Von Vigilius*
Die Logik der Revolution
„Es geht um eine neue Kultur in der katholischen Kirche, die ernst nimmt, dass die Taufe das Wichtigste ist … Der hierarchischen Grundstruktur der katholischen Kirche wird mit Synodalität ein Element der entscheidenden Mitverantwortung aller Gläubigen sozusagen als komplementär hinzugefügt – auf allen Ebenen: von der Pfarrei über die Bistümer, über die nationalen Kirchen, kontinentale Kirchen bis hin zur Weltkirche. Das ist etwas Neues!“1 So sprach Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und Teilnehmer an der römischen Synode.
In dieser Aussage wird die „hierarchische Grundstruktur der katholischen Kirche“ zunächst als selbstverständliches Datum zitiert. Mit ihr ist die priesterliche, resp. die bischöfliche Entscheidungskompetenz in doktrinären und kirchenrechtlichen Fragen gemeint. Dass Bätzing die klerikale Hierarchie meint, geht daraus hervor, dass es in seinem Statement auch noch die Kategorie „alle Gläubigen“ gibt, was aussagelogisch nur sinnvoll ist, wenn es im Unterschied zur erstgenannten Gruppe bei „alle Gläubige“ nicht nur um Weiheamtsträger, sondern ebenfalls um solche geht, die nicht zur hierarchischen Grundstruktur der Kirche gehören. Diese nicht zur hierarchischen Grundstruktur der Kirche zählende Gruppe besteht aus Menschen, die gewöhnlich „Laien“ genannt werden. Dass Laien im Unterschied zu den Weiheamtsträgern nicht zur hierarchischen Grundstruktur der Kirche gehören, bedeutet in der Logik des Begriffs, dass sie keine Entscheidungskompetenz in den Fragen der Doktrin und der Kirchenleitung besitzen.
Auf der anderen Seite wird nach Bätzings Auskunft der hierarchischen Grundstruktur der Kirche kraft der neuen Synodalität jedoch „ein Element der entscheidenden Mitverantwortung aller Gläubigen sozusagen als komplementär hinzugefügt“. Die entscheidende Frage lautet hier, was eine „entscheidende Mitverantwortung“ aller Gläubigen, will sagen: eine entscheidende Mitverantwortung der Laien bedeutet, von der zudem gesagt wird, dass sie sich – „sozusagen“ – zur hierarchischen Grundstruktur der Kirche „komplementär“ verhalte. Das ist nicht eindeutig. Es könnte bedeuten, dass die selber zu kirchenleitenden Akten nicht befugten Laien den Prozess der Entscheidungsfindung der Hierarchie mit ihrem dazu notwendigen Gebet und ihren aszetischen Übungen begleiten – was die Zentralkomiteevorsitzende Irme Stetter-Karp sowie die ebenso deutsch-synodal engagierten Laienfrauenempowermentexpert:innen Claudia Lücking-Michel und Julia Knop gewiss eifrig praktizieren. Aber schon der Umstand, dass dies unweigerlich wie Ironie klingt, zeigt, dass es bei der Vokabel „entscheidend“ nicht nur nicht um Gebetsbegleitung geht, sondern dass das Gebet überhaupt nicht mehr als die entscheidende Dimension in der Kirche betrachtet wird. Das Selber-Entscheiden-Können ist vielmehr das Entscheidende geworden. Das heißt: Wir alle wissen, dass es bei Bätzings Verwendung der Wörter „entscheidend“ und „Mitverantwortung“ darum geht, dass die emblematisch genannten Damen zu solchen Entscheidungen ermächtigt werden, die vormals den Weiheamtsträgern vorbehalten waren.
Wenn jedoch die hierarchische Grundstruktur der Kirche nunmehr auf alle Gläubigen ausgeweitet wird, gibt es keine hierarchische Grundstruktur der Kirche mehr. Bätzings Rede von der Hierarchie wird überflüssig, denn die Kirche wird schlicht eine Demokratie. Damit wird auch die Rede sinnlos, dass die mitentscheidenden Laien der Hierarchie „komplementär“ zugeordnet seien, weil es unter der Hierarchierücksicht keine sich wechselseitig ergänzende Dualität von Hierarchie und Laien mehr gibt. In der Bätzing-Konstruktion kann es nur noch das Modell repräsentativer Hierarchien geben, die den Mehrheitswillen aller Gläubigen abbilden – also „Synodalität“ als Kopie des politischen Parlamentarismus. Das heißt aber: Der Bätzing-Satz stellt sich, wenn man nicht von einer defekten Intellektualität ausgeht, als Trick dar. Die Absicht der beibehaltenen Rede von der hierarchischen Grundverfassung der Kirche, der die Laienentscheidungskompetenz komplementär beigesellt werden soll, besteht darin, rhetorisch zu verschleiern, dass die Revolution auf die Macht der Logik setzt, die über die implementierte neue Synodalität unumgänglich zur Abschaffung eben der hierarchischen Grundstruktur der Kirche führt, die durch einen demokratischen Parlamentarismus ersetzt wird.
Die Lunte dieses systemvernichtenden Sprengsatzes ist von Seiten der – noch existierenden – Hierarchie allerdings schon viel früher angezündet worden. Lange schon teilen auch viele Bischöfe die lutherische Auffassung, dass die katholische Kirche die Deformation der wahren Kirche des Evangeliums ist, die nun endlich vernichtet gehört. Sie geben das nur nicht ungeschminkt zu und framen wie Georg Bätzing das intendierte Ziel als „anders katholisch sein“.2 Entsprechend dieser Auffassung haben viele Diözesen in der westlichen, besonders der mitteleuropäischen Welt schon seit langer Zeit begonnen, die sakramentalontologische Verknüpfung von Weihe und Leitungsvollmacht praktisch zu missachten und dabei auf die normative Kraft des Faktischen zu vertrauen. In zunehmendem Maße gilt nämlich die Kirchenleitung durch Priester als optional. Zumindest unter dieser Rücksicht ist der Laie dem Priester faktisch gleichgestellt worden, sofern der Laie ebenso wie der Priester Leitungsämter übernehmen kann. Dass dies in der theologischen Logik nicht auf die Pfarreiebene beschränkt bleiben kann, sondern – aufgrund der substantialen sakramentalen Einheit von Priester und Bischof – unweigerlich auf den episkopalen Bereich übergreifen muss, sehen wir in der aktuellen Synodalitätspraxis. In den diversen Entscheidungsgremien können freilich auch Bischöfe sitzen, aber selbst das ist unter der Voraussetzung der zum Prinzip gewordenen Missachtung der ontologischen Verknüpfung von Weihe und Leitung nicht mehr zwingend erforderlich. Dass der vom deutschen Synodalen Weg geplante „Synodale Rat“ zur Hälfte aus Bischöfen bestehen soll, ist eine rein kontingente Bestimmung, die keinerlei höhere Notwendigkeiten für sich beanspruchen kann. Der bloße Umstand, dass Kleriker als „stimmberechtigte“ Mitglieder neben ebenso stimmberechtigten Laien in synodalen Gremien sitzen, ist als solches schon eine Depotenzierung des Amtes. Die Matrix, die der zunächst auf der Gemeindeebene einsetzenden Operation immer schon zugrunde liegt, ist der protestantische Kirchen- und Amtsbegriff, der unumgänglich dazu führen muss, dass schließlich auch der Bischof seinen bisherigen monarchischen Status verliert.
Bemerkenswert ist es jedoch, dass dieser Vorgang jene theologischen Motive zu seinem Ausweis gar nicht mehr explizit benennt, die Luther dazu veranlasst haben, die katholische Hierarchie als einen Irrweg des Christentums abzulehnen. Der politisch-strukturelle Effekt ist zwar identisch, aber die Argumentationswege sind unterschiedlich. Das hat meines Erachtens vor allem zwei Gründe. Zum einen geht es den Synodalitätsaktivisten im Wesentlichen um machtpolitische und autonomietheoretische Fragen im klassischen neuzeitlichen Sinn. Das trifft für Luther, der trotz der faktischen Moderneproduktivität der reformatorischen Einschnitte selber noch kein modernes Subjekt war, nicht zu. Die gegenwärtigen Verfechter des römischen und deutschen Synodalen Weges sind hingegen deswegen von einer berstenden Wut darüber erfüllt, dass Laien im Unterschied zu Klerikern keine kirchliche Leitungsvollmacht besitzen, weil dieser Umstand für moderne Subjekte eine narzisstische Kränkung gewaltigen Ausmaßes darstellen muss. Denn die moderne Subjektivität ist wesenhaft dadurch charakterisiert, sich um der eigenen Selbstbestimmung willen aus allen normativ-autoritären Bindungen zu befreien, die ihr natürlicher- oder traditionellerweise als Limitationen ihrer Autonomie auferlegt werden. Selbstbestimmt zu sein heißt im modernen Begriff emanzipiert zu sein, und das heißt, um mit Thomas Hobbes zu sprechen, „sich auf möglichst vielen Bahnen bewegen zu können“. Dieser Idee steht die „hierarchische Grundordnung der Kirche“ entgegen, die nicht nur die Entscheidungsmacht der Laien verunmöglicht, sondern in ihrer Begrenzung auf zölibatäre Männer auch noch die Frauen und sämtliche Männer, die nicht auf eine Ehe zu verzichten bereit sind, von einer Teilhabe an der Hierarchie prinzipiell ausschließt. Es handelt sich um einen multipel diskriminierenden Komplex, in dem nicht alle prinzipiell alles können und zu allem Zugang besitzen.
