Beim Tag der kirchlichen Soziallehre am 23. November 2024 hielt Prof. Stefano Fontana in der Villa San Fermo in Lonigo (Vicenza) einen Vortrag über die zwei Visionen von Europa, die in einer Konfrontation zueinander stehen: Europa und Pseudo-Europa. Mit Pseudo-Europa identifiziert er die Europäische Union (EU). Hier der vollständige Wortlaut einer bedeutenden Analyse:
Europa und sein materielles und geistiges Drama
Von Stefano Fontana*
Seit 16 Jahren veröffentlicht unser International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church einen Bericht über die Soziallehre der Kirche in der Welt. Der Zweck ist theoretisch-praktischer Art: Ideen für Aktionen zu liefern. Das diesjährige Thema ist Europa, das nach den im Bericht enthaltenen Daten und Überlegungen an der Schwelle zum Tod steht. Der Titel des Berichts spricht von Finis Europae und verwendet den Begriff Epitaph. Dieses mit Europa assoziierte Wort wurde bereits 2007 von Walter Laqueur in seinem Buch „The Last Days of Europe. Epitaph for an Old Continent“ verwendet.1 Wir waren etwas vorsichtiger und haben ein Fragezeichen gesetzt: Ein Epitaph für den alten Kontinent? Doch abgesehen von der Hoffnung, die dieses Fragezeichen weckt, ist unsere Analyse ebenso nüchtern und desillusioniert: Europa scheint keine Lebenszeichen mehr zu geben.
Laqueur schrieb in dem bereits erwähnten Buch: „Es ist möglich, daß Europa oder zumindest beträchtliche Teile des Erdteils in eine Art Vergnügungspark verwandelt werden, eine Art Disneyland auf einem bestimmten Niveau für wohlhabende Touristen aus China oder Indien, so etwas wie Brügge, Venedig, Stratford-on-Avon oder Rothenburg ob der Tauber, aber in einem größeren Maßstab“. Andere Kommentatoren, wie uns Tommaso Scandroglio im Bericht in Erinnerung ruft, haben angesichts des demografischen Stillstands und des Kampfes gegen Leben und Familie von Europa als dem „großen westlichen Hospiz“ gesprochen. Wieder andere haben von Europa als „großem Sanatorium“ gesprochen, ähnlich jenem, das Thomas Mann in „Der Zauberberg“ beschreibt. Und wenn man sieht, wie die europäischen Staaten mit der Corona-Angelegenheit umgegangen sind und wie sie sich bereit erklärt haben, sich der WHO zu unterwerfen, kann man das niemandem verdenken. Der kroatische Bischof Nikola Eterovic, Apostolischer Nuntius in der Bundesrepublik Deutschland, sagte Mitte November, daß sich Europa selbst umbringt: Abtreibung, Euthanasie, Gender-Ideologie und der Krieg in der Ukraine, der zwei christliche Staaten sich gegenüberstehen sieht, sind seiner Meinung nach der Beweis dafür. Emmanuel Todd sprach in seinem jüngsten Buch „La Défaite de l’Occident“ [„Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“, Frankfurt am Main 2024] vom „assistierten Suizid“, der Beihilfe zum Selbstmord Europas. Die Beihilfe leisten, so sagt er, die „westlichen Oligarchien“, die nicht so sehr Ausdruck der liberalen Demokratie, sondern der oligarchischen Demokratie und der Postdemokratie sind.
Der Bericht untersucht jeden einzelnen Aspekt der Krankheit Europas, und es ist heute meine Aufgabe, diese Diagnose in aller Kürze darzulegen. Zunächst möchte ich jedoch einen Aspekt von großem Interesse ansprechen, an den auch Erzbischof Giampaolo Crepaldi2 in seiner Rede erinnern wird. Wenn wir das Wort Europa verwenden, müssen wir uns seiner Zweideutigkeit bewußt sein. Es gibt zwei Europas, oder, wenn man so will, ein Europa und ein Gegen-Europa. Was ist geschehen, könnte man fragen, daß es zwei gibt? Wie läßt sich dieser innere Riß erklären, der nicht von außen verursacht wurde? Was hat dazu geführt, daß Europa mit sich selbst in Konflikt geraten ist, bis hin zu einer Art permanentem „europäischem Bürgerkrieg“, wie Ernst Nolte zu Recht feststellte? Auch heute befindet es sich im europäischen Bürgerkrieg. Der Krieg in der Ukraine ist ein innerer Krieg in Europa. Die Ausrottung durch staatliche Abtreibung ist ein europäischer Bürgerkrieg.
