
Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 1)
Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 2)
Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 3)
Von Pater Paolo M. Siano*
4. Anmerkungen zur russischen Freimaurerei vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Sowjetregimes
Im ersten Teil meiner Darlegungen habe ich die Studie des Freimaurers Br. Boris Telepnew über die russische Freimaurerei zitiert, die 1922 in den Proceedings der Forschungsloge „Quatuor Coronati“ Nr. 2076 in London veröffentlicht wurde („Freemasonry in Russia“, in AQC 35 (1922), S. 261–292). Im ersten Teil habe ich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgehört und fahre nun bis in die ersten Jahre des Sowjetregimes (ab 1917) fort.
Br. Telepnew ist überzeugt, daß verschiedene Freimaurer bis zu seiner Zeit (1922) in Rußland blieben, um den günstigen Moment für die Wiederbelebung der Freimaurerei abzuwarten: „Dennoch gibt es Grund zu der Annahme, daß Freimaurer-Adepten in Rußland bis in unsere Tage existierten und vielleicht einen günstigen Moment für die Wiederbelebung der Gesellschaft erwarteten, die einst so tiefe Wurzeln unter den Erbauern eines neuen und blühenden Rußlands nach einer Periode von Kriegen und inneren Unruhen schlug, bis die Bolschewiken alle Aktivitäten ihrer ‚bürgerlichen‘ Untertanen erstickten und alle Hoffnungen auf eine baldige Erholung Rußlands zunichte machten“ (S. 287).
In der Fußnote 2 auf S. 287 schreibt Telepnew, daß der 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau 1922 festlegte, daß alle Kommunisten, die Mitglieder der Freimaurerei waren, entweder die Freimaurerei sofort verlassen oder aus der Kommunistischen Partei austreten mußten. Außerdem durfte kein Kommunist, der der Freimaurerei angehörte, in den zwei Jahren nach seinem Austritt aus der Freimaurerei in wichtige Positionen der Partei gewählt werden. Dann fügt Telepnew hinzu, daß es Grund zu der Annahme gibt, daß einige freimaurerische und ähnliche Organisationen versucht haben, sogar unter dem bolschewistischen Regime nach Rußland einzudringen: „Yet there is ground to believe that attempts by some unrecognized Masonic and conjugal organisations have been made to penetrate into Russia even under the Bolshevic regime“ (S. 287, Fußnote 2).

Dem Bericht von Br. Telepnew folgten nur eine Wortmeldung, nämlich die von Freimaurer W. J. Songhurst, und dann die abschließende Antwort von Telepnew. Telepnew, der behauptet, interessante Informationen über die zeitgenössische Freimaurerei in Rußland erhalten zu haben (von 1900 bis zum Zeitpunkt der Niederschrift 1922).
Anfang 1906 traten etwa 15 Russen, die für ihre sozialen und politischen Aktivitäten bekannt waren und zumeist der Konstitutionell-Demokratischen Partei (KD) angehörten, wegen ihres Kürzels auch „Kadetten“ genannt, französischen Freimaurerlogen bei: Einige traten dem Grand Orient de France bei, die meisten schlossen sich zwei Logen an, die dem Obersten Rat des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus unterstanden, der Loge „Kosmos“ und der Loge „Berg Sinai“. Zurück in Rußland gründeten diese Freimaurer zwei „provisorische“ Logen: „Der Polarstern“ in St. Petersburg und „Regeneration“ in Moskau. Im Mai 1908 wurden die beiden Logen von zwei Mitgliedern des Großrats („Hoher Rat“) des Großorients von Frankreich, die zu diesem Zweck aus Paris entsandt worden waren, feierlich eröffnet. Zur gleichen Zeit gründete die andere französische Obödienz, die Grande Loge de France, eine Loge in St. Petersburg (Loge „Phœnix“) und eine in Moskau. Die russischen Logen durften ohne Einmischung aus Paris neue Logen eröffnen. Und so wurden 1908 und 1909 zwei neue Logen gegründet, eine in Nischni-Nowgorod und eine in Kiew. Im Jahr 1909 entdeckte die russische Regierung die Existenz