
Von Cristina Siccardi*
„Eine Abtreibung ist Mord, man tötet einen Menschen“, erklärte der Papst bei der Rückkehr von seiner jüngsten Apostolischen Reise nach Belgien, seiner 46. Reise, die am 29. September zu Ende ging. Wir hatten also die Gelegenheit, klare Worte der Wahrheit über einen absolut unumstößlichen Grundsatz zu hören, und der Papst benutzte dabei Worte ohne jede Zweideutigkeit: „Die Ärzte, die sich dazu hergeben, sind, erlauben Sie mir das Wort, Mörder. Darüber kann man nicht streiten“, denn „die Wissenschaft sagt Ihnen, daß im Monat der Empfängnis bereits alle Organe vorhanden sind… Sie töten einen Menschen“.
Wir sind leider nicht mehr an die Wahrheit der Konzepte gewöhnt, selbst wenn sie so offensichtlich sind wie die Kultur/Politik für das Leben und die Kultur/Politik für den Tod.
Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts liegt die Tötung eines ungeborenen Kindes, eines Menschen, in vielen Ländern der Welt, vor allem im Westen, im Ermessen der Frau und ist während der ersten Schwangerschaftsmonate eine gesetzlich erlaubte Praxis. Trotz der weiten Verbreitung dieser Praxis sind die Debatten und Zweifel über die Zulässigkeit der Abtreibung und trotz der Tabuisierungsversuche nach wie vor fester Bestandteil unserer Gesellschaften. Mit dem beschönigenden sprachlichen Ausdruck „freiwilliger Schwangerschaftsabbruch“ wird dieses tragische Problem, das das Gewissen belastet, so lange in Umlauf gebracht, bis die heilige Wahrheit, die der Papst am vergangenen Sonntag verkündet hat, allen klar ist: „Eine Abtreibung ist Mord, man tötet einen Menschen“, dem die ebenso wahren Worte hinzugefügt werden: „Die Frau hat ein Recht auf Leben, auf ihr eigenes Leben und auf das Leben ihrer Kinder“. Die Tötung von Kindern ist eine Abscheulichkeit, unabhängig davon, wie viele Monate das für das Leben bestimmte Geschöpf alt ist und welche Probleme die Mutter auch haben mag. Hat nicht das grausame Ende der namenlosen Säuglinge, die Chiara Petrolini in ihrem Garten in Parma vergraben hat, die gesamte öffentliche Meinung empört?1 Und was ist der Unterschied zu den kleinen, namenlosen Kindern, die im Mutterleib ermordet wurden?
Die apostolische Reise nach Belgien war für den Papst auch eine Gelegenheit, eine wichtige Initiative anzukündigen: Am Ende des Besuchs gab er bekannt, daß er den Seligsprechungsprozeß für Balduin (1930–1993), von 1951 bis 1993 König der Belgier, einleiten werde, der, nachdem er den Thron in einer Phase der politischen Krise bestiegen hatte – von Krisen wurde seine ganze lange Regierungszeit begleitet –, sich auch der Abtreibungsfrage stellte und dabei seinen katholischen Glauben bezeugte. Er behandelte diesen nicht als eine private religiöse Angelegenheit, sondern als eine öffentliche Realität, die seine Entscheidungen auf nationaler Ebene beeinflußte. Das ist eine ganz andere Haltung als die von Machthabern, die sich zwar als katholisch bezeichnen, aber dann so verhalten, als ob sie es nicht wären – man denke nur an viele Christdemokraten in der Vergangenheit oder an heutige Politiker.
Balduin, der Sohn von König Leopold III. (1901–1983) und Königin Astrid (1905–1935), verlor im Alter von fünf Jahren seine Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die königliche Familie 1940–1944 im Schloß Laeken2 gefangengehalten. Anschließend wurden die Mitglieder des Königshauses zunächst ins Dritte Reich in verschiedene Gefangenenlager deportiert, zuletzt in Österreich, bevor sie im Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurden.
Nach Kriegsende lebte die königliche Familie bis 1950 im Schweizer Exil, bis Leopold III. nach einer Volksabstimmung in seine Heimat zurückkehren konnte. Die Volksabstimmung hatte allerdings ergeben, daß Flandern für den König, aber Wallonien gegen ihn war. Um das Land nicht zu spalten, dankte Leopold III. am 16. Juli 1951 zugunsten seines ältesten Sohnes Balduin3 ab, der im Alter von 21 Jahren Souverän und fünfter König der Belgier wurde. Diese Jahre waren geprägt von der Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der katholischen Schule, die der Herrscher aus Überzeugung unterstützte, und den Anhängern der staatlichen Schule, und sie waren auch die Jahre der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957. In der Zwischenzeit kommt es zu schweren Aufständen für die Unabhängigkeit des Kongo von Belgien. Am 30. Juni 1960 nahm Balduin an der Unabhängigkeitszeremonie in Leopoldville4 teil, und in der gemeinsamen Sitzung des Parlaments lobte der König nach einer unerwarteten Ovation aller kongolesischen Abgeordneten die Kolonialzeit und die zahlreichen belgischen Projekte, die mit hervorragenden Ergebnissen für die Kongolesen in diesem afrikanischen Land durchgeführt wurden.