Sein und Werk Christi
Damit komme ich zum zweiten Aspekt, unter dem sich die heutigen Reformatoren von Luther unterscheiden. Dieser Aspekt bezieht sich darauf, dass viele Grundpositionen der reformatorischen Theologie, die Luther noch mühsam erkämpfen und formulieren musste, bereits so selbstverständlich geworden sind, dass sie gar nicht mehr eigens erörtert werden müssen. Das gilt in besonderer Weise für jene dogmatischen Bestimmungen, die für das Priestertum entscheidend sind. Hier hat sich die traditionale Doktrin derart weitflächig und radikal aufgelöst, dass sie von vielen Kirchenmitgliedern kaum mehr erinnert wird. Und es ist diese auch den Klerus seit Jahrzehnten prägende Erosion der theologischen Grundlagen des Weiheamtes, die es heute ermöglicht, dass sich selbst Bischöfe so umstandslos zu Propagandisten einer Revolution machen können, die darauf abzielt, die Hierarchie nun endgültig zu vernichten. Und weil jetzt einfach nur noch die Fassade zusammenbricht, begreifen sich diese Bischöfe auch gar nicht mehr als Revolutionäre, sondern nur als Exekutoren des Selbstverständlichen.
Es ist zum Verständnis der Voraussetzungen und Konsequenzen des heutigen Synodalismus hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, warum bei Luther das klerikale Leitungsamt verschwindet. Es verschwindet bei ihm, weil der Priester überhaupt verschwindet. Aber Luther lässt den Priester nicht verschwinden, um die klerikale Leitungsgewalt zu eliminieren, sondern der Priester verschwindet in seiner Theologie aus sehr viel tieferliegenderen Gründen. Erst aus diesen Erwägungen ergeben sich dann bestimmte kirchenstrukturelle Positionen, was bedeutet, dass Luther genau wusste, dass an der Leitungsgewalt des Priesters nicht zu rütteln ist, solange man nicht das Weiheamt als solches preisgegeben hat. Das heißt zugleich, dass die zum Priester wesenhaft gehörende Leitungsfunktion in einem inneren Zusammenhang mit Bestimmungen des Priestertums steht, die die Leitungsgewalt überhaupt erst begründen.
Demnach muss danach gefragt werden, worin diese „sehr viel tieferliegenderen Gründe“ bestehen, die Luther im Unterschied zu den heutigen Synodalisten noch so intensiv beschäftigten. Diese Gründe beziehen sich im Kern auf die Messopferfrage. Warum Luther die katholische Messopferlehre als „schlimme Abgötterei“ bezeichnete, wie er sein eigenes Abendmahlsverständnis, das Verhältnis von Wort und Sakrament und seinen Begriff des Pfarrers begründete, kann an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Das ist auch nicht nötig. Wichtig ist nur der Umstand, dass Luther genau erkannte, dass der Priester und folglich auch dessen Leitungsvollmacht mit der Frage, ob die Messe ein Opfer ist, steht und fällt. Im Übrigen verdient es hervorgehoben zu werden, dass Luther den Sühnopfercharakter des Kreuzes Christi nie bezweifelt hat. Das unterscheidet ihn von den heutigen Reformatoren, die nicht nur das Messopfer, sondern auch das Kreuz als Opferereignis preisgegeben haben. Die Aussage des Bätzing-Vorgängers, Erzbischof Robert Zollitsch, das Kreuz sei kein Gott dargebrachtes Opfer, sondern nur Ausdruck der göttlichen Solidarität mit dem menschlichen Leiden, kann für das heutige theologische Bewusstsein als repräsentativ gelten.3 Ob Zollitsch klar war, welche Konsequenzen diese Position für den Begriff des Priesters, ja der Kirche im ganzen haben muss, möchte ich bezweifeln. Gleichwohl hängt deren Bestimmung an der Frage, ob das Kreuz Christi ein Opfer war und wie sich dieses Opfer und die Messe zueinander verhalten. Da dieser komplexe Problemzusammenhang in einem Essay nicht differenziert erörterbar ist, kann ich lediglich eine kursorische Skizze versuchen.