von Freimaurerlogen französischen Ursprungs. Daraufhin beschlossen die russischen Logen, ihre Tätigkeit einzustellen, aber 1911 nahmen einige russische Freimaurer sie diskret wieder auf. Die Aktivitäten dieser Freimaurer waren vor allem politischer Natur: Sie wollten ein demokratisches Regime in Rußland errichten. Sie teilten den Geist des Grand Orient von Frankreich. Die pro-französischen russischen Freimaurer unterhielten zwischen 1913 und 1914 nicht weniger als 40 Logen in Rußland. Zwischen 1915 und 1916 kam es zu Unstimmigkeiten unter den russischen Freimaurern, weil sie zwei politischen Parteien angehörten (den „konstitutionellen Demokraten und den Progressiven“). Zehn Logen wurden „ruhend“ gestellt. Die übrigen 30 Logen setzten ihre Aktivitäten fort und beteiligten sich an der Organisation der Februarrevolution 1917 und der Bildung einer provisorischen Regierung. Nachdem die russische Freimaurerei ihr politisches Ziel erreicht hatte, begann sie sich aufzulösen. Am Vorabend der bolschewistischen Revolution gab es noch 28 Logen, und ab diesem Zeitpunkt (Oktober 1917) verließen die meisten Freimaurer Rußland. Neben diesen pro-französischen russischen Freimaurern gab es auch einige englische und italienische Freimaurer in Rußland sowie eine Martinistenloge (mit Ursprung in Lyon-Frankreich) mit dem Namen „Das Kreuz und der Stern“ (bei der – laut Telepnew – Zar Nikolaus II. Mitglied gewesen sei). Diese Martinistenloge stellte 1916 ihre Tätigkeit ein. Weitere Martinistenlogen wurden von Papus (Dr. Gérard Encausse) in Petersburg eröffnet: 1910 die Loge „Apollonius“, in Moskau 1911 die Loge „St. Johannes“, in Kiew 1912 die Loge „St. Andreas“ (vgl. S. 291). Auch unter den Mitgliedern des Russischen Marinebundes gab es eine Freimaurerloge, die sich „Philalethes“ nannte und ein dem Großorient von Frankreich entgegengesetztes Ziel verfolgte, nämlich die Unterstützung der Monarchie und des Zaren (vgl. S. 291f).
Telepnew stellt fest, daß, während diese Freimaurer- und Martinistenlogen von der bolschewistischen Revolution verschluckt wurden, andere Rosenkreuzerlogen im verborgenen weiterarbeiteten: „Doch während diese verschiedenen Systeme an die Oberfläche kamen und wieder von der Düsternis der bolschewistischen Revolution verschluckt wurden, scheinen die Rosenkreuzerlogen, die für die glanzvollste Periode der russischen Freimaurerei verantwortlich sind, ihre geheime Arbeit während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts und sogar nach der bolschewistischen Revolution bis in die heutige Zeit fortgesetzt zu haben: Sie hielten sich von allen politischen Auseinandersetzungen fern und scheinen in unseren Tagen dasselbe Banner zu tragen wie im achtzehnten Jahrhundert – das Banner der wahren Freimaurerei in ihrem großen Werk der moralischen Selbstvervollkommnung, der gegenseitigen Liebe und Hilfeleistung, verbunden mit der Suche nach der ewigen Wahrheit in der christlichen Mystik und der Führung der Menschheit auf dem Weg der Philosophie und Moral“ (S. 292).

Etwas später liefert Br. Telepnew auch kurze Informationen über russische Freimaurer im Ausland. Ab 1922 gibt es zwei russische Logen in Paris unter der Grande Loge de France und ein russisches „Kapitel“ unter dem Obersten Rat des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus von Frankreich. Außerdem gibt es eine russische Loge („Zum großen Licht im Norden“) in Berlin unter der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ (GML 3WK). Viele andere russische Freimaurer sind über ganz Europa verstreut, und es gibt auch eine russische Kolonie in England. Telepnew unterstützt die Wiederbelebung der russischen Freimaurerei durch die im 18. Jahrhundert von Ivan Jelagin, dem Großmeister der englischen Freimaruerei in Rußland, eingeführten Prinzipien (vgl. S. 292).
5. Sowjetspione, 20er Jahre, zwischen Marxismus, Okkultismus, tibetischem Buddhismus
Im Jahr 2011 veröffentlichte Andrei Znamenski, ein Gelehrter der russischen, asiatischen und westlichen Esoterik und ehemaliger Professor an der Universität Hokkaido (Japan) und der Universität von Memphis (USA), „Red Shambhala. Magie, Prophezeiung und Geopolitik im Herzen Rußlands“ (Theosophical Publishing House, Wheaton, Illinois, USA, Chennai, Indien, 2011), ein Buch über die Verwicklungen zwischen sowjetischen Spionen, Okkultismus und tibetischem Messianismus um die 1920er Jahre, in der Lenin-Ära. Auf der Rückseite ist zu lesen, daß dieses Buch auch von dem Wissenschaftler Nicholas Goodrick-Clarke (1953–2012), Autor von „The occult roots of Nazism“, positiv bewertet wurde. Schauen wir uns einige Punkte von Znamenskis Buch an.

5.1 Einige Charaktere
In den 1920er Jahren erforschen Gleb Boki (1879–1937), Chefkryptograph des bolschewistischen Regimes, Experte für Codes, Chiffren und elektronische Überwachung, und sein Freund Alexander Bartschenko (1881–1938), Schriftsteller für okkulte Themen aus St. Petersburg, in einem Geheimlabor die jüdische Kabbala, den Sufismus, das Kalachakra-Tantra, den Schamanismus und andere esoterische Traditionen. Sie versuchen auch, eine Expedition nach Tibet auf der Suche nach dem legendären Königreich Shambhala vorzubereiten. In New York ist ein russisches Einwandererpaar, die Theosophen Nicholas (1874–1947) und Helena Roerich (1879–1955), er war baltendeutscher Abstammung, ebenfalls auf der Suche nach Shambhala. Sie wollen eine Herrschaft des Wohlstands für die gesamte Menschheit verwirklichen und hoffen, den sowjetischen Kommunismus mit dem tibetischen Buddhismus vereinen zu können (vgl. S. XI).
Bartschenko, inspiriert von den Ideen des französischen Okkultisten Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842–1909), wollte die „alte Weisheit“ des geheimnisvollen „Landes“ Shambhala-Agartha beherrschen. Er glaubte, daß das kommunistische Projekt in Rußland weniger gewalttätig ausfallen würde, wenn er die Elite Sowjetrußlands in den tibetischen Buddhismus und das Wissen um Shambhala-Agartha einführen würde. Boki, einer der Führer der bolschewistischen Revolution von 1917, war Leiter der Sonderabteilung der sowjetischen Geheimpolizei. Er schuf die von der Sowjetspionage verwendeten Chiffren und schaffte es, westliche Geheimcodes zu knacken. Boki wurde bei seiner Arbeit von Graphologen, Medien, Hypnotiseuren und Esoterikern unterstützt (vgl. S. XXI).
5.2 Das Kalachakra-Tantra
Im tibetischen Buddhismus gibt es das Kalachakra-Tantra, das sich als Alternative zum hinduistischen Tantrismus entwickelte. Kalachakra ist eine Reihe von esoterischen Techniken (Meditationen, Wiederholung von Formeln oder Mantras, Visualisierung von Gottheiten), die die Erleuchtung bereits während dieses irdischen Lebens sicherstellen sollen. Nach Ansicht der Adepten dieser Art von Tantra (fernöstliche Techniken, durch die sie behaupten, sich mit dem Göttlichen zu vereinen) ist der Körper eine Ansammlung von Energiezentren, die durch Kanäle miteinander verbunden sind. Durch diese Kanäle fließen verschiedene Körperflüssigkeiten (von denen die wichtigsten das männliche Sperma und das weibliche Menstruationsblut sind). Das Ziel der Adepten ist es, durch die Kontrolle dieser Flüssigkeiten mächtig zu werden (vgl. S. 8f)… Kalachakra bietet 17 Einweihungen. Die Einweihungen auf den unteren Stufen sind in großem Umfang, d. h. für alle Männer. Auf diesen Stufen verpflichten sich die Eingeweihten, ihr ‚Selbst‘ zu unterdrücken und sich selbst, Geist und Körper, dem ‚Meister‘ des Kalachakra zu überlassen… Der Zweck solcher Einweihungen ist es, die Eingeweihten zu Gefäßen zu machen, die von den Meistern mit der spirituellen Kraft einer bestimmten Gottheit gefüllt werden.
Die hohen Stufen des Kalachakra-Tantra waren (oder sind immer noch) einigen wenigen auserwählten „Lamas“ (Adepten, Meistern) vorbehalten und beinhalteten Einweihungen, die unter absoluter Geheimhaltung stattfanden… Das Ziel war, die sexuelle Energie zu kanalisieren und zu meistern… Solche Einweihungen erforderten die Anwesenheit von Karma Mudras, d. h. jungen Frauen im Alter zwischen 10 und 20 Jahren… In der heutigen Zeit sollen die junge Frauen durch Objekte, die sie darstellen, ersetzt worden sein… Die alten Texte des Kalachakra-Tantra besagen jedoch, daß der Mensch ohne die Anwesenheit von Karma-Mudras keine Erleuchtung erlangen kann… Es handelt sich um Einweihungen sexueller Natur, die den Adepten zur Erleuchtung führen sollen, indem sie ihn vom Kreislauf der Wiedergeburten befreien (vgl. S. 10f)… Diesem tantrischen Glauben zufolge würde der Adept, der das vorgeschriebene Ritual exakt erfüllt, in der 17. und letzten Einweihung (die ebenfalls sexueller, männlich-weiblicher, magischer Natur ist) die weibliche Schöpfungskraft in sich aufnehmen und in Verbindung mit ihrer männlichen Kraft in ein übermenschliches, Transgender-Wesen verwandelt werden (vgl. S. 11)… Nach Znamenski ist es sicher, daß die Kalachakra-Einweihung in der Vergangenheit sexueller Natur war (vgl. S. 11f)… Bei den höchsten Einweihungen mußte der Eingeweihte vom tibetischen Buddhismus verbotene Substanzen, d. h. menschliche Sekrete, zu sich nehmen… Der Eingeweihte wurde gelehrt, daß er durch die Einnahme dieser ekelhaften Substanzen fähig wurde, Gut und Böse zu transzendieren und in die spirituelle Seligkeit einzugehen (vgl. S. 12). Hier ist Znamenskis Kommentar zu dieser tantrischen Lehre: Um Erleuchtung zu erlangen, mußte der Eingeweihte dem Teufel mutig in die Augen schauen („In other words, to reach enlightenment, an initiate had to bravely stare the Devil in his eye“, S. 12).

Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse darauf hinzuweisen, daß in der buddhistischen Kunst im großen Stil Bilder von Schädeln, abgetrennten Köpfen, Leichen, Mordszenen… gezeigt werden. Buddhistische Mönche wurden ermutigt, über Leichen in verschiedenen Verwesungszuständen zu meditieren… Es wurde auch empfohlen, daß die höchsten Einweihungen des Kalachakra-Tantra in Krematorien, Beinhäusern, Gräbern, Mordstätten stattfinden sollen (vgl. S. 12).
Im tibetischen Buddhismus sind viele Gottheiten keineswegs freundlich und barmherzig, sondern grausam… Es sind Gottheiten, die mit bedrohlichen und zornigen Gesichtern, Schwertern, Halsketten und Schalen aus menschlichen Schädeln dargestellt werden, mit Leichen, die von ihren Füßen zertreten werden. Der größte Teil des tibetisch-buddhistischen Symbolbuchs zeigt Waffen, abgetrennte Köpfe, menschliche Schädel und Knochen (vgl. S. 12). Die grimmigste Gottheit, die für die Verteidigung des buddhistischen „Glaubens“ zuständig ist, heißt Palden Lhamo und ist der persönliche Beschützer des Dalai Lama und der Stadt Lhasa. Palden Lhamo wird als weibliche Gottheit dargestellt, schwarz, bewaffnet und auf einem Pferd. Sie ist eine grausame und mörderische Gottheit… Die Verehrung solch grausamer Gottheiten ist in der tibetisch-buddhistischen Welt weit verbreitet. Die Menschen glauben, daß solche Gottheiten wirksamer sind als gütige (vgl. S. 13–16).