1960 heiratete er in der Brüsseler Kathedrale die spanische Gräfin Fabiola de Mora y Aragón (1928 –2014), die zur Königin Fabiola der Belgier wurde, die fünf Schwangerschaften hatte, die jedoch alle mit Fehlgeburten endeten: ein schweres Kreuz, das das Königspaar mit Glauben, Hoffnung und Liebe zu tragen hatte. So ging die dynastische Nachfolge an den 1960 geborenen Prinzen Philipp über, den Sohn seines 1934 geborenen Bruders Albert II.
1976 wurde die König-Balduin-Stiftung mit den Geldern gegründet, die während der Feierlichkeiten zum 25. Thronjubiläum gesammelt wurden, mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der Bevölkerung auf wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und wissenschaftlicher Ebene zu verbessern.
Obwohl Belgien eine parlamentarische Monarchie ist, in der der Monarch seine Meinung nicht ohne die Zustimmung des Parlaments öffentlich äußern kann, hatte der beim Volk beliebte Balduin stets einen großen Einfluß auf die Regierungen während seiner zweiundvierzigjährigen Regierungszeit. Unter seiner Amtszeit wurde Belgien in einen Bundesstaat umgewandelt, wobei sich der König entschieden für die Einheit des Staates einsetzte, trotz der anhaltenden Meinungsverschiedenheiten im Sprachbereich, insbesondere bezüglich der beiden Amtssprachen Niederländisch und Französisch.
Balduin, nun Kandidat für die Ehre der Altäre, war ein zutiefst katholischer Mann und sein ganzes Leben war ein Zeugnis seines Glaubens. Als er 1990 nicht bereit war, das vom Parlament verabschiedete Abtreibungsgesetz zu unterzeichnen, erklärte er seine Gründe in einem Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Wilfried Martens. So nahm das Parlament in Anwendung einer besonderen Auslegung von Artikel 93 der Verfassung (Artikel 82 nach der früheren Numerierung) eine vorübergehende „Regierungsunfähigkeit“ Balduins zur Kenntnis und verkündete das Gesetz am 3. April ohne den König. Am darauffolgenden 5. April wurde Balduin unter erneuter Anerkennung der Gesamtheit der Funktionen und Rechtes des Staatsoberhauptes vom Parlament wieder in sein Amt eingesetzt.
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und erneuert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Die 22jährige Chiara Petrolini hat ihre beiden neugeborenen Kinder getötet und im Garten ihres Hauses in der Nähe der oberitalienischen Stadt Parma vergraben. Der Ermittlungsrichter, der den Fall behandelt, sagte, daß ihr Verhalten „eine kalte und distanzierte Persönlichkeit offenbare“, die „Kälte und Verachtung für das menschliche Leben“ zeige, wie die Tageszeitung Il Messaggero am selben 29. September berichtete, an dem Papst Franziskus aus Belgien nach Rom zurückkehrte. Die Frau, die „sich weder schuldig fühlt noch Reue zeigt“, biete ein „erschreckendes Bild von Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit“.
2 Schloß Laeken ist seit 1831 der private Wohnsitz des belgischen Königshauses. Das Schloß war 1782–1784 von Reichsgeneralfeldmarschall Albrecht Kasimir von Sachsen-Teschen, dem habsburgischen Statthalter in den damaligen Österreichischen Niederlanden, Schwiegersohn von Kaiserin Maria Theresia und Schwager von Kaiser Joseph II., errichtet worden.
3 Belgien hat drei Amtssprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch. Entsprechend wird der Name des Königs in den jeweiligen Landesteilen in der dortigen Sprache geführt. Der König hieß auf niederländisch Boudewijn, auf französisch Baudouin und auf deutsch eben Balduin. Neben dem flämischen und dem wallonischen Sprachgebiet, gibt es nämlich auch einen deutschen Landesteil, die sogenannte Deutschsprachige Gemeinschaft, einer der drei Gliedstaaten, die den belgischen Bundesstaat bilden. Das sind die Gebiete des Rheinlandes, die nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des Versailler Vertrags von Belgien annektiert wurden. Diese gehören als selbstverwaltetes Gebiet zur Region Wallonien. Die deutschsprachigen Gebiete Walloniens, die schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Belgien gehörten (das Areler Land, Bochholz, fr. Beho, und die Plattdütschen Gemeinden), sind nicht Teil der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
4 Leopoldville (niederländisch Leopoldstad) hieß die 1881 gegründete Hauptstadt der Kolonie Kongo, die nach König Leopold II. benannt war. Von 1885 bis 1908 war der Kongo eine Privatkolonie dieses Königs, 1908 wurde er zur Kolonie des belgischen Staates. 1966 wurde Leopoldville in Kinshasa umbenannt.