Das Thema Krieg in der Ukraine und Bürgerkrieg läßt vermuten, daß der Riß zwischen den beiden Europas in Europa selbst entstanden ist und daß der Feind Europas europäisch ist. Diese Einschätzung zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit der 16 Expertenbeiträge, aus denen sich unser Bericht zusammensetzt. An einem bestimmten Punkt der Geschichte entstand ein antieuropäisches Denken, das im Laufe der Zeit dazu führte, daß Europa sich selbst gegenüber „schuldig“ fühlte, wie Gianni Baget Bozzo schrieb, und sich selbst zu hassen begann, wie Benedikt XVI. beklagte. Es begann damit, daß in Europa ein Denken geboren wurde, das unfähig war, Gott zu denken; ein Denken, das sich später als unfähig erwies, die Natur zu denken, die an die Stelle Gottes gesetzt wurde, dann unfähig wurde, den Menschen zu denken, der ebenfalls an die Stelle Gottes gesetzt wurde, und schließlich unfähig wurde, den Zweck und das moralisch Gute zu denken. An die Stelle des Zwecks trat, vor allem seit Immanuel Kant, das Gesetz, so daß der Staat seine Eigenschaft verlor, das ethisch und religiös verstandene Gemeinwohl zu leiten, und die Rolle eines Rechtsstaates übernahm, der den Egoismus der Bürger von oben herab regelt. Wenn es keine Zwecke gibt, gibt es auch keine Pflichten, außer denen, die durch das vom Staat formulierte Gesetz auferlegt werden. Wenn es keine Zwecke gibt, gibt es nur individuelle Rechte, deren absoluter Anspruch vom Staat abgemildert werden muß, der dann ein souveränes Recht innehat und zu nichts Übergeordnetem verpflichtet ist. Das ist das Anti-Europa, das das Naturrecht oder das natürliche Sittengesetz nicht anerkennt und für das der Begriff „Natur“ seine volle Bedeutung verliert. Alle antieuropäischen Theoretiker, von Hobbes bis Kelsen, sprechen von Natur, aber nicht mehr im Sinne der klassischen und christlichen Philosophie, d. h. nicht mehr als etwas, das Zwecke ausdrückt. Es gibt also zwei Europas: das Europa der realistischen Vernunft, das eine natürliche und zweckorientierte Ordnung begreift, und das andere Europa, das die Gesellschaft als Kunstprodukt, als unnatürliche menschliche Konstruktion betrachtet. Das erste sieht die Völker in ihrer natürlichen Dimension als „Nationen“ und sieht neben ihnen andere natürliche Gesellschaften, die organisch miteinander verbunden sind, allen voran die Familie; das zweite hingegen betrachtet die Völker als Aggregate von Individuen, die durch Macht zu solchen gemacht werden. Nach Hans Kelsen zum Beispiel ist „das Volk nicht ein Ganzes, sozusagen ein Konglomerat von Individuen, sondern einfach ein System von Einzelakten, das durch die Rechtsordnung des Staates bestimmt wird“. Alle europäischen Staaten haben in der Moderne diese Form angenommen, indem sie die Natur durch das Künstliche und die Realität durch die Ideologie ersetzt haben. Heute sind alle europäischen Staaten auf diese Weise aufgebaut.
