Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 4)

Freimaurerei, Okkultismus, Esoterik in der frühen Sowjetunion


Sowjetunion Freimaurerei Okkultismus GPU Geheimdienst KPdSU

Frei­mau­re­rei und Eso­te­rik in Ruß­land seit dem 18. Jahr­hun­dert (Teil 1)
Frei­mau­re­rei und Eso­te­rik in Ruß­land seit dem 18. Jahr­hun­dert (Teil 2)
Frei­mau­re­rei und Eso­te­rik in Ruß­land seit dem 18. Jahr­hun­dert (Teil 3)

Anzei­ge

Von Pater Pao­lo M. Siano*

4. Anmerkungen zur russischen Freimaurerei vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Sowjetregimes

Im ersten Teil mei­ner Dar­le­gun­gen habe ich die Stu­die des Frei­mau­rers Br. Boris Telep­new über die rus­si­sche Frei­mau­re­rei zitiert, die 1922 in den Pro­ce­e­dings der For­schungs­lo­ge „Qua­tu­or Coro­na­ti“ Nr. 2076 in Lon­don ver­öf­fent­licht wur­de („Free­ma­son­ry in Rus­sia“, in AQC 35 (1922), S. 261–292). Im ersten Teil habe ich in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts auf­ge­hört und fah­re nun bis in die ersten Jah­re des Sowjet­re­gimes (ab 1917) fort.

Br. Telep­new ist über­zeugt, daß ver­schie­de­ne Frei­mau­rer bis zu sei­ner Zeit (1922) in Ruß­land blie­ben, um den gün­sti­gen Moment für die Wie­der­be­le­bung der Frei­mau­re­rei abzu­war­ten: „Den­noch gibt es Grund zu der Annah­me, daß Frei­mau­rer-Adep­ten in Ruß­land bis in unse­re Tage exi­stier­ten und viel­leicht einen gün­sti­gen Moment für die Wie­der­be­le­bung der Gesell­schaft erwar­te­ten, die einst so tie­fe Wur­zeln unter den Erbau­ern eines neu­en und blü­hen­den Ruß­lands nach einer Peri­ode von Krie­gen und inne­ren Unru­hen schlug, bis die Bol­sche­wi­ken alle Akti­vi­tä­ten ihrer ‚bür­ger­li­chen‘ Unter­ta­nen erstick­ten und alle Hoff­nun­gen auf eine bal­di­ge Erho­lung Ruß­lands zunich­te mach­ten“ (S. 287).

In der Fuß­no­te 2 auf S. 287 schreibt Telep­new, daß der 4. Kon­greß der Kom­mu­ni­sti­schen Inter­na­tio­na­le in Mos­kau 1922 fest­leg­te, daß alle Kom­mu­ni­sten, die Mit­glie­der der Frei­mau­re­rei waren, ent­we­der die Frei­mau­re­rei sofort ver­las­sen oder aus der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei aus­tre­ten muß­ten. Außer­dem durf­te kein Kom­mu­nist, der der Frei­mau­re­rei ange­hör­te, in den zwei Jah­ren nach sei­nem Aus­tritt aus der Frei­mau­re­rei in wich­ti­ge Posi­tio­nen der Par­tei gewählt wer­den. Dann fügt Telep­new hin­zu, daß es Grund zu der Annah­me gibt, daß eini­ge frei­mau­re­ri­sche und ähn­li­che Orga­ni­sa­tio­nen ver­sucht haben, sogar unter dem bol­sche­wi­sti­schen Regime nach Ruß­land ein­zu­drin­gen: „Yet the­re is ground to belie­ve that attempts by some unre­co­gnized Maso­nic and con­ju­gal orga­ni­sa­ti­ons have been made to pene­tra­te into Rus­sia even under the Bols­he­vic regime“ (S. 287, Fuß­no­te 2).

Der 4. Kon­greß der Kom­mu­ni­sti­schen Inter­na­tio­na­le faß­te einen Unver­ein­bar­keits­be­schluß gegen die Frei­mau­re­rei. Der sowje­ti­sche Geheim­dienst inter­es­sier­te sich jedoch sehr für „gehei­mes Wissen“

Dem Bericht von Br. Telep­new folg­ten nur eine Wort­mel­dung, näm­lich die von Frei­mau­rer W. J. Song­hurst, und dann die abschlie­ßen­de Ant­wort von Telep­new. Telep­new, der behaup­tet, inter­es­san­te Infor­ma­tio­nen über die zeit­ge­nös­si­sche Frei­mau­re­rei in Ruß­land erhal­ten zu haben (von 1900 bis zum Zeit­punkt der Nie­der­schrift 1922).

