
Sandro Magister, trotz seines Alters noch immer aktiver Vatikanist des Wochenmagazins L’Espresso, befaßte sich jüngst mit der Papstreise nach Südostasien und einer Rechnung, die nicht aufgehen will.
Nach einer Untersuchung des Pew Research Center in Washington ist Indonesien das „religiöseste“ Land der Welt. Achtundneunzig Prozent der 280 Millionen Einwohner messen der Religion in ihrem Leben „große Bedeutung“ bei und 95 Prozent beten mindestens einmal am Tag. Das Land scheint also ein fruchtbarer Boden für die Evangelisierung durch die Kirche zu sein. Doch die erste Botschaft, die Papst Franziskus aussprach, kaum daß er indonesischen Boden betreten hatte, lautete: „Niemals Proselytismus!“
Die Absage an die Mission?
Diese Mahnung ist so etwas wie eine der Kernbotschaften, die direkt von Franziskus selbst kommen, denn sie stand nicht in der offiziellen Vorlage seiner Rede, die er am 4. September bei der Begegnung mit den Behörden des Landes im Präsidentenpalast in Jakarta hielt. Es handelte sich vielmehr um den ersten spontanen Zusatz, den Franziskus einfügte. Magister schreibt dazu:
„Gegen Proselytismus hat sich Franziskus im Laufe der Jahre Dutzende Male ausgesprochen. Es ist ein Mantra seiner Predigten. Zur Untermauerung zitiert er gerne einen Satz von Benedikt XVI. aus dem Jahr 2007 (‚die Kirche missioniert nicht, sondern entwickelt sich durch Anziehung‘) und ein Dokument von Paul VI. aus dem Jahr 1975, das apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi, in dem er dem stillen Zeugnis eine ‚primordiale Bedeutung‘ zuweist.“
So wie Franziskus die Aussage Benedikts aus dem Kontext von Mission und Evangelisierung reißt, so wenig berücksichtigt er, wie Paul VI. in seinem Dokument fortfährt:
„Dies bleibt jedoch immer unzureichend, denn auch das schönste Zeugnis wird sich auf lange Zeit als ohnmächtig erweisen, wenn es nicht durch eine klare und unmißverständliche Verkündigung des Herrn Jesus erleuchtet, begründet – wie Petrus es nannte – und explizit gemacht wird, um die Hoffnung zu begründen. Die Frohe Botschaft, die durch das Zeugnis des Lebens verkündet wird, muß daher früher oder später auch durch das Wort des Lebens verkündet werden. Es gibt keine wahre Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich Gottes, das Geheimnis Jesu von Nazareth, des Sohnes Gottes, verkündet werden.“
Bergoglios Kampf gegen die Proselytenmacherei, indem er den Begriff einseitig negativ besetzte, steht keine ausgleichende Betonung der richtig verstandenen Mission gegenüber. Das ließ frühzeitig Zweifel aufkommen, ob Franziskus nicht insgesamt die Mission abschaffen will. Diese Zweifel wurden seither nicht zerstreut, im Gegenteil. Magister meint dazu: „Für Jorge Mario Bergoglio ist die Krankheit, an der die Kirche heute leidet, offensichtlich die eines übertriebenen, erzwungenen, oberflächlichen und an der Zahl der neuen Anhänger gemessenen Missionsgeistes.“ Stimmt diese Einschätzung jedoch? Magister gibt selbst die Antwort darauf:
„Wenn es eine unbestreitbare Realität in der Kirche des vergangenen halben Jahrhunderts gibt, dann ist es nicht der Exzeß, sondern der Zusammenbruch des missionarischen Impulses.“
Wovon spricht also Franziskus? Warum konstruiert er eine inexistente Situation, um auf der Grundlage falscher Prämissen ebenso natürlich falsche Konsequenzen zu fordern?