5.3 Alexander Bartschenko und die Verbindung von zwei Utopien: kommunistisch und esoterisch
Alexander Bartschenko, „Arzt“ (in Wirklichkeit hatte er weder Titel noch Ausbildung), Okkultist (Forscher in Telepathie, Schamanismus…), Dozent. Unter seinen Zuhörern waren sowjetische Matrosen der Ostsee. Im Dezember 1924 wurde Bartschenko von der sowjetischen Geheimpolizei nach Moskau vorgeladen, und zwar von Gleb Boki, dem Leiter der Sonderabteilung der OGPU (wie damals das Kürzel der sowjetischen Geheimpolizei lautete). Boki schien angewidert von dem Ausmaß an Gewalt, das die kommunistische Revolution erreicht hatte (aber er selbst, ein OGPU-Offizier, war gewalttätig und rücksichtslos)… Boki glaubte an die unbegrenzte Macht der Wissenschaft, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Im bolschewistischen Rußland lebten die Menschen in einem ständigen Zustand der Bespitzelung und Überwachung. Jeder bespitzelte seinen Nachbarn. Boki, der über Bartschenkos Interessen informiert war, teilte diese. Boki wollte auch mehr über das legendäre Shambhala (das angebliche „Paradiesland im Fernen Osten“), über Schamanismus, Parapsychologie usw. erfahren. Diese Interessen wurden von anderen Beamten oder Offizieren der sowjetischen Geheimpolizei geteilt (vgl. S. 43–56).

Um 1923 kam Bartschenko in Kontakt mit tibetisch-buddhistischen Mönchen, und obwohl er die alten tibetischen Texte nicht lesen konnte, lernte er irgendwie das Kalachakra-Tantra… Bartschenko träumt davon, quasi der „Zauberer Merlin“ der Sowjetregierung zu werden. Er ist überzeugt, daß, wenn die sowjetischen Führer Kalachakra und buddhistische „Weisheit“ im allgemeinen (d. h. die esoterische „Weisheit“, die im Reich von Shambhala-Agartha enthalten ist) lernen, sie sehr mächtig werden und die Sache des Kommunismus davon profitieren wird… Bartschenko gelingt es, mit ehemaligen OGPU-Mitgliedern in Kontakt zu treten, die ihn mit Gleb Boki in Moskau bekanntmachen, der so Bartschenkos Beschützer und Freund wird (vgl. S. 62–66).
5.4 Gleb Boki und die Sonderabteilung der OGPU: Spionage und Esoterik
Kapitel 4 von Znamenskis Buch beleuchtet die Figur von Gleb Boki, dem Leiter der Sonderabteilung der OGPU, die am 21. Januar 1921 durch einen Sonderbeschluß der sowjetischen Regierung als kryptographischer Dienst gegründet wurde und ausschließlich der kommunistischen Parteiführung unterstellt war. Als Leiter dieser Sonderabteilung übermittelte Greg Boki Informationen direkt an Lenin, Trotzki, Stalin und die anderen kommunistischen Führer und umging so die OGPU-Führung (vgl. S. 77f).
