt, allerdings ohne Erfolg. Während Franziskus selbst deutlich rangniedere islamische Religionsgelehrte umarmt und ihre Hände küßt, meidet er den Buddhistenführer aus Tibet. Ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Jahre spricht Bände. Im Dezember 2014: „Vatikan: Der Papst verweigert Begegnung mit dem Dalai Lama“; 2021: „Neue Ohrfeige von Papst Franziskus für den Dalai Lama“; 2023: „Warum will der Papst den Dalai Lama nicht sehen?“, oder im selben Jahr: „Der Papst hat den Dalai Lama nie getroffen, nicht einmal privat“.
Und so ist es auch Anfang 2025 geblieben: „Die Türen von Santa Marta bleiben für den Dalai Lama verschlossen“, so die Vatikanistin Franca Giansoldati gestern in der römischen Tageszeitung Il Messaggero.
Claudio Cardelli, langjähriger Vorsitzender der Italien-Tibet-Vereinigung, sagt zu den für den Dalai Lama verschlossenen Türen: „Wir wünschen uns, daß sie sich nach so langer Zeit auch für ihn öffnen. In den fast zwölf Jahren seines Pontifikats hat Bergoglio es sorgfältig vermieden, das buddhistische Oberhaupt einzuladen, zu empfangen oder zu treffen, trotz seiner weltweiten Bedeutung als Bezugspunkt für den tibetischen Buddhismus, der als zweitwichtigste spirituelle Figur der Welt nach dem Papst gilt. Wir haben dutzende Male versucht, im Vatikan durchzudringen und ein Treffen zwischen den beiden Führern zu ermöglichen, aber wir sind immer auf eine unüberwindbare Mauer gestoßen. Wir glauben, daß es nicht so sehr an ihm liegt, sondern am Chef seiner Diplomatie, Kardinal Pietro Parolin, von dem das mit China unterzeichnete Abkommen abhängt.“
Bereits in der Vergangenheit wurde Kardinalstaatssekretär Parolin von jenen ins Visier gerückt, die keine direkte Kritik an Papst Franziskus üben wollen. Es gibt allerdings keinen Zweifel, daß er selbst die China-Politik bestimmt, und um diese geht es in der Sache.
Vor zehn Jahren wurde Franziskus einmal direkt gefragt, ob seine Weigerung, den Dalai Lama zu empfangen, aus Angst vor der Volksrepublik China geschehe, und er antwortete, keine Angst vor China zu haben.
Wenn Cardelli erklärt, daß der Dalai Lama nach dem Papst die „zweitwichtigste spirituelle Figur der Welt“ sei, hat dies keine historische Grundlage, sondern geht einzig auf die jüngste Geschichte und geopolitische Interessen zurück. Der verstorbene Bruder des Dalai Lama, der einzige, der nicht Mönch wurde, war ein wichtiger politischer Arm für die tibetische Exil-Gemeinschaft. 1959 hatte er die CIA bei der Bewaffnung tibetischer Separatisten unterstützt, die in einen dann mißglückten Aufstand gegen Peking getrieben wurden.
Die Figur des Dalai Lama ist übrigens wesentlich jünger, als die meisten denken. Sie geht auf die Mongolenherrschaft über Tibet zurück. 1578 verlieh der Mongolen-Khan einem von ihm verehrten Lehrer den Ehrentitel Dalai Lama.
Franca Giansoldati formulierte gestern zur Verweigerungshaltung von Papst Franziskus sehr deutlich:
„Bergoglio meidet den Dalai Lama wie die Pest, um nicht mit Peking in Konflikt zu geraten, mit dem der Heilige Stuhl ein historisches Abkommen über die Normalisierung der chinesischen katholischen Kirche und die Ernennung chinesischer Bischöfe geschlossen hat.“
In der Tat kennt Franziskus keinerlei Berührungsängste zum Buddhismus. In den vergangenen zwölf Jahren empfing er zu verschiedenen Anlässen Vertreter buddhistischer Traditionen, ob aus Japan, aus Thailand, aus Taiwan (Nationalchina) oder auch aus der Volksrepublik China (Rotchina). Erst vergangene Woche waren Mönche des berühmten Shaolin-Tempels, des Entstehungsorts der wichtigsten Schule des chinesischen Buddhismus, bei ihm.

Einen Monat zuvor war mit Kyabie Kundeling Rinpoche ein bekannter tibetischer Mönch in den Vatikan gekommen, um bei einer interreligiösen Veranstaltung im Augustinianum zu sprechen. Am Ende der Tagung konnte er zusammen mit den anderen Rednern den Papst treffen. Auch ein Fototermin wurde erlaubt, bei dem er dem Papst ein Buch über den Dalai Lama überreichen durfte. In Peking wird man dies aufmerksam beobachtet haben. Insgesamt war es allerdings die bisher erst und einzige Begegnung von Franziskus mit einem Vertreter des tibetischen Buddhismus.
Unter seinen Vorgängern war das noch anders. Der erste Papst, der sich mit dem Dalai Lama traf, war Paul VI. 1973. Weitere Begegnungen erfolgten mit Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Der amtierende Dalai Lama, der 14. Dalai Lama, heißt eigentlich Tenzin Gyatso und wurde am 6. Juli 1935 geboren. Er ist damit rund anderthalb Jahre älter als Franziskus. In wenigen Monaten wird er sein 90. Lebensjahr vollenden. Sein nahender Tod wird von seinen Anhängern mit Sorge gesehen, denn die kommunistischen Machthaber Chinas werden die Gelegenheit nützen, einen Dalai Lama ihrer Wahl einzusetzen.
Der tibetische Buddhismus kennt noch eine zweite zentrale Figur, die des Panchen Lama. Auch sie entstand durch die Mongolen-Herrschaft in Tibet und wurde 1642 vom 5. Dalai Lama etabliert. Auch er ist ein geistlicher Führer, spielt jedoch die entscheidende Rolle bei der Anerkennung des „reinkarnierten“ Dalai Lama, also in der Zeit nach dem Tod eines amtierenden Dalai Lama und der Einsetzung seines Nachfolgers.
Nach dem Tod des 10. Panchen Lama erkannte der Dalai Lama einen Jungen als „reinkarnierten“ 11. Panchen Lama an. Dieser wurde darauf 1995 von den kommunistischen Behörden verhaftet und verschwand. Die Regierung in Peking setzte darauf einen eigenen Panchen Lama ein und sicherte sich damit einen zentralen Einfluß auf die Auswahl des nächsten Dalai Lama. Ein beträchtlicher Teil des tibetischen Buddhismus beharrt auf den vom Dalai Lama eingesetzten Panchen Lama, doch gilt dieser als verschollen.
In Santa Marta gilt unter Franziskus das eherne Gesetz, es unter keinen Umständen zu „Unstimmigkeiten“ mit Peking kommen zu lassen.
Zur Geschichte Tibets und des Dalai Lama
Zur Geschichte Tibets und des Dalai Lama schrieb Katholisches.info am 20. März 2023:
„Die Mongolen, die im ausgehenden Hochmittelalter Fremdherrschaft, Leid und Elend bis tief nach Europa hineintrugen, vor allem nach Rußland, unterwarfen zur gleichen Zeit auch Tibet, wenngleich das gebirgige Hochland als südlicher Rand des Mongolenreiches in kultureller, religiöser und auch staatlicher Hinsicht eine gewisse Eigenständigkeit bewahrte. Das Amt des Dalai Lama geht auf diese Mongolenherrschaft zurück und ist weniger alt, als viele meinen.
1578 verlieh der Mongolen-Khan seinem verehrten geistlichen Lehrer den Ehrentitel Dalai Lama. Aus dem buddhistischen Reinkarnationsdenken entstand die Idee, daß sich dieser Lehrer nach seinem Tod jeweils wieder reinkarniere. Deshalb ziehen nach dem Tod des Dalai Lama Mönche aus, um in einem kurz danach geborenen Kind die Reinkarnation dieses Lehrers des Mongolen-Khans zu suchen. Das dauert oft Jahre, und in der Geschichte mischte bei der Auswahl die Politik auch schon mit.