Anfang 1906 tra­ten etwa 15 Rus­sen, die für ihre sozia­len und poli­ti­schen Akti­vi­tä­ten bekannt waren und zumeist der Kon­sti­tu­tio­nell-Demo­kra­ti­schen Par­tei (KD) ange­hör­ten, wegen ihres Kür­zels auch „Kadet­ten“ genannt, fran­zö­si­schen Frei­mau­rer­lo­gen bei: Eini­ge tra­ten dem Grand Ori­ent de France bei, die mei­sten schlos­sen sich zwei Logen an, die dem Ober­sten Rat des Alten und Ange­nom­me­nen Schot­ti­schen Ritus unter­stan­den, der Loge „Kos­mos“ und der Loge „Berg Sinai“. Zurück in Ruß­land grün­de­ten die­se Frei­mau­rer zwei „pro­vi­so­ri­sche“ Logen: „Der Polar­stern“ in St. Peters­burg und „Rege­ne­ra­ti­on“ in Mos­kau. Im Mai 1908 wur­den die bei­den Logen von zwei Mit­glie­dern des Groß­rats („Hoher Rat“) des Groß­ori­ents von Frank­reich, die zu die­sem Zweck aus Paris ent­sandt wor­den waren, fei­er­lich eröff­net. Zur glei­chen Zeit grün­de­te die ande­re fran­zö­si­sche Obö­di­enz, die Gran­de Loge de France, eine Loge in St. Peters­burg (Loge „Phœ­nix“) und eine in Mos­kau. Die rus­si­schen Logen durf­ten ohne Ein­mi­schung aus Paris neue Logen eröff­nen. Und so wur­den 1908 und 1909 zwei neue Logen gegrün­det, eine in Nisch­ni-Now­go­rod und eine in Kiew. Im Jahr 1909 ent­deck­te die rus­si­sche Regie­rung die Exi­stenz von Frei­mau­rer­lo­gen fran­zö­si­schen Ursprungs. Dar­auf­hin beschlos­sen die rus­si­schen Logen, ihre Tätig­keit ein­zu­stel­len, aber 1911 nah­men eini­ge rus­si­sche Frei­mau­rer sie dis­kret wie­der auf. Die Akti­vi­tä­ten die­ser Frei­mau­rer waren vor allem poli­ti­scher Natur: Sie woll­ten ein demo­kra­ti­sches Regime in Ruß­land errich­ten. Sie teil­ten den Geist des Grand Ori­ent von Frank­reich. Die pro-fran­zö­si­schen rus­si­schen Frei­mau­rer unter­hiel­ten zwi­schen 1913 und 1914 nicht weni­ger als 40 Logen in Ruß­land. Zwi­schen 1915 und 1916 kam es zu Unstim­mig­kei­ten unter den rus­si­schen Frei­mau­rern, weil sie zwei poli­ti­schen Par­tei­en ange­hör­ten (den „kon­sti­tu­tio­nel­len Demo­kra­ten und den Pro­gres­si­ven“). Zehn Logen wur­den „ruhend“ gestellt. Die übri­gen 30 Logen setz­ten ihre Akti­vi­tä­ten fort und betei­lig­ten sich an der Orga­ni­sa­ti­on der Febru­ar­re­vo­lu­ti­on 1917 und der Bil­dung einer pro­vi­so­ri­schen Regie­rung. Nach­dem die rus­si­sche Frei­mau­re­rei ihr poli­ti­sches Ziel erreicht hat­te, begann sie sich auf­zu­lö­sen. Am Vor­abend der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on gab es noch 28 Logen, und ab die­sem Zeit­punkt (Okto­ber 1917) ver­lie­ßen die mei­sten Frei­mau­rer Ruß­land. Neben die­sen pro-fran­zö­si­schen rus­si­schen Frei­mau­rern gab es auch eini­ge eng­li­sche und ita­lie­ni­sche Frei­mau­rer in Ruß­land sowie eine Mar­ti­ni­sten­lo­ge (mit Ursprung in Lyon-Frank­reich) mit dem Namen „Das Kreuz und der Stern“ (bei der – laut Telep­new – Zar Niko­laus II. Mit­glied gewe­sen sei). Die­se Mar­ti­ni­sten­lo­ge stell­te 1916 ihre Tätig­keit ein. Wei­te­re Mar­ti­ni­sten­lo­gen wur­den von Papus (Dr. Gérard Encausse) in Peters­burg eröff­net: 1910 die Loge „Apol­lo­ni­us“, in Mos­kau 1911 die Loge „St. Johan­nes“, in Kiew 1912 die Loge „St. Andre­as“ (vgl. S. 291). Auch unter den Mit­glie­dern des Rus­si­schen Mari­ne­bun­des gab es eine Frei­mau­rer­lo­ge, die sich „Philal­e­thes“ nann­te und ein dem Groß­ori­ent von Frank­reich ent­ge­gen­ge­setz­tes Ziel ver­folg­te, näm­lich die Unter­stüt­zung der Mon­ar­chie und des Zaren (vgl. S. 291f).

Telep­new stellt fest, daß, wäh­rend die­se Frei­mau­rer- und Mar­ti­ni­sten­lo­gen von der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on ver­schluckt wur­den, ande­re Rosen­kreu­zerlogen im ver­bor­ge­nen wei­ter­ar­bei­te­ten: „Doch wäh­rend die­se ver­schie­de­nen Syste­me an die Ober­flä­che kamen und wie­der von der Düster­nis der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on ver­schluckt wur­den, schei­nen die Rosen­kreu­zerlogen, die für die glanz­voll­ste Peri­ode der rus­si­schen Frei­mau­re­rei ver­ant­wort­lich sind, ihre gehei­me Arbeit wäh­rend des gesam­ten neun­zehn­ten Jahr­hun­derts und sogar nach der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on bis in die heu­ti­ge Zeit fort­ge­setzt zu haben: Sie hiel­ten sich von allen poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen fern und schei­nen in unse­ren Tagen das­sel­be Ban­ner zu tra­gen wie im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert – das Ban­ner der wah­ren Frei­mau­re­rei in ihrem gro­ßen Werk der mora­li­schen Selbst­ver­voll­komm­nung, der gegen­sei­ti­gen Lie­be und Hil­fe­lei­stung, ver­bun­den mit der Suche nach der ewi­gen Wahr­heit in der christ­li­chen Mystik und der Füh­rung der Mensch­heit auf dem Weg der Phi­lo­so­phie und Moral“ (S. 292).

Die Loge „Zum gro­ßen Licht im Nor­den“ (Ber­lin), eine der rus­si­schen Frei­mau­rer­lo­gen, die nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on im euro­päi­schen Exil entstanden

Etwas spä­ter lie­fert Br. Telep­new auch kur­ze Infor­ma­tio­nen über rus­si­sche Frei­mau­rer im Aus­land. Ab 1922 gibt es zwei rus­si­sche Logen in Paris unter der Gran­de Loge de France und ein rus­si­sches „Kapi­tel“ unter dem Ober­sten Rat des Alten und Ange­nom­me­nen Schot­ti­schen Ritus von Frank­reich. Außer­dem gibt es eine rus­si­sche Loge („Zum gro­ßen Licht im Nor­den“) in Ber­lin unter der Gro­ßen Natio­nal-Mut­ter­lo­ge „Zu den drei Welt­ku­geln“ (GML 3WK). Vie­le ande­re rus­si­sche Frei­mau­rer sind über ganz Euro­pa ver­streut, und es gibt auch eine rus­si­sche Kolo­nie in Eng­land. Telep­new unter­stützt die Wie­der­be­le­bung der rus­si­schen Frei­mau­re­rei durch die im 18. Jahr­hun­dert von Ivan Jelagin, dem Groß­mei­ster der eng­li­schen Frei­ma­rue­rei in Ruß­land, ein­ge­führ­ten Prin­zi­pi­en (vgl. S. 292).

5. Sowjetspione, 20er Jahre, zwischen Marxismus, Okkultismus, tibetischem Buddhismus

Im Jahr 2011 ver­öf­fent­lich­te And­rei Zna­men­ski, ein Gelehr­ter der rus­si­schen, asia­ti­schen und west­li­chen Eso­te­rik und ehe­ma­li­ger Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Hok­kai­do (Japan) und der Uni­ver­si­tät von Mem­phis (USA), „Red Shamb­ha­la. Magie, Pro­phe­zei­ung und Geo­po­li­tik im Her­zen Ruß­lands“ (Theo­so­phi­cal Publi­shing Hou­se, Whea­ton, Illi­nois, USA, Chen­nai, Indi­en, 2011), ein Buch über die Ver­wick­lun­gen zwi­schen sowje­ti­schen Spio­nen, Okkul­tis­mus und tibe­ti­schem Mes­sia­nis­mus um die 1920er Jah­re, in der Lenin-Ära. Auf der Rück­sei­te ist zu lesen, daß die­ses Buch auch von dem Wis­sen­schaft­ler Nicho­las Good­rick-Clar­ke (1953–2012), Autor von „The occult roots of Nazism“, posi­tiv bewer­tet wur­de. Schau­en wir uns eini­ge Punk­te von Zna­menskis Buch an.

Rotes Shamb­ha­la, Kom­mu­nis­mus und Esoterik

5.1 Einige Charaktere

In den 1920er Jah­ren erfor­schen Gleb Boki (1879–1937), Chef­kryp­to­graph des bol­sche­wi­sti­schen Regimes, Exper­te für Codes, Chif­fren und elek­tro­ni­sche Über­wa­chung, und sein Freund Alex­an­der Bart­schen­ko (1881–1938), Schrift­stel­ler für okkul­te The­men aus St. Peters­burg, in einem Geheim­la­bor die jüdi­sche Kab­ba­la, den Sufis­mus, das Kal­ach­akra-Tan­tra, den Scha­ma­nis­mus und ande­re eso­te­ri­sche Tra­di­tio­nen. Sie ver­su­chen auch, eine Expe­di­ti­on nach Tibet auf der Suche nach dem legen­dä­ren König­reich Shamb­ha­la vor­zu­be­rei­ten. In New York ist ein rus­si­sches Ein­wan­de­rer­paar, die Theo­so­phen Nicho­las (1874–1947) und Hele­na Roe­rich (1879–1955), er war bal­ten­deut­scher Abstam­mung, eben­falls auf der Suche nach Shamb­ha­la. Sie wol­len eine Herr­schaft des Wohl­stands für die gesam­te Mensch­heit ver­wirk­li­chen und hof­fen, den sowje­ti­schen Kom­mu­nis­mus mit dem tibe­ti­schen Bud­dhis­mus ver­ei­nen zu kön­nen (vgl. S. XI).

Bart­schen­ko, inspi­riert von den Ideen des fran­zö­si­schen Okkul­ti­sten Alex­and­re Saint-Yves d’Al­veyd­re (1842–1909), woll­te die „alte Weis­heit“ des geheim­nis­vol­len „Lan­des“ Shamb­ha­la-Agar­tha beherr­schen. Er glaub­te, daß das kom­mu­ni­sti­sche Pro­jekt in Ruß­land weni­ger gewalt­tä­tig aus­fal­len wür­de, wenn er die Eli­te Sowjet­ruß­lands in den tibe­ti­schen Bud­dhis­mus und das Wis­sen um Shamb­ha­la-Agar­tha ein­füh­ren wür­de. Boki, einer der Füh­rer der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on von 1917, war Lei­ter der Son­der­ab­tei­lung der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei. Er schuf die von der Sowjet­spio­na­ge ver­wen­de­ten Chif­fren und schaff­te es, west­li­che Geheim­codes zu knacken. Boki wur­de bei sei­ner Arbeit von Gra­pho­lo­gen, Medi­en, Hyp­no­ti­seu­ren und Eso­te­ri­kern unter­stützt (vgl. S. XXI).