Die einst weltweite Missionstätigkeit der Kirche, die auf eine direkten Auftrag ihres Stifters Jesus Christus zurückgeht, ist realiter längst auf wenige Gegenden und Beispiele unentwegter Missionare und Gemeinschaften zusammengeschrumpft, auf solche Missionare, die sich nicht erschüttern lassen, nicht einmal vom Papst in Rom. Magister verweist auf eines dieser lebendigen Missionsgebiete, als dessen Zeuge er den indonesischen Steyler-Missionar Paulus Budi Kleden zitiert, den Franziskus vor kurzem zum Bischof von Ende auf der indonesischen Insel Flores ernannt hat. Auf dieser Insel beträgt der Katholikenanteil inmitten eines fast vollständig islamischen Landes mehr als 80 Prozent an der Bevölkerung, während er in ganz Indonesien nur 3,5 Prozent ausmacht.
In einem Interview mit AsiaNews am Vorabend des Papstbesuches sagte Msgr. Kleden:
„Als indonesische Katholiken können wir stolz darauf sein, daß wir zu einem Land geworden sind, das Missionare aussendet, nachdem wir jahrzehntelang nur ein Empfängerland waren. Selbst wenn man nur die Steyler Missionare betrachtet, gibt es mehr als fünfhundert indonesische Missionare, die in fünfzig verschiedenen Ländern der Welt tätig sind. Die indonesischen Missionare zeichnen sich durch ihre Einfachheit und ihre Bereitschaft aus, auch an den entlegensten Orten zu arbeiten. Ihre Erfahrung im Zusammenleben mit anderen Religionen, insbesondere mit den Muslimen, ist auch ein sehr nützlicher Beitrag für die anderen Ortskirchen.“
Einmal hü und einmal hott sagen
Ein weiteres Land, in dem die Missionstätigkeit blüht, ist Papua-Neuguinea, die zweite Station der Papstreise. Am Sonntag, dem 8. September, reiste Franziskus am Nachmittag fünf Stunden lang mit einem Militärflugzeug nach Vanimo, einer abgelegenen Stadt an der Nordküste zwischen Dschungel und Pazifik, um dort eine kleine Gemeinschaft argentinischer Missionare des Instituto del Verbo Encarnado (Instituts vom Fleischgewordenen Wort) zu treffen, eine konservative Gemeinschaft, mit der Papst Franziskus eine Art Haßliebe verbindet. Kaum war er Erzbischof von Buenos Aires geworden, versuchte er – allerdings vergeblich – das blühende ordenseigene Priesterseminar dieser Gemeinschaft in San Rafael zu schließen.

„Vor einiger Zeit war einer von ihnen zu Besuch in Rom und hatte den Papst gebeten, sie zu besuchen“, so Magister. „Franziskus sagte zu, und nun hat er sein Versprechen gehalten.“ Einer der Missionare, die Franziskus besuchte, bezeichnete kurz zuvor die Missionstätigkeit gegenüber Vatican News als „himmlisches Abenteuer“. „Es ist eine Kirche, die geboren wird, wir säen, und wir sehen bereits die Früchte: Es gibt viele Taufen, die Teilnahme an den Eucharistiefeiern ist überfüllt, vor allem von jungen Menschen und Kindern. Normalerweise besuchen wir die Dörfer am Wochenende: Wir fahren in zwei oder drei Dörfer, auf schlammigen Straßen, mit allen möglichen Hindernissen. Manchmal kommen wir erst spät am Abend an, aber die Menschen warten schon auf uns. Wir nehmen die Beichte ab, wir zelebrieren die Messe. Die Menschen kommen aus dem ganzen Dorf zusammen und jubeln, wenn sie uns ankommen sehen. Sie sind so durstig nach Gott, daß sie unsere Seelen erbauen.“
Doch Franziskus spricht nicht über die Größe und Schönheit dieser Missionsarbeit.
„Es bleibt ein Rätsel, wie Franziskus weiterhin vor dem Proselytismus warnt, wo das missionarische Wirken der Kirche heute – das fast überall nicht wächst, sondern zurückgeht – von dieser Art ist“, so Magister.