Die Mongolenherrschaft bestand bis ins 18. Jahrhundert hinein. Innermongolische Konflikte wurden vom Kaiser von China genützt, um die Macht der unruhigen mongolischen Nachbarn zu schwächen und Tibet 1720 zu besetzen. Die staatliche Unabhängigkeit wurde von China respektiert, Tibet aber faktisch zu einem chinesischen Protektorat. Peking nahm durch einen Vertreter in der tibetischen Hauptstadt Einfluß auf die Regierung Tibets und auch auf die Auswahl des neuen Dalai Lama, ohne jedoch etwas am politischen oder sozialen System des Landes zu ändern oder in andere Bereiche des Lebens einzugreifen. Das feudalistische Tibet, seit dem 18. Jahrhundert mit dem Dalai Lama als politischem wie religiösem Oberhaupt, war kein wirklich souveräner, sondern unterstand der Oberhoheit eines anderen Staates (Suzeränität), der Chinas. Das wurde möglich, weil sich das chinesische Interesse an dem unwegsamen Gebiet in Grenzen hielt.
Diese Zeit von Stabilität, Ruhe und Frieden bestand bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als 1903 die Briten von Indien aus einen Feldzug gegen Tibet unternahmen. Ihre Berufsarmee konnte die an Waffen und Ausbildung haushoch unterlegene tibetische Armee trotz tapferen Widerstands ohne nennenswerte Probleme überwinden. Der Dalai Lama flüchtete in die Mongolei, während die Briten dem Land ihre Bedingungen diktierten – auch dem Vertreter des Kaiserreichs China. Die Briten (bzw. die britische Ostindien-Gesellschaft) hatten das chinesische Kaiserreich seit dem 19. Jahrhundert in seinem Inneren so zersetzt und geschwächt (Stichwort: Verbreitung von Opium), daß auch Peking nicht in der Lage war, den Briten Widerstand entgegenzusetzen. Zu den von den Briten diktierten Bedingungen gehörte, daß Tibet nur mehr Handel mit Britisch-Indien betreiben und nur dorthin Telefonleitungen oder neue Verkehrsverbindungen errichten durfte.
Im Great Game (das große Spiel), wie die Briten den Machtkampf mit Rußland in Zentralasien nannten, einigten sich Rußland und Großbritannien jedoch kurz darauf, den Status quo ante, vor der britischen Invasion, wiederherzustellen. Die britische Invasion hatte aber ein neues Element in die Tibet-Frage gebracht: einen geopolitischen Aspekt. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte Tibet in naher Zukunft wieder eine Rolle spielen. Doch bleiben wir in der Geschichte:
China übernahm also 1910 erneut die Kontrolle in Lhasa, beendete diese jedoch ebenso schnell wieder, weil im folgenden Jahr in China die Revolution ausbrach, der Kaiser gestürzt und die Republik ausgerufen wurde. Tibet erklärte sich im modernen Sinn für unabhängig und souverän. China war in den folgenden Jahrzehnten durch Instabilität und wegen der japanischen Invasion in der Abwehr eines äußeren Feindes gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg versank es in einen Bürgerkrieg zwischen der nationalchinesischen Kuomintang und den Kommunisten. Als letztere 1949 siegten, die sozialistische Volksrepublik China ausriefen und Tabula rasa unter ihren Gegnern machten, fand China wieder Gelegenheit, sich an Tibet zu erinnern. Nur geschah dies nun unter ganz anderen Vorzeichen.
Ende 1950 marschierten chinesische Truppen in Tibet ein. Gegen die tibetische Armee hatten sie ebenso wenig Schwierigkeiten wie die Briten ein halbes Jahrhundert zuvor. Die Kommunistische Partei Chinas verkündete propagandistisch, daß Tibet vom ‚imperialistischen Joch befreit’ und mit dem ‚Mutterland‘ wiedervereinigt werde. China war allerdings nie das ‚Mutterland‘ Tibets. Einen solchen Anspruch konnte, wenn überhaupt, bestenfalls die Mongolei erheben.