Die katholische Kirche identifiziert sich in ihrem traditionalen Selbstbegriff als den sakramentalen Raum der Selbstvergegenwärtigung Christi als des einzigen Opferpriesters, der selber die endgültige und unüberbietbare Opfergabe ist. Es ist diese Selbstgabe Christi, die in der Kirche Gegenwart wird und zu der die Kirche – aus eben dieser Selbstgabe – als der mystische Leib Christi in gewisser Weise selber wird. Diese Selbstgabe Christi am Kreuz ist das Sühnopfer für die „Sünde der Welt“ und zugleich ein „latreutisches Opfer“ (Matthias Josef Scheeben). Es ist beides in einem, weil der Sühnopfercharakter aus der den Vater verherrlichenden Selbstgabe des inkarnierten Logos an den Vater unter der Bedingung der Sünde folgt. Der Logos ist wesenhaft Selbstgabe an den Vater, und wenn der Logos Mensch wird, nimmt seine den Vater verherrlichende Selbstgabe deswegen den Charakter des Sühnopfers an, weil er den Vater, der der Schöpfer der Welt ist, durch die in diesem Opfer sich ereignende Überwindung der sündigen Abkehr der Kreatur verherrlichen will. Dieses sühnend-erlösende und gottverherrlichende Opfer ereignet sich in der Geschichte als blutiges Geschehen auf Golgotha.
Es ist von großer Bedeutung, sich klar zu machen, dass dem inkarnierten Logos nicht einfach diverse Bestimmungen beigelegt werden können, die wie auf einer Schnur aufgefädelt nebeneinander liegen. Schlechte Theologien neigen zu derartigen bloßen Aufreihungen. Es ist jedoch genau so, wie es der evangelische Theologe Karl Barth in seiner „Kirchlichen Dogmatik“ formuliert: „Jesus ist schlechterdings Träger eines Amtes. Er ist also nicht Mensch und dann auch noch Träger dieses Amtes … Es gibt keine neutrale Menschlichkeit Jesu … Sein Sein als Mensch ist sein Werk.“4 Dieses Amt nennt Barth das „Christusamt“, und es besteht präzise in dem, was ich soeben beschrieben habe: Jesu Werk, mit dem er identisch ist, ist als direkte Entsprechung zu seinem ewigen Logos-Sein der Selbstzurückgabe an den Vater das den Vater verherrlichende Sühnopfer für das Heil der Welt, darin Gott von der Kreatur wieder umfänglich die Ehre gegeben wird. Das ist der Christus. Wenn die theologische Tradition daher von den drei „munera Christi“ spricht und damit Christi Propheten‑, König- und Priestertum meint, müssen diese Ämter wie im Neuen Testament vom Prinzip des Selbstopfers Christi her dekliniert werden. Das Kreuz ist im Johannesevangelium die Thronbesteigung Christi, der dadurch vom Vater seine ewige Macht und Herrlichkeit empfängt, und die Hirtenrolle Christi bedeutet gerade, den Menschen durch das Kreuzesopfer das ewige Leben zu erschließen, auf das der Fokus der Predigt Jesu von Anfang an ausgerichtet ist.