Die von Boki geleitete Sonderabteilung war sehr mächtig und mit vielen finanziellen Mitteln ausgestattet. Znamenski behauptet, daß sie mit der amerikanischen National Security Agency vergleichbar war. Diese Sonderabteilung der OGPU war die am schwersten zugängliche Abteilung (vgl. S. 78). Die Aufgabe von Bokis Abteilung war nicht die Verhaftung, sondern die Entschlüsselung von Codes und Botschaften ausländischer Botschaften, die Entwicklung von Chiffren und Codes für sowjetische Agenten und Botschaften. Boki, Chefkryptograph der OGPU, faktisch der UdSSR, weitete seine Untersuchungen auch auf paranormale und esoterische Phänomene aus. Gegen Ende der 1920er Jahre reichten die Aktivitäten von Bokis Sonderabteilung von elektronischer Spionage und ferngesteuerten Sprengstoffen bis hin zur Untersuchung mysteriöser und anomaler Dinge. Die Mitglieder der Sonderabteilung waren hochqualifiziert: Kryptographen, Linguisten, Übersetzer, Wissenschaftler… Auch ehemalige Agenten des Zarenreiches arbeiteten in Bokis Diensten. Boki bezahlte seine Agenten sehr gut und gab ihnen luxuriösere Wohnungen als die, die sie vor der bolschewistischen Revolution hatten. Die Arbeitszeit betrug 15 bis 16 Stunden pro Tag (vgl. S. 79f). Die Boki-Sektion wußte alles, was in der OGPU vor sich ging, aber die OGPU-Führer wußten nicht, was in der Boki-Sektion vor sich ging (vgl. S. 80).
5.4.1 Das Projekt von Bartschenko und die Aktivitäten von Boki
Bartschenko, der von der OGPU in Moskau vorgeladen wird, erklärt am 31. Dezember 1924 sein Projekt, die alte „Weisheit“ des Kalachakra-Tantra und Shambhala in den Dienst des Kommunismus zu stellen… Bartschenko spricht auch von der Macht des Geistes, Informationen über weite Entfernungen zu empfangen und zu senden… Der damalige Leiter der OGPU, Felix Dserschinski (1877–1926), beauftragt Boki mit der Untersuchung der Angelegenheit. Bartschenko zieht nach Moskau und arbeitet für Boki in einem ihm zur Verfügung gestellten Labor, wo er mit transfert, Psychologie und Parapsychologie experimentiert, zusammen mit Medien, Schamanen, Hypnotiseuren… 1934 wird Bartschenkos Labor in das Institut für experimentelle Medizin verlegt, ein 1932 von den sowjetischen Behörden gegründetes Institut zur Erforschung des menschlichen Gehirns, der Hypnose, der Vergiftung und der Drogen (vgl. S. 82f).
Als Leiter einer Sonderabteilung (vielleicht der mächtigsten, der „geheimsten“) der sowjetischen Geheimpolizei lebt Boki in einer ständigen „Atmosphäre“ der Geheimhaltung (Symbole, zu erstellende, zu entschlüsselnde oder zu hackende Codes, elektronische Spionage, klandestine Aktionen…), die ihn und seine Agenten natürlich sehr an esoterischen und mysteriösen Dingen interessiert sein läßt… Gegen Ende 1925 ermutigt Boki Bartschenko, seinen Männern der Sonderabteilung Unterricht in Kalachakra-Tantra und westlichem Okkultismus zu geben. Doch nach einiger Zeit zeigten sechs „Studenten“ Langeweile, sehr zu Bartschenkos Enttäuschung. So beschloß Boki, die „Lektionen“ in Privatwohnungen zu verlegen und sie nur noch Freunden vorzubehalten, die sich für Esoterik, tibetische Medizin und das Paranormale interessierten. Unter den Teilnehmern an diesen Vorlesungen befand sich aus Neugier auch Genrich (Jenoch) Jagoda, der nach dem Tod Dserschinskis 1926 de facto OGPU-Leiter war (vgl. S. 86–87).