5.2 Das Kalachakra-Tantra

Im tibe­ti­schen Bud­dhis­mus gibt es das Kal­ach­akra-Tan­tra, das sich als Alter­na­ti­ve zum hin­du­isti­schen Tan­tris­mus ent­wickel­te. Kal­ach­akra ist eine Rei­he von eso­te­ri­schen Tech­ni­ken (Medi­ta­tio­nen, Wie­der­ho­lung von For­meln oder Man­tras, Visua­li­sie­rung von Gott­hei­ten), die die Erleuch­tung bereits wäh­rend die­ses irdi­schen Lebens sicher­stel­len sol­len. Nach Ansicht der Adep­ten die­ser Art von Tan­tra (fern­öst­li­che Tech­ni­ken, durch die sie behaup­ten, sich mit dem Gött­li­chen zu ver­ei­nen) ist der Kör­per eine Ansamm­lung von Ener­gie­zen­tren, die durch Kanä­le mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Durch die­se Kanä­le flie­ßen ver­schie­de­ne Kör­per­flüs­sig­kei­ten (von denen die wich­tig­sten das männ­li­che Sper­ma und das weib­li­che Men­strua­ti­ons­blut sind). Das Ziel der Adep­ten ist es, durch die Kon­trol­le die­ser Flüs­sig­kei­ten mäch­tig zu wer­den (vgl. S. 8f)… Kal­ach­akra bie­tet 17 Ein­wei­hun­gen. Die Ein­wei­hun­gen auf den unte­ren Stu­fen sind in gro­ßem Umfang, d. h. für alle Män­ner. Auf die­sen Stu­fen ver­pflich­ten sich die Ein­ge­weih­ten, ihr ‚Selbst‘ zu unter­drücken und sich selbst, Geist und Kör­per, dem ‚Mei­ster‘ des Kal­ach­akra zu über­las­sen… Der Zweck sol­cher Ein­wei­hun­gen ist es, die Ein­ge­weih­ten zu Gefä­ßen zu machen, die von den Mei­stern mit der spi­ri­tu­el­len Kraft einer bestimm­ten Gott­heit gefüllt werden.

Die hohen Stu­fen des Kal­ach­akra-Tan­tra waren (oder sind immer noch) eini­gen weni­gen aus­er­wähl­ten „Lamas“ (Adep­ten, Mei­stern) vor­be­hal­ten und beinhal­te­ten Ein­wei­hun­gen, die unter abso­lu­ter Geheim­hal­tung statt­fan­den… Das Ziel war, die sexu­el­le Ener­gie zu kana­li­sie­ren und zu mei­stern… Sol­che Ein­wei­hun­gen erfor­der­ten die Anwe­sen­heit von Kar­ma Mudras, d. h. jun­gen Frau­en im Alter zwi­schen 10 und 20 Jah­ren… In der heu­ti­gen Zeit sol­len die jun­ge Frau­en durch Objek­te, die sie dar­stel­len, ersetzt wor­den sein… Die alten Tex­te des Kal­ach­akra-Tan­tra besa­gen jedoch, daß der Mensch ohne die Anwe­sen­heit von Kar­ma-Mudras kei­ne Erleuch­tung erlan­gen kann… Es han­delt sich um Ein­wei­hun­gen sexu­el­ler Natur, die den Adep­ten zur Erleuch­tung füh­ren sol­len, indem sie ihn vom Kreis­lauf der Wie­der­ge­bur­ten befrei­en (vgl. S. 10f)… Die­sem tan­tri­schen Glau­ben zufol­ge wür­de der Adept, der das vor­ge­schrie­be­ne Ritu­al exakt erfüllt, in der 17. und letz­ten Ein­wei­hung (die eben­falls sexu­el­ler, männ­lich-weib­li­cher, magi­scher Natur ist) die weib­li­che Schöp­fungs­kraft in sich auf­neh­men und in Ver­bin­dung mit ihrer männ­li­chen Kraft in ein über­mensch­li­ches, Trans­gen­der-Wesen ver­wan­delt wer­den (vgl. S. 11)… Nach Zna­men­ski ist es sicher, daß die Kal­ach­akra-Ein­wei­hung in der Ver­gan­gen­heit sexu­el­ler Natur war (vgl. S. 11f)… Bei den höch­sten Ein­wei­hun­gen muß­te der Ein­ge­weih­te vom tibe­ti­schen Bud­dhis­mus ver­bo­te­ne Sub­stan­zen, d. h. mensch­li­che Sekre­te, zu sich neh­men… Der Ein­ge­weih­te wur­de gelehrt, daß er durch die Ein­nah­me die­ser ekel­haf­ten Sub­stan­zen fähig wur­de, Gut und Böse zu tran­szen­die­ren und in die spi­ri­tu­el­le Selig­keit ein­zu­ge­hen (vgl. S. 12). Hier ist Zna­menskis Kom­men­tar zu die­ser tan­tri­schen Leh­re: Um Erleuch­tung zu erlan­gen, muß­te der Ein­ge­weih­te dem Teu­fel mutig in die Augen schau­en („In other words, to reach enligh­ten­ment, an initia­te had to bra­ve­ly sta­re the Devil in his eye“, S. 12).

Von rechts: Gleb Boki, Lei­ter der Son­der­ab­tei­lung der OGPU, und Alex­an­der Bart­schen­ko, Autor okkul­ti­sti­scher Schriften

Es ist in die­sem Zusam­men­hang von Inter­es­se dar­auf hin­zu­wei­sen, daß in der bud­dhi­sti­schen Kunst im gro­ßen Stil Bil­der von Schä­deln, abge­trenn­ten Köp­fen, Lei­chen, Mord­sze­nen… gezeigt wer­den. Bud­dhi­sti­sche Mön­che wur­den ermu­tigt, über Lei­chen in ver­schie­de­nen Ver­we­sungs­zu­stän­den zu medi­tie­ren… Es wur­de auch emp­foh­len, daß die höch­sten Ein­wei­hun­gen des Kal­ach­akra-Tan­tra in Kre­ma­to­ri­en, Bein­häu­sern, Grä­bern, Mord­stät­ten statt­fin­den sol­len (vgl. S. 12).