Selbstvergegenwärtigung
Jetzt stellt sich die Frage, wie es denkbar werden kann, dass dieses zeitliche Ereignis zu späteren Zeitpunkten wieder gegenwärtig wird, wobei sich die „Gegenwärtigkeit“ nicht einfach auf unsere subjektiven Erinnerungsleistungen bezieht. Dass Vergegenwärtigung aber ebenso wenig bedeutet, das Geschehnis würde in seiner vormaligen Gestalt präsent, ist evident. Der Vergegenwärtigungsmodus kann nur ein symbolisch-ritueller sein. Da das Golgotha-Opfer absolut einmalig und endgültig ist, kann der Ritus auch nicht wie bei wiederholten Aufführungen eines Theaterstücks auf eine Art von Reproduktion abzielen. Auch das lehnt das Konzil von Trient formell ab. Der Vergegenwärtigungsmodus des Opfers muss also ein Vollzug sein, in dem sich in strenger numerischer und sachlicher Identität genau das, was einst blutig geschah, nun in der Form einer unblutigen Symbolhandlung zu beliebig vielen Zeitpunkten auf den Altären der Kirche ereignet.
Denkbar wird eine solche Vergegenwärtigung erst dann, wenn das, was auf der Zeitachse ein Mal passierte, in der göttlichen Ewigkeit immerfort präsent ist, die selber keiner Zeiterstreckung unterliegt und sich zu allen Punkten auf der Zeitachse gleich-unmittelbar verhält. Der heilige Thomas verdeutlicht das durch das geometrische Bild eines Kreises, zu dessen Zentrum alle Punkte auf dem Kreisumfang präzise denselben Abstand besitzen. In Gott ist das zeitliche Ereignis von Golgotha aber nur in der Weise als immerfort aktuell denkbar, dass es seine partikulare historische Gestalt in die Auferstehungsrealität Christi hinein transformiert hat. Darin ist es aber seiner metaphysischen Substanz nach, die sich im historischen Ereignis realisiert hat, unverlierbar aufbewahrt. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, identifiziert sich der Auferstandene nach den neutestamentlichen Schilderungen vor seinen Jüngern mit seinen Wundmalen, die jetzt zwar „verklärt“, aber eben als Male des Opfers in der Ewigkeit Gottes aufgehoben sind. Sie gehören bleibend zur Identität Christi. „Denn ein Mal geopfert, stirbt er nicht wieder, sondern lebt auf ewig als das Lamm, das geschlachtet ist“, so lautet die Formulierung der Osterpräfation. Christus ist als das geopferte Lamm das ewige Leben der Gläubigen, und die Gläubigen beziehen sich auf das Lamm und dessen ewiges Selbstopfer in der Weise der verherrlichenden Anbetung. Das ist die „himmlische Liturgie“, die in den großartigen Bildern des 4. und 5. Kapitels der Geheimen Offenbarung veranschaulicht wird.
Das, was in der Messe geschieht, ist substantiell nun eben diese ewige Liturgie Christi als des Lammes, das geschlachtet ist. Das Kreuzesopfer wird in seiner ewigen Daseinsweise in der Messe präsent, weshalb diese Präsenz keinerlei magische Züge und im Blick auf die Kommunion nichts Kannibalistisches an sich trägt. Es wird präsent, weil Christus seinen im Kreuz realisierten Verherrlichungsakt des Vaters um die Dimension erweitern will, dass sich die Kreatur in das Sühnopfer aktiv integrieren kann, um sich „im Blut des Lammes rein zu waschen“ (Off 7, 14) und nun zusammen mit dem sich dem Vater immerfort als der menschgewordene und gekreuzigte Sohn gebenden Christus den Vater zu verherrlichen. Die Ermöglichungsbedingung dieser Präsentwerdung in der Zeit ist der Heilige Geist als die selber keiner Vermittlung bedürftige Vermittlung der Gegenwart Christi. Und der instrumentelle Modus der durch den Heiligen Geist vermittelten Präsentwerdung der ewigen Daseinsverfassung des Opferlammes ist ein zeichenhaft-ritueller, weil die himmlische Liturgie unter den bescheidenen Bedingungen unserer zeitlichen Existenz gegenwärtig wird. Seine Präfiguration besitzt der Messritus im historischen Abendmahl, in dem Jesus noch vor seinem physischen Opfertod dieses Geschehen bereits liturgisch vergegenwärtigt: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“. Auch diese Handlung ist nur denkbar, wenn das zukünftige Opferereignis in der Ewigkeit Gottes, die keine zeitlichen Erstreckungen kennt, immer schon in seiner verklärten Form existiert und durch Christus kraft der Vermittlungsmacht des Heiligen Geistes im Abendmahlssaal vergegenwärtigt wird.
Ich mache an dieser Stelle einen liturgietheoretischen Einschub. Es gehört zu den Lieblingsgepflogenheiten der liberalen Liturgiepraxen, in Anlehnung an die Schlichtheit des Abendmahles der Eucharistiefeier eine möglichst alltagsnahe Gestalt zu geben. Bevorzugt wird Tongeschirr verwendet. Es ist diesen Akteuren nicht plausibel, warum sich die liturgische Form der kirchlichen Messfeier von derjenigen des Abendmahlssaales unterscheiden soll. Es gibt aber einen theologischen Grund für diese Unterscheidung. Das Subjekt des Abendmahls ist noch nicht die Kirche, die durch den irdischen Abendmahlsakt Christi und die folgende Opferung am Kreuz sowie die dadurch ermöglichte Sendung des Heiligen Geistes überhaupt erst begründet wird. Wenn sie aus diesen Ereignissen hervorgegangen ist, wird sodann dasselbe Opfer Christi durch dessen sakramentale Selbstrepräsentation im Priester dargebracht. Jetzt erst wird das Abendmahl zur Feier der Kirche, zur Messe, in der der auferstandene und unsichtbare Christus nun im kirchlichen Vermittlungsmodus handelt. Und dieser Einbezug der Kirche wirkt sich auf die rituelle Frage stark aus. Es ist nämlich genau der kirchliche Vermittlungsmodus, der die Imitation des Abendmahles verbietet. Gerade weil es um die Identität des Geschehens geht, bemüht sich der Ritus um eine artifizielle Stilisierung, die dem irdischen Akt Jesu selber völlig unangemessen gewesen wäre. Die Imitation erweckt nur den Anschein der Authentizität, während das Gegenteil der Fall ist. Wenn wir auf Gruppen treffen, die die Abendmahlsszene nachspielen, können wir sicher sein, dass dort der Glaube an den Opfercharakter des Todes Christi sowie die ewige Liturgie des Opferlammes und damit die durch den Heiligen Geist vermittelte Identität des historischen Opfers mit der kirchlichen Messfeier verschwunden ist. Deswegen wird die Messe zu einer bloßen Mahlfeier deflationiert, in der alles an unseren eigenen Erinnerungsleistungen hängt, die etwas Vergangenes szenisch aktualisieren wollen und unumgänglich trivial werden. Das gilt für Eucharistiefeiern in Badehose auf Luftmatratzen ebenso wie für die Liturgien beim deutschen Synodalen Weg. Wer hingegen an die zwar formdifferente, aber substantiale Identität von Abendmahl, Kreuzestod als Opferhandlung, himmlischer Liturgie und Messe glaubt, wird sich bemühen, den Ritus so auszuformen, dass in ihm der theologische Gehalt des Ereignisses und die dem Opferlamm geschuldete Verehrung am adäquatesten manifest wird.
Der Priester der Kirche
In den vorangehenden Erwägungen ist die Grunddimension des kirchlichen Priesters immer schon angeklungen. Ich möchte das jetzt nur noch einmal explizit machen. Unter der Voraussetzung, dass Christus auf ewig „als das Lamm, das geschlachtet ist“, lebt und als solcher das Leben der Gläubigen ist, kann die Messe nicht als ein bloßes Moment in der Kirche, sondern muss als deren Wesensbestimmung schlechthin betrachtet werden. Die Kirche ist die durch den Heiligen Geist vermittelte Präsenz der himmlischen Liturgie als des ewigen Selbstvollzuges des geopferten Christus in Raum und Zeit, darin der Mensch in und mit Christus zum Vater gelangt. Das gesamte Beziehungsgefüge zwischen dem trinitarischen Gott und den Menschen vermittelt sich durch die Messe. Es ist angesichts dieser Bedeutung der Messe nicht übertrieben zu behaupten, dass die Messe das Sein der Kirche ist. Die katholische Kirche ist entweder die Kirche der Messe oder sie ist überhaupt nicht.