Es mag sinnvoll sein, hier eine kurze Einschätzung der großen Frage Europas, des Westens und Amerikas vorzunehmen. Einige Worte zu diesem komplexen Thema, das in unserem Bericht an mehreren Stellen, insbesondere in den Beiträgen von Christophe Réveillard und Gianfranco Battisti am Rande gestreift wird, mögen hier genügen. Augusto Del Noce plädierte dafür, die beiden Begriffe Europa und Westen nicht gleichzusetzen. Ihm zufolge ist Europa Träger einer kontemplativen Kultur, während der Westen Träger einer konsumorientierten Kultur ist. Leo XIII. hatte in seiner Enzyklika Testem benevolentiae von 1899 den Amerikanismus verurteilt, d. h. die in den USA vorherrschende pragmatische Kultur protestantischen Ursprungs, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa ausbreitete und in vielerlei Hinsicht noch immer ausbreitet. Der Gegensatz zwischen Europa und dem Amerikanismus ergibt Sinn, wenn wir auf den realen Begriff Europa zurückgehen. Wenn wir aber das Pseudo-Europa untersuchen, dann sehen wir, daß die Probleme schon hier begonnen haben. Dann sehen wir, daß von Amerika zwar der Amerikanismus ausgeht, aber auch Korrekturanfragen an das im Niedergang befindliche Pseudo-Europa. Der Ausgang der jüngsten Präsidentschaftswahlen in den USA und das Aufkommen einiger Positionen im US-Episkopat, die sich gegen die Ausbreitung einer woken Kultur auch in der Kirche wenden, haben unter diesem Gesichtspunkt einige interessante Erkenntnisse geliefert.
Unser Bericht verwechselt Europa nicht mit der Europäischen Union und sieht letztere abhängig von dem Prozeß, den ich gerade beschrieben habe. Die Staaten, die erst die Europäische Gemeinschaft und dann die EU hervorgebracht haben, sind im Kantschen Sinne Rechtsstaaten, die den Egoismus ihrer Bürger mit Gewalt regulieren. Das war ja auch die politische Vision der lutherischen Reformation. Rechtsstaat bedeutet in diesem Fall nicht einen Staat, der das Naturrecht achtet, sondern einen Staat, der das Recht achtet, das er selbst gesetzt hat, und das nur insoweit gilt, die Exzesse der Bürger zu mäßigen, indem er sie auffordert, ihre eigene Freiheit in einem Kompromiß zwischen Egoismen nur insoweit auszuüben, als sie die Freiheit anderer nicht verletzt. Die EU ist aus einer so verstandenen überstaatlichen Zusammenarbeit der Staaten hervorgegangen und kann sich daher selbst dieser politischen Konfiguration nicht entziehen. Die Union ist ein künstliches Konstrukt, das den Mitgliedstaaten künstlich Teile der Souveränität entzieht, die diese selbst ebenso künstlich innehatten. Mit der Union kam Künstlichkeit zu Künstlichkeit. Unter diesen Voraussetzungen war es unvermeidlich, daß die EU Völker, Nationen und sogar Staaten abschafft, indem sie ihnen ihre eigene Souveränität überstülpt, so wie die einzelnen Staaten den Bezug auf eine objektive und zweckbezogene natürliche Ordnung abgeschafft haben. Das Urteil über die EU fällt in unserem Bericht sehr negativ aus. Sie ist das Hauptinstrument des heutigen Pseudo-Europas, das aus der Annahme der Unmöglichkeit, Gott zu kennen, entstanden ist. So wie jeder einzelne moderne Staat notwendigerweise atheistisch ist, so kann auch die EU nur atheistisch sein und kann daher vielleicht die Unterstützung der Protestanten, nicht aber der Katholiken haben. Aber die Gründerväter des europäischen Einigungsprozesses waren auch Katholiken, wie oft erwähnt wird. Ich kann nicht sagen, inwieweit sie sich des wahren Charakters des modernen Staates und der künftigen Integration zwischen den Staaten in der Europäischen Gemeinschaft und dann in der Europäischen Union bewußt waren, aber die Elemente, die vermuten lassen, daß ihre Vision bereits für spätere Verzerrungen gut gerüstet war, sind vorhanden. Es empfiehlt sich nicht, zu sehr auf dem christlichen Ursprung des „europäischen Traums“ zu bestehen, wie es die Brüsseler Vertreter der katholischen Episkopate des Kontinents tun.