In den ersten Jahren hielten sich die chinesischen Einmischungen noch einigermaßen in Grenzen. Trotz US-amerikanischer Versuche, Aufstände anzuzetteln, blieb das Verhältnis zwischen Lhasa und Peking leidlich. Dafür sorgte allerdings eine starke chinesische Militärpräsenz. In der tibetischen Hauptstadt waren zeitweise gleichviel chinesische Soldaten stationiert, wie die Stadt Einwohner zählte.
Ende der 50er Jahre verschlechterte sich das Verhältnis rapide. Die Kommunisten fühlten ihre Macht in China ausreichend gefestigt. Parallel zur Gründung einer von Rom losgelösten schismatischen katholischen Kirche begannen die kommunistischen Machthaber auch jede Zurückhaltung gegenüber dem religiösen System Tibets aufzugeben. Das zeigte sich besonders symbolträchtig an der rücksichtslosen Behandlung des Dalai Lama. Dies empörte die Tibeter so sehr, daß es 1959 zu einem Aufstand gegen die Besatzungsmacht kam. Die chinesische Armee schlug den Aufstand grausam nieder, und der Dalai Lama flüchtete nach Indien.
Im Zuge der kurz darauf begonnenen Kulturrevolution waren die Kommunisten bestrebt, die tibetische Kultur radikal auszulöschen. Da Tibet politisch und kulturell theokratisch geformt war, bedeutete das in erster Linie die Bekämpfung der Religion. Der Buddhismus wurde zurückgedrängt, Hunderte von buddhistischen Klöstern geschlossen und Mönche verschleppt. Viele Klöster und zahlreiche andere Kulturdenkmäler wurden zerstört. Parallel begann Peking mit der Ansiedlung von Chinesen in Tibet, um die einheimische Bevölkerung sozial aufzubrechen, eine fünfte Kolonne zu installieren und auch ethnisch im eigenen Haus unter Druck zu setzen. Tibet, territorial ein riesiges Gebiet, zählte damals nur knapp 1,2 Millionen Einwohner. China hingegen verfügte über ausreichend Bevölkerungsressourcen.
Die Ansiedlungspolitik erwies sich jedoch als wenig erfolgreich, da die Chinesen kaum Interesse zeigten, sich in das abgelegene, für sie auch klimatisch ungünstige „Dach der Welt“ verpflanzen zu lassen. Die Tibeter konnten die ethnische Homogenität weitgehend bewahren. Sie stellen heute im Autonomen Gebiet Tibet der Volksrepublik China (dem tibetischen Kernraum) noch 91–93 Prozent der Landesbevölkerung. Die Chinesen machen rund sechs bis acht Prozent aus.
Seit den 80er Jahren duldet das kommunistische Regime wieder eine Privatwirtschaft. Gab es mehr als 30 Jahre lang nur staatliche oder staatlich gelenkte genossenschaftliche Unternehmen, haben die privaten Unternehmen zahlenmäßig inzwischen die Oberhand zurückgewonnen. Auch gegenüber der tibetischen Sprache zeigt sich Peking seit Anfang des 21. Jahrhunderts entgegenkommender. Tibetisch und Chinesisch sind seither gleichberechtigte Landessprachen.“
Für den Dalai Lama ist allerdings bis heute kein Platz in Tibet.
Die USA ihrerseits zeigten seit den 50er Jahren großes Interesse, neben anderen auch die Tibet-Frage zur Schwächung Rotchinas zu verwenden. Aus diesem Grund wurde die Figur des geflüchteten Dalai Lama zum Gegenstand westlicher Propaganda, und das sehr erfolgreich. Die „weltweite Bedeutung“ des Dalai Lama entstand erst ab diesem Zeitpunkt und vor diesem Hintergrund.
- Besonders interessant auch: Die verborgenen Katholiken Tibets.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va
Seit dem öffentlichen „Zungenkuss“ mit einem kleinen Jungen, ist mir der Dalai Lama nur schwer erträglich.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/hab-s-kaum-ertragen-kritik-an-dalai-lama-nach-kuss-von-kind,Tb7LWtD