Die „dünne rote Linie“

Die Ordnung unseres inneren Lebens ist die dünne rote Linie, die uns immer den Sieg sichert


Schottische Rotröcke bildeten eine dünne rote Linie, die 1854 die Schlacht von Balaklawa entschied.
Schottische Rotröcke bildeten eine dünne rote Linie, die 1854 die Schlacht von Balaklawa entschied.

Von Rober­to de Mattei*

Unter den vie­len Krie­gen, die Euro­pa seit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on heim­ge­sucht haben, ist der Krim­krieg, der zwi­schen 1853 und 1856 statt­fand, einer der am wenig­sten bekann­ten. Er wur­de nach der gro­ßen Halb­in­sel im Schwar­zen Meer benannt, die heu­te zwi­schen Ruß­land und der Ukrai­ne umstrit­ten ist.

Den­noch ver­dient es die­ser Krieg, daß man sich an ihn erin­nert, und zwar aus meh­re­ren Grün­den. Der Haupt­grund ist, daß er das Ende der soge­nann­ten Hei­li­gen Alli­anz bedeu­te­te, die 1815 zwi­schen den gro­ßen Mon­ar­chien Öster­reichs, Ruß­lands und Preu­ßens geschlos­sen wor­den war, um das revo­lu­tio­nä­re Den­ken zu bekämp­fen, das Euro­pa auf­ge­wühlt hat­te. Die­se Alli­anz war jedoch unna­tür­lich, da sich die­se drei Mäch­te zu unter­schied­li­chen Kon­fes­sio­nen bekann­ten. Das öster­rei­chi­sche Kai­ser­reich war katho­lisch, das König­reich Preu­ßen pro­te­stan­tisch und das rus­si­sche Kai­ser­reich ortho­dox. Es ist kein Zufall, daß der Krim­krieg sei­nen Ursprung in einem Streit zwi­schen Ruß­land und Frank­reich über die Kon­trol­le der Hei­li­gen Stät­ten des Chri­sten­tums auf osma­ni­schem Gebiet hat­te: Ruß­land unter­stütz­te den ortho­do­xen Kle­rus und Frank­reich den katholischen.

Ein eben­so wich­ti­ger Grund war jedoch, daß die­ser Krieg ein gefähr­li­cher Ver­such des zari­sti­schen Ruß­lands war, sich bis zum Bos­po­rus aus­zu­deh­nen und dabei die Schwä­chung des Osma­ni­schen Rei­ches aus­zu­nut­zen. Die Erobe­rung die­ser Gebie­te hät­te für Ruß­land nicht nur die Vor­herr­schaft über das Schwar­ze Meer, son­dern auch über den Bal­kan, wenn nicht sogar das Mit­tel­meer bedeu­tet. Die Reak­ti­on war daher vor­her­seh­bar. Als das Zaren­reich die Donau­für­sten­tü­mer Mol­dau und Wala­chei besetzt und eine tür­ki­sche Flot­te im Schwar­zen Meer ver­nich­tet, ent­sen­den das Ver­ei­nig­te König­reich und Frank­reich zwei Expe­di­ti­ons­korps zur Unter­stüt­zung der Tür­ken. Zu den West­mäch­ten gesell­te sich 1855 das König­reich Sar­di­ni­en, dem Mini­ster­prä­si­dent Camil­lo Graf Cavour inter­na­tio­na­les Anse­hen ver­schaf­fen woll­te, um die ita­lie­ni­sche Revo­lu­ti­on zu voll­enden. Der Fall der Stadt Sewas­to­pol, Ruß­lands wich­tig­sten Flot­ten­stütz­punkts am Schwar­zen Meer, mar­kier­te das Ende des Krie­ges und ließ den Mythos der Unbe­sieg­bar­keit Ruß­lands, der sich nach der Nie­der­la­ge Napo­le­ons gebil­det hat­te, bröckeln. Der Pari­ser Frie­den vom 30. März 1856 sicher­te die Neu­tra­li­tät des Schwar­zen Mee­res im Namen einer Poli­tik des Gleichgewichts.

Rus­si­sche Ver­tei­di­gung von Sewas­to­pol. Die Erstür­mung der Stadt durch west­li­che Alli­ier­te und Tür­ken been­de­te den Krimkrieg

Der Krim­krieg soll­te aber auch wegen eini­ger heroi­scher Epi­so­den in Erin­ne­rung blei­ben, die sich ins­be­son­de­re in der Schlacht von Bal­a­k­la­wa am 25. Okto­ber 1854 ereig­ne­ten. An die­sem Tag gelang es dem 93. High­lan­der Inf­an­try Regi­ment, einer klei­nen schot­ti­schen Ein­heit der bri­ti­schen Armee, mit einer dün­nen Feu­er­li­nie einen rus­si­schen Kaval­le­rie­an­griff zu stop­pen, der das Schick­sal der Schlacht hät­te ent­schei­den können.