Nach den jüngsten amerikanischen Wahlen ist das Thema Europa Ausdruck eines neuen Paradoxons. Viele weisen darauf hin, daß nach diesen Wahlen die Zeit für Europa (verstanden immer als Europäische Union, d. h. also Pseudo-Europa) gekommen ist, große Entscheidungen zu treffen. Mario Draghi wiederholt dies schon seit langem, sogar in einem von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Bericht. Führende Politiker wiederholen es. Angesichts der Vorhersagen einer amerikanischen Neupositionierung drängen viele darauf, daß die EU einen neuen konstitutionellen Weg einschlägt, der es ihr ermöglicht, sich stärker zu vereinigen und sich mit einer eigenen Verteidigung auszustatten. In einer Welt, die von Großmächten beherrscht wird, und mit dem Aufkommen der BRICS würde die EU sonst wie der Tontopf unter den Eisentöpfen enden: So hört man es sagen. Eine europäische Armee würde eine größere Einheit, ein eigenes Verteidigungsministerium und natürlich auch ein Finanz- und Außenministerium erfordern. Sie würde mit anderen Worten eine vollständige europäische Souveränität bedeuten. Dieser Vision von einer „Großmacht“ Europa steht jedoch die derzeitige Misere gegenüber. Professor Gianfranco Battisti erläutert den Ernst der Lage aus wirtschaftlicher, finanzieller und energiewirtschaftlicher Sicht. Die EU, so sagt er, ist:
- eine Geisel der US-Schulden,
- sie hat keine Energieautonomie, zumal der Krieg in der Ukraine sie des russischen Gases beraubt und sie gezwungen hat, das viel teurere amerikanische Gas zu kaufen,
- sie hat eine Industrie, die demontiert wird, wie Volkswagen und Stellantis zeigen,
- jeden Tag werden neue Gebiete des eigenen Bodens aufgekauft
- und schließlich muß sie sich auf schwere soziale Konflikte einstellen.
So kehrt der Bürgerkrieg zurück, von dem wir bereits mehrere Anzeichen in England, Frankreich und Deutschland hatten. Es handelt sich um soziale Spannungen, die durch die ökonomische Verarmung und die unkontrollierte Einwanderung verursacht werden, d. h. um die beiden Probleme, die die einzelnen Staaten heute gerade wegen der Zwangsjacke, die die EU ihrer Politik auferlegt hat, nicht in Angriff nehmen können. Der Bericht hebt besonders den Fall Deutschlands hervor: Stefano Magni veranschaulicht die katastrophalen Entscheidungen aller deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder, einschließlich Angela Merkels, in bezug auf Green-Politik und ungezügelte Einwanderung. Die „Lokomotive“ befindet sich heute in der Flaute, in einer politischen und sozialen Krise und bringt ganz Europa zum Sinken. Hier liegt also das Paradoxon: Die sogenannte Stunde der Entscheidungen als Großmacht, einschließlich der militärischen Entscheidung, steht im offenen Gegensatz zur materiellen und, wie ich gleich sagen werde, vor allem der moralischen Misere in der EU.