Im tibe­ti­schen Bud­dhis­mus sind vie­le Gott­hei­ten kei­nes­wegs freund­lich und barm­her­zig, son­dern grau­sam… Es sind Gott­hei­ten, die mit bedroh­li­chen und zor­ni­gen Gesich­tern, Schwer­tern, Hals­ket­ten und Scha­len aus mensch­li­chen Schä­deln dar­ge­stellt wer­den, mit Lei­chen, die von ihren Füßen zer­tre­ten wer­den. Der größ­te Teil des tibe­tisch-bud­dhi­sti­schen Sym­bol­buchs zeigt Waf­fen, abge­trenn­te Köp­fe, mensch­li­che Schä­del und Kno­chen (vgl. S. 12). Die grim­mig­ste Gott­heit, die für die Ver­tei­di­gung des bud­dhi­sti­schen „Glau­bens“ zustän­dig ist, heißt Pal­den Lha­mo und ist der per­sön­li­che Beschüt­zer des Dalai Lama und der Stadt Lha­sa. Pal­den Lha­mo wird als weib­li­che Gott­heit dar­ge­stellt, schwarz, bewaff­net und auf einem Pferd. Sie ist eine grau­sa­me und mör­de­ri­sche Gott­heit… Die Ver­eh­rung solch grau­sa­mer Gott­hei­ten ist in der tibe­tisch-bud­dhi­sti­schen Welt weit ver­brei­tet. Die Men­schen glau­ben, daß sol­che Gott­hei­ten wirk­sa­mer sind als güti­ge (vgl. S. 13–16).

5.3 Alexander Bartschenko und die Verbindung von zwei Utopien: kommunistisch und esoterisch

Alex­an­der Bart­schen­ko, „Arzt“ (in Wirk­lich­keit hat­te er weder Titel noch Aus­bil­dung), Okkul­tist (For­scher in Tele­pa­thie, Scha­ma­nis­mus…), Dozent. Unter sei­nen Zuhö­rern waren sowje­ti­sche Matro­sen der Ost­see. Im Dezem­ber 1924 wur­de Bart­schen­ko von der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei nach Mos­kau vor­ge­la­den, und zwar von Gleb Boki, dem Lei­ter der Son­der­ab­tei­lung der OGPU (wie damals das Kür­zel der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei lau­te­te). Boki schien ange­wi­dert von dem Aus­maß an Gewalt, das die kom­mu­ni­sti­sche Revo­lu­ti­on erreicht hat­te (aber er selbst, ein OGPU-Offi­zier, war gewalt­tä­tig und rück­sichts­los)… Boki glaub­te an die unbe­grenz­te Macht der Wis­sen­schaft, um die Pro­ble­me der Mensch­heit zu lösen. Im bol­sche­wi­sti­schen Ruß­land leb­ten die Men­schen in einem stän­di­gen Zustand der Bespit­ze­lung und Über­wa­chung. Jeder bespit­zel­te sei­nen Nach­barn. Boki, der über Bart­schen­kos Inter­es­sen infor­miert war, teil­te die­se. Boki woll­te auch mehr über das legen­dä­re Shamb­ha­la (das angeb­li­che „Para­dies­land im Fer­nen Osten“), über Scha­ma­nis­mus, Para­psy­cho­lo­gie usw. erfah­ren. Die­se Inter­es­sen wur­den von ande­ren Beam­ten oder Offi­zie­ren der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei geteilt (vgl. S. 43–56).

Sexu­ell-okkul­ti­sti­sche Initia­ti­on der männ­li­chen „höhe­ren Ein­ge­weih­ten“ im Buddhismus

Um 1923 kam Bart­schen­ko in Kon­takt mit tibe­tisch-bud­dhi­sti­schen Mön­chen, und obwohl er die alten tibe­ti­schen Tex­te nicht lesen konn­te, lern­te er irgend­wie das Kal­ach­akra-Tan­tra… Bart­schen­ko träumt davon, qua­si der „Zau­be­rer Mer­lin“ der Sowjet­re­gie­rung zu wer­den. Er ist über­zeugt, daß, wenn die sowje­ti­schen Füh­rer Kal­ach­akra und bud­dhi­sti­sche „Weis­heit“ im all­ge­mei­nen (d. h. die eso­te­ri­sche „Weis­heit“, die im Reich von Shamb­ha­la-Agar­tha ent­hal­ten ist) ler­nen, sie sehr mäch­tig wer­den und die Sache des Kom­mu­nis­mus davon pro­fi­tie­ren wird… Bart­schen­ko gelingt es, mit ehe­ma­li­gen OGPU-Mit­glie­dern in Kon­takt zu tre­ten, die ihn mit Gleb Boki in Mos­kau bekannt­ma­chen, der so Bart­schen­kos Beschüt­zer und Freund wird (vgl. S. 62–66).

5.4 Gleb Boki und die Sonderabteilung der OGPU: Spionage und Esoterik

Kapi­tel 4 von Zna­menskis Buch beleuch­tet die Figur von Gleb Boki, dem Lei­ter der Son­der­ab­tei­lung der OGPU, die am 21. Janu­ar 1921 durch einen Son­der­be­schluß der sowje­ti­schen Regie­rung als kryp­to­gra­phi­scher Dienst gegrün­det wur­de und aus­schließ­lich der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei­füh­rung unter­stellt war. Als Lei­ter die­ser Son­der­ab­tei­lung über­mit­tel­te Greg Boki Infor­ma­tio­nen direkt an Lenin, Trotz­ki, Sta­lin und die ande­ren kom­mu­ni­sti­schen Füh­rer und umging so die OGPU-Füh­rung (vgl. S. 77f).