Die rus­si­sche Kaval­le­rie, bestehend aus 2.500 Mann, rück­te gegen die bri­ti­sche Front vor, als eine Grup­pe von vier Schwa­dro­nen Ingerman­land-Husa­ren, etwa 400 Mann, ver­such­te, den Feind zu umge­hen und auf das Lager von Bal­a­k­la­wa zuzu­steu­ern, das von etwas mehr als 200 High­land­ers von Köni­gin Vic­to­ria ver­tei­digt wur­de. Der Regi­ments­kom­man­deur, Sir Colin Camp­bell, sag­te zu sei­nen Män­nern: „Von hier aus gibt es kei­nen Rück­zug, mei­ne Her­ren. Ihr müßt ster­ben, wo ihr steht.“ Ein jun­ger Offi­zier ant­wor­te­te stell­ver­tre­tend für alle: „Ja, Sir. Wir wer­den tun, was wir kön­nen.“

Nor­ma­ler­wei­se hät­te die For­ma­ti­on für einen Kaval­le­rie­an­griff vier Rei­hen Gewehr­schüt­zen umfaßt, aber da Camp­bell nicht genug Män­ner hat­te, um das wei­te Gelän­de in der Län­ge abzu­decken, befahl er sei­nen Män­nern, sich in zwei Rei­hen auf­zu­stel­len. Ein­hun­dert Mann knie­ten mit ihren Vor­der­la­der­mus­ke­ten, die ande­ren stan­den hin­ter ihnen, eben­falls mit ange­leg­ten Mus­ke­ten. Alle tru­gen Schot­ten­röcke und die tra­di­tio­nel­len eng­li­schen Rotröcke.

Der Kor­re­spon­dent der Lon­do­ner Times, Wil­liam H. Rus­sell, der die Schlacht von einem Hügel aus beob­ach­te­te, präg­te den Aus­druck „Thin Red Streak“ („dün­ne rote Linie“), um die Linie der schot­ti­schen Hoch­län­der in ihren schar­lach­ro­ten Uni­for­men zu beschrei­ben. „Zwi­schen der rus­si­schen Kaval­le­rie und dem Balaklawa‑Lager“, schrieb er, „war nur eine dün­ne rote Linie zu sehen, aus der Stahl­spit­zen rag­ten.“

Die rus­si­sche Kaval­le­rie, die aus den Wei­ten der Gegend zur fin­ni­schen Wild­nis kam, war über­zeugt, daß sie die dün­ne rote Linie der Bri­ten leicht über­wäl­ti­gen konn­te, nicht nur wegen ihrer zah­len­mä­ßi­gen Über­le­gen­heit, son­dern auch wegen ihrer Bewaff­nung mit Säbeln, Spee­ren, Pisto­len und leich­ten Mus­ke­ten, die sie zu einer der furcht­erre­gend­sten Ein­hei­ten der rus­si­schen Armee mach­te. Als der Angriff begann, stan­den die High­lan­der-Schüt­zen still, den Fin­ger am Abzug, und feu­er­ten nicht, bis der Befehl kam. Erst als die Husa­ren auf fünf­hun­dert Meter her­an­ge­kom­men waren, gab Camp­bell den Befehl, das Feu­er zu eröff­nen. Das erste Gewehr­feu­er konn­te den Angriff nicht auf­hal­ten, und die Rus­sen hat­ten drei­hun­dert Yards (ca. 270 m) erreicht, als der zwei­te Befehl ertön­te. Wie­der wur­den nur weni­ge Husa­ren getrof­fen. Die Situa­ti­on schien ver­lo­ren. Es blieb nur noch die Mög­lich­keit einer letz­ten Mus­ke­ten­sal­ve. Der Galopp der Husa­ren schien über­wäl­ti­gend, aber kei­ner der Schüt­zen ver­lor die Fas­sung. Es ver­gin­gen lan­ge Augen­blicke, bis zum drit­ten Mal der Befehl zum Feu­ern kam. Eine gro­ße Anzahl rus­si­scher Kaval­le­ri­sten, die aus näch­ster Nähe erschos­sen wur­den, fiel, die ande­ren wichen ver­wirrt zurück. Auf dem Schlacht­feld lag der bei­ßen­de Geruch von Staub und Feu­er in der Luft, wäh­rend schot­ti­sche Dudel­sack­klän­ge den Sieg feierten.

Die bri­ti­schen Sol­da­ten hat­ten sich gegen den Feind durch­ge­setzt, weil sie Ehr­ge­fühl, Dis­zi­plin und Selbst­be­herr­schung bewie­sen hat­ten. Ihr Ehr­ge­fühl hin­der­te sie dar­an, sich zurück­zu­zie­hen, ihre Dis­zi­plin ver­lang­te eiser­nen Gehor­sam gegen­über ihren Befeh­len, und ihre Selbst­be­herr­schung war die Fähig­keit, eine schreck­li­che Situa­ti­on ruhig zu meistern.

Im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch ist die „dün­ne rote Linie“ zu einer Meta­pher für einen Moment extre­mer Gefahr gewor­den, dem man mit Mut, Dis­zi­plin und Selbst­be­herr­schung begeg­net, mit einem Wort: mit Ord­nung, um Panik und Ver­wir­rung zu vermeiden.

In jeder schwie­ri­gen Zeit in unse­rem Leben muß die Ruhe über die Auf­re­gung sie­gen. Es gibt eine natür­li­che Ruhe, die aus der Gewohn­heit ent­steht, die Gefüh­le und Lei­den­schaf­ten zu beherr­schen, und es gibt eine über­na­tür­li­che Ruhe, die die Ord­nung und Besin­nung der Kräf­te der See­le ist. In dem tur­bu­len­ten Cha­os unse­rer Zeit ist die Ord­nung unse­res inne­ren Lebens die dün­ne rote Linie, die uns immer den Sieg sichert.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​MiL

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1 Kommentar

  1. Da schlagt wie­der das anti­rus­si­sche Herz des noto­ri­schen Trans­at­lan­ti­kers höher.

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