Zu dieser angeblichen „Stunde der Entscheidungen“ möchte ich den Standpunkt des International Observatory darlegen. Wir sind gegen Entscheidungen, die diese EU stärken, und erst recht gegen Aufrüstungsprogramme. Wir gehen davon aus, daß die neue internationale Situation nach der Wahl von Donald Trump genutzt wird, um auf diese Art von Entscheidungen zu drängen, von denen wir uns distanzieren. Europa muß ein Zeichen des Friedens auf der Grundlage der Würde der Völker und Nationen sein. Man mag vielleicht denken, daß die derzeitige Von-der-Leyen-Mehrheit, die aus den letzten EU-Wahlen hervorgegangen ist, politisch zu schwach ist, um Entscheidungen von dieser Bedeutung zu treffen. Aber wir sollten uns nichts vormachen. Wie Christophe Réveillard von der Sorbonne in unserem Bericht hervorhebt, gibt es in der EU heute keine Regierung, sondern eine Governance, die aus drei Elementen besteht: dem europäischen Deep State (auf den im Bericht auch Maurizio Milano hinweist, der über das Weltwirtschaftsforum in Davos berichtet), der Korporation der Unionsfunktionäre, die sich gegenseitig in die verschiedenen Gremien kooptieren (der ehemalige portugiesische Regierungschef, der bei den letzten nationalen Wahlen eine Niederlage erlitt, wurde nach Brüssel „befördert“; der ehemalige niederländische Regierungschef, der bei den letzten Wahlen in seinem Land eine Niederlage erlitt, ist jetzt NATO-Generalsekretär), einschließlich der Gerichtshöfe, und schließlich die Vertreter der Mitgliedstaaten. Die EU ist ein dreiköpfiges Ungeheuer. Das EU-Parlament erläßt keine Gesetze und die EU-Kommission ist nicht der einzige politische Akteur, es gibt noch andere, auch sehr versteckte. Von diesen verborgenen politischen Akteuren können die Anstöße ausgehen, die wir nicht gutheißen. So hat beispielsweise der ehemalige finnische Staatspräsident als von der Kommissionspräsidentin ernannter Berater vor kurzem einen Bericht mit dem Titel „Gemeinsam sicherer“ veröffentlicht, in dem er die Leitlinien für die Erreichung von Bereitschaft und Handlungsfähigkeit, einschließlich militärischer Maßnahmen, darlegt.
Auf europäischem Boden kämpfen zwei rivalisierende Visionen von Europa gegeneinander. Der Konflikt zwischen ihnen ist sicherlich auch materiell, aber das Drama Europas ist in erster Linie moralisch und geistig. Im vergangenen April hat der deutsche Bundestag ein Gesetz verabschiedet, wonach einem neugeborenen Kind sein Geschlecht nicht anerkannt, sondern später aus vier Möglichkeiten ausgewählt wird: männlich / weiblich / divers / offen. Das französische Parlament billigte die Verfassungsmäßigkeit der Abtreibung, dicht gefolgt vom EU-Parlament mit einer nicht bindenden, aber politisch wirksamen Entschließung, wonach das Recht auf Abtreibung in die Charta der Grundrechte der EU aufgenommen werden soll. Prof. Mauro Ronco befaßt sich in unserem Bericht damit. In allen 27 Staaten der EU und in allen 47 Staaten des Europarates ist die Abtreibung gesetzlich vorgesehen. In den Niederlanden gab es, wie Tommaso Scandroglio berichtet, im Jahr 2022 8720 Todesfälle durch Euthanasie, was 5 Prozent aller Todesfälle auf niederländischem Boden entspricht. Dazu merkt Scandroglio an: „Es ist ganz klar, daß die Ausbreitung dieser Praxis in den Niederlanden früher oder später auch andere europäische Länder anstecken wird“. Spanien hat, wie Julio Loredo berichtet, innerhalb weniger Jahrzehnte die posthumanen und postreligiösen Lebensstile, die in anderen europäischen Ländern vorherrschen, vollständig übernommen und holt mit großer Geschwindigkeit auf. Frankreich ist, wie uns Silvio Brachetta erklärt, eine Gesellschaft im Zerfall und im freien Fall, wie die schreckliche Darbietung bei den jüngsten Olympischen Spielen in Paris mit großer Plastizität verdeutlicht hat. Polen ist unter Beschuß. In diesem Land arbeitet die neue Linksregierung von Ministerpräsident Tusk mit allen Mitteln, auch illegalen, daran, mit Unterstützung der EU-Kommission den katholischen Widerstand zu zerschlagen. Inzwischen stellt die EU 2,5 Millionen Euro für die Gender-Erziehung im Rahmen des Erasmus-Programms bereit.