Die Brüderlichkeitserklärung mit Handkuß
Magister verweist auf einen weiteren wichtigen Moment der Papstreise: seinen Besuch in der Istiqlal-Moschee in Jakarta, bei dem er eine gemeinsame Erklärung mit dem Großimam Nasaruddin Umar unterzeichnete.
Die Erklärung folgt der Brüderlichkeitserklärung in dem von Franziskus mit dem Großimam von Al-Azhar Ahmad Al-Tayyeb 2019 in Abu Dhabi unterzeichneten „Dokument über die menschliche Brüderlichkeit“. In den vergangenen Jahren sind jedoch weiterhin überall auf der Welt Konflikte ausgebrochen, die den interreligiösen Dialog und einen gemeinsamen Weg zum Frieden ernsthaft in Frage stellen. Man denke etwa an die uneingeschränkte Unterstützung für Hamas, die Al-Tayyeb wenige Stunden nach dem schrecklichen Massaker an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023 unterzeichnete.

Geht es bei der Umarmung des Großimams von Jakarta durch Franziskus nur um eine taktische Geste, weil Indonesien das größte islamische Land der Welt ist?
Es gibt Regionen, insbesondere im Norden der Insel Sumatra, in denen die Scharia gilt. Auch an Gewaltausbrüchen und Anschlägen auf Kirchen hat es in der Vergangenheit nicht gefehlt, „aber den großen islamischen Organisationen Indonesiens ist der Fundamentalismus und Extremismus fremd“, so Magister.
Mitte Juli, mitten im Gaza-Krieg, sorgte die Nachricht von einem Besuch von fünf Vertretern der Nahdlatul Ulama, der wichtigsten muslimischen Organisation Indonesiens, in Israel mit einem offiziellen Foto mit dem israelischen Staatschef Isaac Herzog für Aufsehen.
Die darauf folgende Kontroverse über den Besuch veranlaßte den Vorsitzenden der Nahdlatul Ulama, Yahya Cholil Staquf, sich davon zu distanzieren und ihn für „unangemessen“ zu erklären.
Die Beziehungen indonesischer islamischer Gelehrter zu Israel haben jedoch eine schon längere Tradition. Auch Yahya Cholil Staquf hat Israel bereits besucht und dabei sogar Benjamin Netanjahu die Hand geschüttelt. Er begründete diese Geste damit, daß sie im Einklang mit den islamischen Autoritäten seines Landes erfolgte.
Die Staatsdoktrin Indonesiens: „Bhinneka tunggal ika“ (wörtlich: ‚Viele, aber eins‘) scheint Franziskus besonders zu gefallen, ebenso der Segen des allmächtigen Gottes, der in der Präambel angerufen wird, ohne sich dabei auf irgendeine Religion zu berufen. Es gibt auch einen symbolischen ‚Freundschaftstunnel‘, der die Istiqlal-Moschee mit der nahegelegenen katholischen Kathedrale in Jakarta verbindet.
„Denn dies ist die gemeinsame Basis, auf der Franziskus den Weg der Religionen und der gesamten Menschheit voranbringen will“, so Magister.
Ist es aber die Aufgabe des Papstes, die Wahrheit über Gott und den Menschen zu verbreiten oder eine Anleitung für ein friedliches Zusammenleben zu bieten? Ersteres schließt letzteres automatisch mit ein. Führt letzteres aber zu ersterem?
Kritische Worte kamen jüngst von Prof. Giovanni Maria Vian, dem ehemaligen Chefredakteur des Osservatore Romano. Er bezeichnete das Programm der Papstreise als „eine sich wiederholende Formel (…), einschließlich der Pressekonferenzen auf dem Rückflug, die dazu führen, daß in den Medien die Reisen selbst verdunkelt werden“.
Aber bei Franziskus gibt es noch mehr Momente, die man wohlwollend als Überlagerungen betrachten könnte, weniger wohlwollend als „Verdunkelungen“. Auch während der jüngsten Reise kam es hinter verschlossenen Türen zu einer Begegnung mit den Jesuiten der von Franziskus besuchten Länder. Das dabei Gesagte wird zusammenfassend niedergeschrieben und von der römischen Jesuitenzeitschrit La Civiltà Cattolica veröffentlicht.