Die von Boki gelei­te­te Son­der­ab­tei­lung war sehr mäch­tig und mit vie­len finan­zi­el­len Mit­teln aus­ge­stat­tet. Zna­men­ski behaup­tet, daß sie mit der ame­ri­ka­ni­schen Natio­nal Secu­ri­ty Agen­cy ver­gleich­bar war. Die­se Son­der­ab­tei­lung der OGPU war die am schwer­sten zugäng­li­che Abtei­lung (vgl. S. 78). Die Auf­ga­be von Bokis Abtei­lung war nicht die Ver­haf­tung, son­dern die Ent­schlüs­se­lung von Codes und Bot­schaf­ten aus­län­di­scher Bot­schaf­ten, die Ent­wick­lung von Chif­fren und Codes für sowje­ti­sche Agen­ten und Bot­schaf­ten. Boki, Chef­kryp­to­graph der OGPU, fak­tisch der UdSSR, wei­te­te sei­ne Unter­su­chun­gen auch auf para­nor­ma­le und eso­te­ri­sche Phä­no­me­ne aus. Gegen Ende der 1920er Jah­re reich­ten die Akti­vi­tä­ten von Bokis Son­der­ab­tei­lung von elek­tro­ni­scher Spio­na­ge und fern­ge­steu­er­ten Spreng­stof­fen bis hin zur Unter­su­chung myste­riö­ser und anoma­ler Din­ge. Die Mit­glie­der der Son­der­ab­tei­lung waren hoch­qua­li­fi­ziert: Kryp­to­gra­phen, Lin­gu­isten, Über­set­zer, Wis­sen­schaft­ler… Auch ehe­ma­li­ge Agen­ten des Zaren­rei­ches arbei­te­ten in Bokis Dien­sten. Boki bezahl­te sei­ne Agen­ten sehr gut und gab ihnen luxu­riö­se­re Woh­nun­gen als die, die sie vor der bol­sche­wi­sti­schen Revo­lu­ti­on hat­ten. Die Arbeits­zeit betrug 15 bis 16 Stun­den pro Tag (vgl. S. 79f). Die Boki-Sek­ti­on wuß­te alles, was in der OGPU vor sich ging, aber die OGPU-Füh­rer wuß­ten nicht, was in der Boki-Sek­ti­on vor sich ging (vgl. S. 80).

5.4.1 Das Projekt von Bartschenko und die Aktivitäten von Boki

Bart­schen­ko, der von der OGPU in Mos­kau vor­ge­la­den wird, erklärt am 31. Dezem­ber 1924 sein Pro­jekt, die alte „Weis­heit“ des Kal­ach­akra-Tan­tra und Shamb­ha­la in den Dienst des Kom­mu­nis­mus zu stel­len… Bart­schen­ko spricht auch von der Macht des Gei­stes, Infor­ma­tio­nen über wei­te Ent­fer­nun­gen zu emp­fan­gen und zu sen­den… Der dama­li­ge Lei­ter der OGPU, Felix Dsersch­in­ski (1877–1926), beauf­tragt Boki mit der Unter­su­chung der Ange­le­gen­heit. Bart­schen­ko zieht nach Mos­kau und arbei­tet für Boki in einem ihm zur Ver­fü­gung gestell­ten Labor, wo er mit trans­fert, Psy­cho­lo­gie und Para­psy­cho­lo­gie expe­ri­men­tiert, zusam­men mit Medi­en, Scha­ma­nen, Hyp­no­ti­seu­ren… 1934 wird Bart­schen­kos Labor in das Insti­tut für expe­ri­men­tel­le Medi­zin ver­legt, ein 1932 von den sowje­ti­schen Behör­den gegrün­de­tes Insti­tut zur Erfor­schung des mensch­li­chen Gehirns, der Hyp­no­se, der Ver­gif­tung und der Dro­gen (vgl. S. 82f).

Als Lei­ter einer Son­der­ab­tei­lung (viel­leicht der mäch­tig­sten, der „geheim­sten“) der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei lebt Boki in einer stän­di­gen „Atmo­sphä­re“ der Geheim­hal­tung (Sym­bo­le, zu erstel­len­de, zu ent­schlüs­seln­de oder zu hacken­de Codes, elek­tro­ni­sche Spio­na­ge, klan­de­sti­ne Aktio­nen…), die ihn und sei­ne Agen­ten natür­lich sehr an eso­te­ri­schen und myste­riö­sen Din­gen inter­es­siert sein läßt… Gegen Ende 1925 ermu­tigt Boki Bart­schen­ko, sei­nen Män­nern der Son­der­ab­tei­lung Unter­richt in Kal­ach­akra-Tan­tra und west­li­chem Okkul­tis­mus zu geben. Doch nach eini­ger Zeit zeig­ten sechs „Stu­den­ten“ Lan­ge­wei­le, sehr zu Bart­schen­kos Ent­täu­schung. So beschloß Boki, die „Lek­tio­nen“ in Pri­vat­woh­nun­gen zu ver­le­gen und sie nur noch Freun­den vor­zu­be­hal­ten, die sich für Eso­te­rik, tibe­ti­sche Medi­zin und das Para­nor­ma­le inter­es­sier­ten. Unter den Teil­neh­mern an die­sen Vor­le­sun­gen befand sich aus Neu­gier auch Gen­rich (Jenoch) Jago­da, der nach dem Tod Dsersch­inskis 1926 de fac­to OGPU-Lei­ter war (vgl. S. 86–87).