Mit diesen beiden letzten Schwerpunkten – Polen und Erasmus – berühren wir einen wichtigen Aspekt, nämlich das Engagement der EU für die Massenpädagogik, mit dem sich Christophe Réveillard in dem Bericht befaßt. Ihm zufolge finden die Techniken der Massenüberredung und der computergesteuerten Verhaltenskontrolle amerikanischen Ursprungs in der EU weite Verbreitung:
- Die Finanzialisierung der Wirtschaft,
- die globalistische Projektion,
- die Auferlegung weltweiter Normen,
- die Verstärkung der Propagandamittel, die heute fast alle wichtigen Medien betreffen,
- die „kognitive Kriegsführung“,
- die Massifizierung und Kollektivierung des Individuums durch die Auferlegung grundlegender Konzepte wie das des Fortschritts oder das des Primats der Wissenschaft, bis hin zu den aktuellen Vorschlägen zur Post-Wahrheit.
All dies und noch mehr beraubt die europäischen Nationen ihrer Identität. Eines der wichtigsten Instrumente dieses neuen Kolonialismus ist das Recht. In Italien haben wir kürzlich ein Beispiel dafür erlebt, als die Regierung ein Migrantenzentrum in Albanien einrichten wollte, das von den Richtern auf der Grundlage einiger Urteile des EU-Gerichtshofs angefochten und zu Fall gebracht wurde. Das Hauptproblem ist der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts vor dem Recht der Staaten, der im Vertrag von Lissabon (2007, in Kraft seit Ende 2009) festgelegt und in Artikel 117 in die italienische Verfassung aufgenommen wurde. In Erklärung 17 des Vertrags von Lissabon heißt es: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU haben die Verträge und das von der EU auf der Grundlage der Verträge erlassene Recht unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“. Réveillard zufolge stellt dies „eine exorbitante und lähmende regulatorische und verfahrensrechtliche Zwangsjacke für die nationalen Rechte dar“.
Die EU muß in Frage gestellt und gestoppt werden. Sie leugnet die objektive und natürliche Ordnung, entwickelt die Hegemonie der Wirtschaft und einen „Materialismus, der durch ein Ideal gekennzeichnet ist, in dessen Mittelpunkt der konsumierende Mensch außerhalb jeder Transzendenz steht, im Rahmen eines formalen Atheismus mit der Illusion der Freiheit als oberstem Gebot“.
Ich kann diesen Bericht nicht abschließen, ohne auf die Präsenz der katholischen Kirche in Europa einzugehen und darauf, wie sie heute mit den von mir in dieser Rede angesprochenen Themen zusammenhängt. Der Bericht befaßt sich auch mit diesem Thema. Der zentrale Punkt, den es gebührend zu untersuchen gilt, ist, daß die Führung der katholischen Kirche die Hauptthemen der ideologischen Agenda der herrschenden Machtzentren in Europa aus der Taufe gehoben, unterstützt und gefördert hat – mit zerstörerischen Ergebnissen. Die vier grundlegenden Punkte dieser Agenda – Vaccinismus, Genderismus, Klimatismus, Europäismus [Impfbefürwortung, Gender-Ideologie, Klima-Ideologie und EU-Superstaat] – haben die bedingungslose Unterstützung der katholischen Kirche auf allen Ebenen erhalten, vom Vatikan bis zur Pfarrei, mit nur sehr wenigen Ausnahmen. Diese vier Punkte sind integriert und stützen sich gegenseitig, sie sind Teil eines einzigen Systems und sehen nur einen einzigen Great Reset vor, sodaß die Kirche durch ihre Annahme mehr als nur diese vier Themen angenommen hat, nämlich ein ganzes Paradigma, einen gewünschten Epochenwechsel, dem sie sich unkritisch angepaßt hat. Die negativen Auswirkungen dieser Positionierung sind sowohl äußerlich als auch innerlich, Äußerlich, weil sie mit den Agenten des Bösen kollaboriert, innerlich, weil sie eine neue Kirche voraussetzt. Ich habe nicht die Zeit, dies zu erläutern, aber wir alle wissen, wie die Kirche die Corona-Lüge