Bergoglios Bildungsprojekt ohne Christus
„Und dann ist da noch die Betonung von Momenten der Reise, in denen seine Lieblingsmenschen oder ‑gruppen die Hauptrolle spielen“, so Magister. In Indonesien galt das für die von Franziskus ins Leben gerufene Bewegung Scholas occurrentes, die im Zentrum von Jakarta ihren neuen Sitz für Südostasien hat.
Diese Bewegung wurde von Bergoglio in Argentinien gegründet, als er Erzbischof von Buenos Aires war, und ist heute ein Netzwerk von einer halben Million Schulen auf fünf Kontinenten, das 2015 zu einer frommen Stiftung päpstlichen Rechts mit Sitz in der Vatikanstadt erhoben wurde. Über den Nutzen und die Bedeutung der von Scholas occurrentes betriebenen „Erziehungsprogramme“ gehen die Meinungen stark auseinander. Kritiker werfen der päpstlichen Stiftung vor, an den Schulen die globalistische Agenda voranzubringen.

Auch Magister betont, daß an dieser Stiftung „gar nichts fromm ist“. Neben der direkten Propagierung zweifelhafter Theorien, darunter auch die Förderung der Gender-Ideologie, fällt auf, seit diese Vereinigung durch die Wahl von Franziskus Einzug in Rom gehalten hat, daß Christus, der christliche Glaube oder Gott keine Rolle spielen. Magister schreibt es so:
„In den zahlreichen Ansprachen von Franziskus an die Scholas ist das Schweigen über den christlichen Gott, Jesus und das Evangelium fast tödlich. Die vorherrschende Formel ist der ‚neue Humanismus‘ mit dem dazugehörigen ‚gemeinsamen Haus‘, der ‚universellen Solidarität‘, der ‚Brüderlichkeit‘, der ‚Konvergenz‘, dem ‚Willkommen‘. Auch die Religionen werden in einen Topf geworfen und in einem undeutlichen Dialog neutralisiert. Die Gäste der Veranstaltungen sind Stars des Showbusiness und des Sports, von George Clooney bis Lionel Messi.“
Um dieses Gefühl der „Brüderlichkeit“ zu symbolisieren, hatten die Studenten in Jakarta ein „Polyeder des Herzens“ errichtet, zu dem jeder Hunderte von persönlichen Gegenständen mitbrachte, zu denen sogar der Papst einen eigenen hinzufügte. Was fügte er hinzu? Eine Reproduktion der Hauptfigur des argentinischen Comics Mafalda.
„Was jedoch auffällt, ist das Fehlen jeder christlichen Spezifität in seinem ehrgeizigen Bildungsprojekt.“
Magister sagt es sehr zurückhaltend. Deutlicher gesagt: Es fehlt in dem päpstlichen Projekt jeglicher Christusbezug oder auch nur christlicher Bezug. Franziskus präsentiert sich als „Erzieher“ der Nationen und Völker, jedoch allein auf horizontaler Ebene. Die vertikale Ebene scheint es in seinem Erziehungsprojekt, an dem laut offiziellen Angaben des Vatikans eine halbe Million Schulen auf allen fünf Kontinenten beteiligt ist, nicht zu geben.
Erweitert man den Blick auf andere Aktivitäten des derzeitigen Pontifikats, wie den Segen für alle Religionen unter Ausklammerung des trinitarischen Gottes, werden aus den Zweifeln bange Gedanken.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
Der Handkuss von Franziskus ist eine Form des Eros, der egoistischen Liebe. Eine Selbsterniedrigung gegenüber dem Objekt der Begierde. So ist es mit vielen Gesten des Pontifex. Demgegenüber steht die veränderte Reaktion der aufrichtigen Beobachter. In den vergangenen Jahren war es vorwiegend Empörung und Unverständnis. Das ist jetzt einer gewissen Traurigkeit gewichen. Die Tendenz geht Richtung Mitgefühl und Agape. Gott wäscht die Seinen rein.