Grau­sa­me Dar­stel­lun­gen im Buddhismus

Nicht nur in der Mos­kau­er Woh­nung plan­ten Boki und sei­ne Jün­ger eine idea­le Gesell­schaft, per­fek­te mensch­li­che Kör­per und Gei­ster. In der Gegend von Kuch­i­no, am Ran­de Mos­kaus, unter­hielt Boki ein Som­mer­haus (Dat­scha), in dem eini­ge aus­ge­wähl­te Män­ner und Frau­en aus Bokis Spe­zi­al­ab­tei­lung abseits von neu­gie­ri­gen Blicken dem Natu­ris­mus frön­ten, schwam­men, spei­sten… Wenn das Wet­ter es zuließ, arbei­te­ten Boki und sei­ne aus­ge­wähl­te Grup­pe an den Wochen­en­den nackt oder halb­nackt im Gar­ten des Hau­ses, ern­te­ten Obst und Gemü­se… Boki woll­te den Kult der „Ein­heit mit der Natur“ prak­ti­zie­ren… Der Lebens­stil in die­sem Haus: völ­lig nack­tes Son­nen­ba­den, Schwim­men für Män­ner und Frau­en, FKK bei der kol­lek­ti­ven Arbeit und den gemein­sa­men Mahl­zei­ten (mit reich­li­chem Alko­hol­ge­nuß) und dann Grup­pen­sex (vgl. S. 88f). Es ist wahr­schein­lich, daß Boki sich auf die Ritua­le des Kal­ach­akra-Tan­tra bezog… Schon in den frü­hen Tagen des bol­sche­wi­sti­schen Ruß­lands (spä­ter in den 1960er Jah­ren auch in West­eu­ro­pa) waren sie weit ver­brei­tet: sexu­el­le Pro­mis­kui­tät, Ver­ach­tung tra­di­tio­nel­ler Fami­li­en­wer­te, ‚kol­lek­ti­ve‘ (pro­mis­kui­ti­ve) Lebens­ent­wür­fe… In der Dat­scha Bokis wur­de auch das Beer­di­gungs­ri­tu­al der ortho­do­xen Kir­che simu­liert, wobei ein Mit­glied als Prie­ster und ein ande­res als zu bestat­ten­der Leich­nam fun­gier­te (vgl. p. 89).

5.4.2 Stalin und das Ende der Sonderabteilung, Boki und Bartschenko

In den 1930er Jah­ren, mit der vol­len Macht­aus­übung Sta­lins, erreich­ten Infor­ma­tio­nen über die selt­sa­me FKK-Gemein­schaft in Boki die Ohren der OGPU-Füh­rung, und Boki war gezwun­gen, sie zu schlie­ßen. In Bokis Spe­zi­al­ab­tei­lung gaben sich ihm vie­le Agen­tin­nen bereit­wil­lig hin, um Gefäl­lig­kei­ten zu erhal­ten. Boki erwarb eine Samm­lung mumi­fi­zier­ter männ­li­cher Geschlechts­or­ga­ne… Nach ver­schie­de­nen Zwei­gen des Kal­ach­akra-Tan­tra wur­den mumi­fi­zier­te Tei­le (Hän­de, Arme, Penis, Schä­del), ins­be­son­de­re von ver­stor­be­nen „Lamas“, ver­wen­det, um Kräf­te zu erlan­gen (vgl. S. 90).

Neben Natu­ri­sten- und Nudi­sten-Orten und der Selbst­er­mäch­ti­gung durch den Gebrauch mumi­fi­zier­ter mensch­li­cher Feti­sche war Bokis ande­re Prio­ri­tät, eine Expe­di­ti­on ins asia­ti­sche Hin­ter­land zu orga­ni­sie­ren, um mit Shamb­ha­la in Kon­takt zu tre­ten… Boki war bereit, umfang­rei­che Mit­tel für die­ses Pro­jekt bereit­zu­stel­len, und Bart­schen­ko war begei­stert (vgl. S. 91). Ein sol­ches Unter­fan­gen bedurf­te der Zustim­mung von Geor­gi Tschit­sche­rin, dem Volks­kom­mis­sar für Aus­wär­ti­ge Ange­le­gen­hei­ten, einem engen Freund Lenins. Tschit­sche­rin war mit der OGPU und ins­be­son­de­re mit Bokis „all­ge­gen­wär­ti­ger“ Son­der­ab­tei­lung nicht ein­ver­stan­den. Tschit­sche­rin, der beschul­digt wur­de, eine homo­se­xu­el­le Affä­re mit sei­nem Pro­to­koll­chef zu haben, nahm Kon­takt zu ande­ren wich­ti­gen OGPU-Füh­rern auf, die auf Boki eifer­süch­tig waren… Auf die­se Wei­se ver­such­te Tschit­sche­rin, das Shamb­ha­la-Pro­jekt zu nut­zen, um Boki zu rui­nie­ren: Die Vor­stel­lung, daß die sowje­ti­sche Geheim­po­li­zei rie­si­ge Sum­men für die Suche nach einer ima­gi­nä­ren anti­ken Zivi­li­sa­ti­on in Asi­en aus­ge­ben wür­de, war in der Tat selt­sam (vgl. S. 91–95).

Die Expe­di­ti­on nach Shamb­ha­la wur­de zum Schei­tern ver­ur­teilt, auch dank Tschit­sche­rin. Doch Boki ließ sich nicht ent­mu­ti­gen und finan­zier­te mit eige­nen Mit­teln meh­re­re Rei­sen Bart­schen­kos inner­halb der Gren­zen der UdSSR auf der Suche nach eso­te­ri­schen Grup­pen und Leh­ren wie tibe­ti­schen Bud­dhi­sten, Scha­ma­nen, Sufis, sek­tie­re­ri­schen Rus­sisch-Ortho­do­xen usw. Nach Ansicht von Boki und Bart­schen­ko waren all die­se Grup­pen Mani­fe­sta­tio­nen einer alten uni­ver­sel­len Weis­heit… Boki und Bart­schen­ko plan­ten, zwi­schen 1927 und 1928 einen gro­ßen Kon­greß der eso­te­ri­schen Grup­pen in Mos­kau abzu­hal­ten, um sie für die Sache des Kom­mu­nis­mus zu gewin­nen… Über Bart­schen­kos Tätig­keit für Bokis Son­der­ab­tei­lung zwi­schen 1925 und den frü­hen 1930er Jah­ren ist nicht viel bekannt. Aller­dings erhielt Bart­schen­ko in die­ser Zeit etwa 100.000 Rubel, was damals 200.000 US-Dol­lar ent­sprach (vgl. S. 96–99).

Unter Sta­lins Herr­schaft, etwa in den 1930er Jah­ren, fan­den die „Säu­be­run­gen“ statt, d. h. die phy­si­sche Besei­ti­gung der „alten“ Bol­sche­wi­ki aus der Zeit Lenins. Damit ver­lor die Son­der­ab­tei­lung von Boki mehr und mehr an Bedeu­tung. 1934 ging die Erfor­schung des Okkul­ten, der para­nor­ma­len Phä­no­me­ne und der Ver­bes­se­rung des Men­schen von der Son­der­ab­tei­lung auf das 1932 gegrün­de­te VIEM, das sowje­ti­sche Uni­ons­in­sti­tut für expe­ri­men­tel­le Medi­zin, über. Die Sek­ti­on Boki befaßt sich nicht mehr mit dem Chif­frie­ren und Dechif­frie­ren und ver­liert auch ihren Namen: nicht mehr Son­der­ab­tei­lung, son­dern nur mehr Sek­ti­on 9. Ab 1934 ist es sehr gefähr­lich, poli­tisch unkor­rekt zu spre­chen, d. h. sich über den neu­en sta­li­ni­sti­schen Kurs zu beschwe­ren. Die eso­te­ri­schen und okkul­ti­sti­schen Ver­ei­ni­gun­gen wer­den ver­folgt und ihre Mit­glie­der in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern (Gulag) inhaf­tiert. Bol­sche­wi­sti­sche Agen­ten und Beam­te, die mit Bart­schen­kos eso­te­ri­schen Ideen sym­pa­thi­sie­ren, und Bart­schen­ko selbst wer­den ver­haf­tet und als Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re, Ver­rä­ter, feind­li­che Spio­ne usw. zum Tode ver­ur­teilt… Unter den zum Tode Ver­ur­teil­ten ist auch Greg Boki (vgl. S. 223–234).

* * *

Nach­dem wir Zna­menskis Buch illu­striert haben, wol­len wir uns etwas mehr mit Spio­na­ge und Eso­te­rik befassen.

5.5 Der seltsame Tod eines russischen Freimaurers (und sowjetischen Spions?)

In dem Buch „Un Dic­tion­n­aire du Mar­ti­nis­me (essai sur)“ von Richard Rac­zyn­ski (Dual­pha Edi­ti­ons, Paris 2001), mit einem Vor­wort von Michel Gaud­art de Sou­la­ges, Groß­mei­ster des Ober­sten Mar­ti­ni­sti­schen Rates [und Frei­mau­rer­mei­ster der Gran­de Loge Natio­na­le Fran­çai­se], gibt es einen Arti­kel, der der Figur von Dmit­ri Ser­ge­je­witsch Nawa­schin (1889–1937) gewid­met ist: Ban­kier, Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler, rus­si­scher Rechts­an­walt aus Kiew, Frei­mau­rer der Gran­de Loge de France, Rit­ter Kado­sch des 30. Gra­des des Alten und Ange­nom­me­nen Schot­ti­schen Ritus, Mit­glied des Mar­ti­ni­sten­or­dens und „Membre du K.G.B.“ [in Wirk­lich­keit nahm der sowje­ti­sche Geheim­dienst die Initia­len KGB erst 1954 an; von 1917 bis 1922 hieß er Tsche­ka, von 1922 bis 1934 OGPU/​GPU, von 1934 bis 1946 NKWD]. Nawa­schin wur­de am 23. Janu­ar 1937 in Paris durch einen Stich ins Herz getö­tet. Der Mör­der wird nie gefun­den wer­den (vgl. S. 433).

5.6 Ein ehemaliger KGB-General spricht…

Im Jahr 2006 erklär­te der ehe­ma­li­ge KGB-Gene­ral Boris Rat­ni­kow (1944–2020), der nach dem Zusam­men­bruch der UdSSR zum FSB (dem Geheim­dienst der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on) ver­setzt wur­de, daß die Erfor­schung von Bewußt­seins­kon­troll­tech­ni­ken in den 1920er Jah­ren in der UdSSR begann und daß es Mit­te der 1980er Jah­re etwa 50 For­schungs­in­sti­tu­te in der UdSSR gab, die sich mit dem hier bespro­che­nen Bereich beschäf­tig­ten (vgl. Ex-agent reve­als KGB mind con­trol tech­ni­ques – paper (Mos­kau, 22.12.2006); vgl. Alex Nau­mov: Rus­si­ans have psy­cho­tro­nic wea­pon to zom­bie peo­p­le (14.8.2007).

(Fort­set­zung folgt)

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört
dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te
Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der
Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze
gewid­met hat. Durch sei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen bringt er den Nach­weis, daß
die Frei­mau­re­rei von Anfang an bis heu­te eso­te­ri­sche und gno­sti­sche
Ele­men­te ent­hielt, die ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen
Glau­bens­leh­re begründen.





Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di­Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons/​MiL (Screen­shot

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. Durch sei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen bringt er den Nach­weis, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an bis heu­te eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/​MiL/​ROA (Screen­shots)

Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!