Nicht nur in der Moskauer Wohnung planten Boki und seine Jünger eine ideale Gesellschaft, perfekte menschliche Körper und Geister. In der Gegend von Kuchino, am Rande Moskaus, unterhielt Boki ein Sommerhaus (Datscha), in dem einige ausgewählte Männer und Frauen aus Bokis Spezialabteilung abseits von neugierigen Blicken dem Naturismus frönten, schwammen, speisten… Wenn das Wetter es zuließ, arbeiteten Boki und seine ausgewählte Gruppe an den Wochenenden nackt oder halbnackt im Garten des Hauses, ernteten Obst und Gemüse… Boki wollte den Kult der „Einheit mit der Natur“ praktizieren… Der Lebensstil in diesem Haus: völlig nacktes Sonnenbaden, Schwimmen für Männer und Frauen, FKK bei der kollektiven Arbeit und den gemeinsamen Mahlzeiten (mit reichlichem Alkoholgenuß) und dann Gruppensex (vgl. S. 88f). Es ist wahrscheinlich, daß Boki sich auf die Rituale des Kalachakra-Tantra bezog… Schon in den frühen Tagen des bolschewistischen Rußlands (später in den 1960er Jahren auch in Westeuropa) waren sie weit verbreitet: sexuelle Promiskuität, Verachtung traditioneller Familienwerte, ‚kollektive‘ (promiskuitive) Lebensentwürfe… In der Datscha Bokis wurde auch das Beerdigungsritual der orthodoxen Kirche simuliert, wobei ein Mitglied als Priester und ein anderes als zu bestattender Leichnam fungierte (vgl. p. 89).
5.4.2 Stalin und das Ende der Sonderabteilung, Boki und Bartschenko
In den 1930er Jahren, mit der vollen Machtausübung Stalins, erreichten Informationen über die seltsame FKK-Gemeinschaft in Boki die Ohren der OGPU-Führung, und Boki war gezwungen, sie zu schließen. In Bokis Spezialabteilung gaben sich ihm viele Agentinnen bereitwillig hin, um Gefälligkeiten zu erhalten. Boki erwarb eine Sammlung mumifizierter männlicher Geschlechtsorgane… Nach verschiedenen Zweigen des Kalachakra-Tantra wurden mumifizierte Teile (Hände, Arme, Penis, Schädel), insbesondere von verstorbenen „Lamas“, verwendet, um Kräfte zu erlangen (vgl. S. 90).
Neben Naturisten- und Nudisten-Orten und der Selbstermächtigung durch den Gebrauch mumifizierter menschlicher Fetische war Bokis andere Priorität, eine Expedition ins asiatische Hinterland zu organisieren, um mit Shambhala in Kontakt zu treten… Boki war bereit, umfangreiche Mittel für dieses Projekt bereitzustellen, und Bartschenko war begeistert (vgl. S. 91). Ein solches Unterfangen bedurfte der Zustimmung von Georgi Tschitscherin, dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, einem engen Freund Lenins. Tschitscherin war mit der OGPU und insbesondere mit Bokis „allgegenwärtiger“ Sonderabteilung nicht einverstanden. Tschitscherin, der beschuldigt wurde, eine homosexuelle Affäre mit seinem Protokollchef zu haben, nahm Kontakt zu anderen wichtigen OGPU-Führern auf, die auf Boki eifersüchtig waren… Auf diese Weise versuchte Tschitscherin, das Shambhala-Projekt zu nutzen, um Boki zu ruinieren: Die Vorstellung, daß die sowjetische Geheimpolizei riesige Summen für die Suche nach einer imaginären antiken Zivilisation in Asien ausgeben würde, war in der Tat seltsam (vgl. S. 91–95).
Die Expedition nach Shambhala wurde zum Scheitern verurteilt, auch dank Tschitscherin. Doch Boki ließ sich nicht entmutigen und finanzierte mit eigenen Mitteln mehrere Reisen Bartschenkos innerhalb der Grenzen der UdSSR auf der Suche nach esoterischen Gruppen und Lehren wie tibetischen Buddhisten, Schamanen, Sufis, sektiererischen Russisch-Orthodoxen usw. Nach Ansicht von Boki und Bartschenko waren all diese Gruppen Manifestationen einer alten universellen Weisheit… Boki und Bartschenko planten, zwischen 1927 und 1928 einen großen Kongreß der esoterischen Gruppen in Moskau abzuhalten, um sie für die Sache des Kommunismus zu gewinnen… Über Bartschenkos Tätigkeit für Bokis Sonderabteilung zwischen 1925 und den frühen 1930er Jahren ist nicht viel bekannt. Allerdings erhielt Bartschenko in dieser Zeit etwa 100.000 Rubel, was damals 200.000 US-Dollar entsprach (vgl. S. 96–99).
Unter Stalins Herrschaft, etwa in den 1930er Jahren, fanden die „Säuberungen“ statt, d. h. die physische Beseitigung der „alten“ Bolschewiki aus der Zeit Lenins. Damit verlor die Sonderabteilung von Boki mehr und mehr an Bedeutung. 1934 ging die Erforschung des Okkulten, der paranormalen Phänomene und der Verbesserung des Menschen von der Sonderabteilung auf das 1932 gegründete VIEM, das sowjetische Unionsinstitut für experimentelle Medizin, über. Die Sektion Boki befaßt sich nicht mehr mit dem Chiffrieren und Dechiffrieren und verliert auch ihren Namen: nicht mehr Sonderabteilung, sondern nur mehr Sektion 9. Ab 1934 ist es sehr gefährlich, politisch unkorrekt zu sprechen, d. h. sich über den neuen stalinistischen Kurs zu beschweren. Die esoterischen und okkultistischen Vereinigungen werden verfolgt und ihre Mitglieder in Konzentrationslagern (Gulag) inhaftiert. Bolschewistische Agenten und Beamte, die mit Bartschenkos esoterischen Ideen sympathisieren, und Bartschenko selbst werden verhaftet und als Konterrevolutionäre, Verräter, feindliche Spione usw. zum Tode verurteilt… Unter den zum Tode Verurteilten ist auch Greg Boki (vgl. S. 223–234).
* * *
Nachdem wir Znamenskis Buch illustriert haben, wollen wir uns etwas mehr mit Spionage und Esoterik befassen.
5.5 Der seltsame Tod eines russischen Freimaurers (und sowjetischen Spions?)
In dem Buch „Un Dictionnaire du Martinisme (essai sur)“ von Richard Raczynski (Dualpha Editions, Paris 2001), mit einem Vorwort von Michel Gaudart de Soulages, Großmeister des Obersten Martinistischen Rates [und Freimaurermeister der Grande Loge Nationale Française], gibt es einen Artikel, der der Figur von Dmitri Sergejewitsch Nawaschin (1889–1937) gewidmet ist: Bankier, Wirtschaftswissenschaftler, russischer Rechtsanwalt aus Kiew, Freimaurer der Grande Loge de France, Ritter Kadosch des 30. Grades des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus, Mitglied des Martinistenordens und „Membre du K.G.B.“ [in Wirklichkeit nahm der sowjetische Geheimdienst die Initialen KGB erst 1954 an; von 1917 bis 1922 hieß er Tscheka, von 1922 bis 1934 OGPU/GPU, von 1934 bis 1946 NKWD]. Nawaschin wurde am 23. Januar 1937 in Paris durch einen Stich ins Herz getötet. Der Mörder wird nie gefunden werden (vgl. S. 433).
5.6 Ein ehemaliger KGB-General spricht…
Im Jahr 2006 erklärte der ehemalige KGB-General Boris Ratnikow (1944–2020), der nach dem Zusammenbruch der UdSSR zum FSB (dem Geheimdienst der Russischen Föderation) versetzt wurde, daß die Erforschung von Bewußtseinskontrolltechniken in den 1920er Jahren in der UdSSR begann und daß es Mitte der 1980er Jahre etwa 50 Forschungsinstitute in der UdSSR gab, die sich mit dem hier besprochenen Bereich beschäftigten (vgl. Ex-agent reveals KGB mind control techniques – paper (Moskau, 22.12.2006); vgl. Alex Naumov: Russians have psychotronic weapon to zombie people (14.8.2007).
(Fortsetzung folgt)
*Pater Paolo Maria Siano gehört
dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte
Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der
Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze
gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß
die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische
Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen
Glaubenslehre begründen.
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe NardiBild: Corrispondenza Romana/Wikicommons/MiL (Screenshot
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/MiL/ROA (Screenshots)