Wenn aber die Messe das Sein der Kirche ist, ist der Priester die zentrale heilsmittlerische Instanz. Deswegen ist der Priester grundlegend Sacerdos. Dies ist eine alte Bezeichnung, die sich aus „sacer“ (heilig) und „dare“ (geben) zusammensetzt und basal auf die kultische Opferhandlung bezieht. Die Kirche benötigt diese sacerdotale Funktion, weil es ohne sie die Gegenwart des alle Opfer der Vorzeit vollendenden Opfers Christi nicht gäbe, die das Sein der Kirche definiert. Der Satz, die Kirche ist die Kirche der Messe, oder sie ist überhaupt nicht, muss logisch um die Aussage erweitert werden: Die Kirche ist nur durch den Priester das, was sie ist. Diese Bestimmung bildet aber keinen christologischen Monismus, weil es eine bleibende Differenz zwischen dem kirchlichen Priester und Christus selber gibt. Das ist ja gerade die Pointe des sakramentalen Gefüges. Aber im kirchlichen Priester ist Christus auf eine singulär qualifizierte Weise doch selber jenes handelnde Subjekt, das sich und sein eigenes Opfer im Heiligen Geist den Gläubigen vermittelt und darin die ewige Lebenseinheit des „mystischen Leibes“ konstituiert.
Gerade weil der Priester Sacerdos ist, muss ihm exklusiv auch die Hirten- bzw. Leitungs- und die Verkündigungsfunktion in der Kirche zukommen. Diese Zuordnung entspricht präzise dem Gefüge der Ämter Christi. Auch beim kirchlichen Sacerdos kann es in allem immer nur darum gehen, die Gläubigen durch die Lehre, die Seelsorge und die anderen sakramentalen Vollzüge zur Teilnahme am Messopfer zu befähigen. Diese Hinordnung auf die Messe gilt auch für die Taufe. Es ist signifikant, dass Bätzing davon spricht, die Taufe sei „das Wichtigste“. Diese Formulierung ist absolut unterkomplex. Aber sie dient gerade als eine solche zur Legitimation der Laienermächtigung, die die Dekonstruktion der Messe und somit des Priesters logisch schon voraussetzt. In Wahrheit sind die Taufe und die Messe organisch verwoben, und zwar derart, dass das innere Telos der Taufe die Integration des Menschen in den mystischen Leib Christi ist, dessen Grundvollzug die in der Messe gegenwärtige ewige Liturgie Christi ist.
Die Bätzingaussage zur Taufe gehört weitflächig zum rhetorischen Repertoire der heutigen Hierarchie. Weil vielen Bischöfen der geschilderte Zusammenhang selber nicht mehr klar ist, kann der Priester nurmehr als ein „Vorsteher“ der Eucharistiefeier bezeichnet und auf so etwas wie die Rolle eines protestantischen Pfarrers und eines spirituellen Begleiters von Gemeinden reduziert werden, deren Leitung beim Laien liegen kann, der in immer umfänglicherem Maße auch schon sonntags die Messe durch eine sogenannte „Wortgottesfeier“ ersetzt. Es gibt dann aber keinen angebbaren Grund mehr, weshalb der Priester als ein solcher Vorsteher, als welcher auch der Laie bei seinen Offizien fungiert, überhaupt zu seinem Vorsteheramt geweiht bzw. die Weihe als ein sakramental-ontologisches Ereignis verstanden werden muss. Tatsächlich begreift die liberale Theologie die Weihehandlung einfach als eine feierliche Form der institutionellen Beauftragung, die als „Aussendung“ spirituell aufgehübscht wird und sich substantiell von derjenigen eines Laien zum Seelsorger, Gemeindeleiter und Liturgen nicht mehr unterscheidet. Der geweihte Priester ist als solcher überhaupt nur dann eine ebenso unverzichtbare wie plausible Kategorie, wenn er die realsymbolische Selbstvergegenwärtigung des gottmenschlichen Opferpriesters ist, der sein den Vater verherrlichendes Opfer wiederum in der Messfeier vergegenwärtigen will: „Bis ans Ende der Zeiten versammelst du dir ein Volk, damit deinem Namen das reine Opfer dargebracht werde vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“, so formuliert der Messritus den Zweck der Kirche. Verschwindet diese Überzeugung, verschwindet auch der Priester.
Deswegen ist es nur konsequent, dass beim Synodalen Weg die Frage erörtert wurde, ob das Priestertum nicht formell abgeschafft gehöre, oder, was effektiv auf das identische Resultat hinausläuft, das seiner übernatürlichen Würde beraubte priesterliche Amt in der soziologischen Kategorie eines „Berufsprofils“ zu reformulieren, um dieses Berufsprofil – wie es etwa durch den Bochumer Pastoralforscher Matthias Sellmann kürzlich im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz geschehen ist – als „gemeinwohlorientiertes Engagement“ zu bestimmen.5 Und wie es dann nur konsequent ist, die „hierarchische Grundordnung der Kirche“ durch den von Bätzing gepriesenen Synodalismus zu ersetzen, weil alles andere jetzt bloß noch eine willkürliche Herrschaftsstruktur wäre, ist es auch die in Deutschland überall antreffbare Usance, dass der Priester von Seiten der hauptamtlichen Laien mit „lieber Kollege“ angesprochen wird.
Der „liebe Kollege“ klingt so harmonisch, aber es ist eine vergiftete Harmonie. Denn im egalitaristischen Synodalismus wird zwar lautstark eine diskriminierungsfreie Kirche gefordert, die „keinen Raum für Menschenfeindlichkeit“ eröffnen dürfe. Wie in der französischen Revolution muss jedoch auf dem Altar der „allgemeinen Menschenliebe“ (Max Scheler) und universalen Gleichheit aller der Sacerdos, in dem sich das Königtum Christi manifestiert, geopfert werden. Es ist ein perverses Opfer. Vom Weiheamt, das keiner demokratischen Legitimation bedürftig ist, weil es seine Autorität direkt von Christus bezieht, ging in der modernisierten Welt der letzte Glanz echter Sakralität und Monarchie aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der unersättliche Massenmensch der Moderne auch dieses Amt seiner Vulgarität einzuverleiben versuchen würde, und es war seit mindestens 60 Jahren ebenso erwartbar, dass dies schließlich durch die nihilistisch gewordene Hierarchie der Kirche selber geschehen würde. Diese Hierarchie hat sich mittlerweile derart hartnäckig auf den beifallträchtigen Synodalismus verständigt, dass sie jetzt nur noch ein einziges Ziel kennt: alle Bilder auszulöschen, die eine Erinnerung an die Größe des Priestertums und des Messopfers und eine längst verwelkte Liebe provozieren könnten. Sie sind in ihrem eitlen Opportunismus zu bemitleidenswerten Bürokraten der Banalität geworden.
Der weit fortgeschrittene Verfall des Priestertums in der heutigen Kirche zeigt sich nicht zuletzt in der radikalen Infragestellung des Zölibates und des Schreibens „Ordinatio Sacerdotalis“ von Johannes Paul II., in dem der Papst festlegt, dass der Zugang zum Weiheamt Männern vorbehalten ist. Beide Aspekte verlieren analog zur Leitungsfrage durch die Erosion der Messopferlehre und der Bestimmung des Priesters als Sacerdos ebenfalls ihre Plausibilität. Weil sie aber mit dem sakramentalen Priestertum – auf allerdings je unterschiedliche Weise – eng verknüpft sind, werde ich mich im nächsten Schritt mit dem Zölibat und sodann mit der Frage beschäftigen, warum das Priestertum allein Männern vorbehalten ist. Im letzten und vierten Teil möchte ich noch die Frage aufwerfen, ob es möglicherweise in der hierarchie- und weiheamtstheologischen Tradition der lateinischen Kirche selber unaufgelöste Spannungen gibt, die unintendiert dem priesterfeindlichen Synodalismus unserer Tage in die Hände spielen.
*Vigilius, deutscher Philosoph und Blogger: www.einsprueche.substack.com
Bild: Jan van Eyck: Die Anbetung des mystischen Lammes (Sint-Baafskathedraal, Gent)
1 https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2024–10/deutschland-synode-bischoefe-baetzing-oster-frauen-kirche-genn.html
2 https://de.catholicnewsagency.com/news/12083/bischof-batzing-wir-bleiben-katholisch-aber-wir-wollen-anders-katholisch-sein
3 www.youtube.com/watch?v=PjLn3zHq2es
http://www.kath-info.de/suehnopfer.html
4 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III,2, Zürich 1948, 66–69.
5 https://einsprueche.substack.com/p/matthias-sellmann-und-die-priester