gedeckt hat, indem sie sogar die christliche Liebe ausgenutzt hat, wie sie jetzt Homosexualismus und Transgenderismus innerhalb und außerhalb ihrer selbst fördert, wie sie auf die Überwindung der fossilen Brennstoffe drängt, um den Klimawandel zu bekämpfen, den sie, wie das vorherrschende Narrativ vorgibt, für menschengemacht hält [In diesem Zusammenhang möchte ich zumindest an die Veröffentlichung des Apostolischen Schreibens Laudate Deum von Papst Franziskus erinnern, an seinen Aufruf zu einer beschleunigten Umstellung auf erneuerbare Energien während der umstrittenen liturgischen Feier am 1. Oktober 2024 und, in jüngerer Zeit, im Vorfeld der Weltklimakonferenz COP29 in Baku, an seinen Aufruf zu einer globalen finanziellen Anstrengung mit demselben Ziel. Selbst die schottischen Bischöfe sahen sich wie brave Schuljungen gezwungen, eine Note zu veröffentlichen, in der sie dieselben Slogans wiederholten], und schließlich der EU-Europäismus, der von den katholischen Bischöfen in Europa mit sehr peinlichen Reden im Zusammenhang mit den jüngsten Wahlen zum EU-Parlament unterstützt wurde.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Der Bericht weist auch auf einige positive und ermutigende Symptome hin. Sie sind jedoch klein und zerbrechlich. Das „liberal system“, nennen wir es einmal so, scheint sich trotz seines „Impulses zum Selbstmord“ noch zu halten. Kaum jemand geht mehr zur Wahl, das System ist schwerfällig und komplex geworden, das liberale Europa gibt immer mehr seine Freiheit auf und wird zu einer Kontrollgesellschaft, der Ausgang des Kampfes zwischen Natur und Künstlichkeit ist ungewiß, im Moment scheint die Künstlichkeit zu überwiegen, aber verschiedene Zeichen am Horizont sagen, daß das Spiel offen ist. In diesem Zusammenhang besteht unsere Hauptaufgabe darin, den Lehren und Richtlinien der Soziallehre der Kirche treu zu bleiben, und zwar nicht so, wie sie heute verstanden wird, d. h. ohne Identität, sondern so, wie sie immer verstanden wurde. Diese unsere Treue wird nicht nur dazu führen, daß positive Ressourcen in der Gesellschaft entstehen, sondern auch dazu, daß wir auf unsere eigene kleine Weise zur Neuevangelisierung beitragen, denn die Soziallehre der Kirche ist auch „Erziehung zum Glauben“.
*Stefano Fontana, Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church, promovierte in Politischer Philosophie mit einer Arbeit über die Politische Theologie; er lehrte Journalistische Deontologie und Geschichte des Journalismus an der Universität Vicenza, dann Philosophische Anthropologie und Philosophie der Sprache an der Hochschule für Erziehungswissenschaften ISRE in Venedig. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören „La nuova Chiesa di Karl Rahner“ („Die neue Kirche von Karl Rahner. Der Theologe, der die Kapitulation vor der Welt lehrte“, 2017), gemeinsam mit Erzbischof Paolo Crepaldi „Le chiavi della questione sociale“ („Die Schlüssel der sozialen Frage. Gemeinwohl und Subsidiarität: Die Geschichte eines Mißverständnisses“, 2019), „La filosofia cristiana“ („Die christliche Philosophie. Eine Gesamtschau auf die Bereiche des Denkens“, 2021).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: vanthuanobservatory.com (Screenshot)
1 Die deutsche Ausgabe hat einen anderen Untertitel: Walter Laqueur: Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht, List, Berlin 2008.
2 Msgr. Giampaolo Crepaldi war ab 2001 Sekretär des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, dann von 2009 bis 2023 Bischof von Triest. 2009 verlieh ihm Papst Benedikt XVI. den persönlichen Titel und die Würde eines Erzbischofs. Mit Vollendung des 75. Lebensjahres wurde Erzbischof Crepaldi von Papst Franziskus emeritiert.