„Andere Länder, andere Sitten“, besagt eine alte Volksweisheit. Wenn allerdings eine Ideologie das Kommando übernimmt, ist es mit den Sitten schnell vorbei. Das erlebt derzeit Venezuela, wo Nicolas Maduro, der „Sozialist des dritten Jahrtausends“, mit harter Hand herrscht. Der „bolivarische“ Präsident hat vor einem Monat per Dekret verfügt, daß in Venezuela seit gestern, dem 1. Oktober, Weihnachten gefeiert wird.
Maduro glaubt offensichtlich nicht, daß die Sonne ganz unabhängig davon aufgeht, wann er oder sonst wer auf der Welt aufsteht. Für ihn gilt: Wenn der Präsident bestimmt, daß Weihnachten ist, dann ist Weihnachten. Punkt, aus, fertig. Also „feiert“ Venezuela seit gestern Weihnachten, das im Land beliebteste Fest. Möglich wurde das, indem das Fest der Geburt Jesu Christi per Präsidentendekret einfach um fast drei Monate vorgezogen bzw. verlängert wurde.
Seit den frühen Morgenstunden von gestern können die Venezolaner staunend auf die Weihnachtsbeleuchtung schauen, die Straßen und Plätze der Hauptstadt Caracas und vieler anderer Städte ziert. Dazu gibt es Schriftzüge mit dem Wort „Weihnachten“ und Nadelbäume mit elektrischen Weihnachtskerzen. Den ganzen September hindurch wurde auf Befehl der Regierung fieberhaft an der Anbringung der Weihnachtsdekorationen gearbeitet.
AP zitiert den Venezolaner Wilfredo Gutiérrez der mit seinem siebenjährigen Enkel dem kuriosen Treiben von Arbeitern eines Bauunternehmens zuschaut, die mit dem Anbringen der Weihnachtsbeleuchtung beauftragt sind: „Weihnachten ist im Dezember. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir die Geburt unseres Herrn Jesus Christus feiern.“ Letzteres scheint den Präsidenten, der selbst aus einer teils jüdischen, teils christlichen Familie stammt und sich selbst als „Freund“ von Papst Franziskus bezeichnet, weniger zu interessieren.
In Venezuela wird zwischen Regierung und Opposition immer noch über den Ausgang der jüngsten Präsidentschaftswahlen Ende Juli gestritten. Die Opposition, unterstützt von den USA, reklamiert den Sieg für sich. Doch bis jetzt sitzt Maduro fest im Sattel. Viele Venezolaner sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach dem Ende der PSUV-Alleinherrschaft und der Sorge vor einem Ausverkauf des Landes an die USA. Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) kontrolliert ostblockmäßig mehr als 80 Prozent der Parlamentssitze.
Beobachter sehen in dem seltsamen Weihnachtsdekret des Präsidenten-Diktators ein Ablenkungsmanöver. Dergleichen tat Maduro bereits in der Vergangenheit, so 2019 und 2022. Schon damals dekretierte er selbstherrlich, daß zwei Monate früher die Straßen geschmückt und schon Weihnachten gefeiert werden soll. Dazu wurden an öffentlichen Plätzen Weihnachtskonzerte und Feierlichkeiten aller Art abgehalten. Der erwähnte Wilfredo Gutiérrez findet allerdings auch Gutes an der Aktion, denn man habe die Straßen und Plätze gereinigt, die sonst ziemlich schmutzig seien. Nun sehe es sauber und gepflegt aus, das erfreue alle, die Beleuchtung besonders die Kinder.
Eine gleich dreimonatige Vorziehung des Weihnachtsfestes wird als „Nervosität“ Maduros gesehen.
Die katholische Kirche reagierte weniger beglückt. Sie verurteilte eine politische Verwendung von Weihnachten. „Die Art und Weise und der Zeitpunkt der Feierlichkeiten sind Sache der kirchlichen Autorität. Dieser Feiertag sollte nicht für Propaganda oder bestimmte politische Zwecke genutzt werden“, erklärte die Venezolanische Bischofskonferenz, die in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde. Maduro spricht zwar gern von Weihnachten, greift aber zugleich die Kirchenvertreter an, von denen er abschätzig von „ein paar Typen da drüben in Soutanen“ spricht und den Sitz des Erzbischof-Metropoliten meint.
Mit Weihnachten ist für die Venezolaner auch die Auszahlung einer Jahresendeprämie verbunden, Aguinaldo genannt, die für den Großteil der Bevölkerung sogar die größte Einnahme des ganzes Jahres darstellt. Die vorgezogenen oder verlängerten Feierlichkeiten bedeuten für die Menschen aber keine finanzielle Besserstellung. Im Gegenteil. Vor der Machtübernahme der „bolivarischen“ Sozialisten, damals unter Hugo Chavez, dem Vorgänger und Förderer Maduros, konnten sich die Venezolaner mit dem Aguinaldo das Weihnachtsfest samt Weihnachtsgeschenken und Silvester finanzieren. Seither wird die Prämie von Jahr zu Jahr geringer.
Weihnachten ist auch für die Venezolaner mit bestimmten Speisen und Gerichten verbunden, vor allem Maismehlkuchen, der mit einem Eintopf aus verschiedenen Fleischsorten, Oliven und anderem gefüllt wird. Das kostet Geld. Das können sich die meisten aber nicht drei Monate lang leisten. Ganz im Gegenteil. Vielmehr können sich viele nicht einmal mehr das eigentliche Weihnachtsfest mit dem traditionellen Weihnachts- und Silvesteressen leisten.
In Venezuela werden die Gehälter in Bolivar gezahlt, aber alle Preise in Dollar festgesetzt, weil die Inflation galoppiert. Allein 2023 belief sie sich auf 200 Prozent. Die Kaufkraft der Menschen schrumpft rapide. Der Mindestlohn der Venezolaner, von dem Millionen Menschen leben, ist seit dem Frühjahr 2022 eingefroren. Er beträgt 130 Bolivar im Monat, das sind umgerechnet rund 3,50 Dollar. Davon kann niemand leben. Ein Kilo Schweinefleisch ohne Knochen kostet 18,50 Dollar. Beamte und öffentliche Bedienstete, aber nur sie, bekommen deshalb eine Lebensmittelzulage von 40 Dollar und seit vergangenem Mai auch einen Bonus wegen des „Wirtschaftskrieges“, den die USA gegen das lateinamerikanische Land führen, der von 60 auf 90 Dollar angehoben wurde. Ein Viertel aller Beschäftigten in Venezuela arbeitet für den Staat.
Maduro läßt nun zur Ablenkung drei Monate lang Weihnachten feiern und untergräbt damit die Bedeutung des Festes, das aus seiner Sicht offenbar zur bloßen Belustigung und dem Stillhalten des Volkes dienen soll. Den Advent gibt es in dem präsidialen Dekret nicht, ebenso wenig ist – laut diesem – klar, wann eigentlich Weihnachten ist.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL