Ernst Nolte, Augusto Del Noce und die transpolitische Interpretation der Geschichte

Ein Historiker und ein Philosoph – und der Schlüssel, um die Zeitgeschichte zu verstehen


Ernst Nolte und Augusto Del Noce lieferten mit ihrer Interpretation des Faschismus (Nationalsozialismus) den Schlüssel zum Verständnis der Zeitgeschichte und wurden dafür von den Marxisten und jenen, die die Geschichtsdeutung der Siegermächte vertraten, radikal bekämpft.
Ernst Nolte und Augusto Del Noce lieferten mit ihrer Interpretation des Faschismus (Nationalsozialismus) den Schlüssel zum Verständnis der Zeitgeschichte und wurden dafür von den Marxisten und jenen, die die Geschichtsdeutung der Siegermächte vertraten, radikal bekämpft.

Von Giu­sep­pe Brienza*

Anzei­ge

Am 18. August vor acht Jah­ren starb Ernst Nol­te (1923–2016) in Ber­lin nach kur­zer, schwe­rer Krank­heit. Der deut­sche Histo­ri­ker, des­sen Bücher über Faschis­mus, Natio­nal­so­zia­lis­mus und Bol­sche­wis­mus wüten­de Reak­tio­nen im soge­nann­ten pro­gres­si­ven Lager her­vor­rie­fen, wur­de am 11. Janu­ar 1923 in Rüding­hau­sen, heu­te ein Teil von Wit­ten, in Nord­rhein-West­fa­len in eine katho­li­sche Fami­lie geboren.

Er war erster von zwei Söh­nen und einer Toch­ter; es gelang sei­ner Fami­lie nach­weis­lich immer, Distanz zum Natio­nal­so­zia­lis­mus zu hal­ten, auch wenn sein Vater schließ­lich das Par­tei­buch neh­men muß­te. Sein Bru­der, der ein­be­ru­fen wird, stirbt sehr jung im Krieg.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg war Nol­te Mit­glied des Grün­wal­der Krei­ses, einer von Hans Wer­ner Rich­ter (1908–1993) gegrün­de­ten Kul­tur­ver­ei­ni­gung in der Nach­fol­ge der Grup­pe 47, die sich poli­tisch gegen die Wie­der­be­waff­nung, die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung und den Anti­kom­mu­nis­mus wand­te und damit gegen die Ent­schei­dun­gen des Christ­de­mo­kra­ten Kon­rad Ade­nau­er (1876–1967). Obwohl er die­se „lin­ke“ Her­kunft spä­ter ver­warf, führ­te die Erfah­rung in den 1950er Jah­ren den­noch dazu, daß Nol­te „eine Rei­he lebens­lan­ger Freund­schaf­ten“ knüpf­te, die ihn unter ande­rem dazu ver­an­laß­ten, die Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen dem Stand­punkt der „Besieg­ten“ und dem der „Sie­ger“ als Kri­te­ri­um für die Wahr­heits­fin­dung in den Mit­tel­punkt sei­ner intel­lek­tu­el­len Inter­es­sen zu stel­len.1 (Mas­si­mo De Ange­lis: Nemo pro­phe­ta in patria: Ernst Nol­te in sei­nem Deutsch­land. Zur Ver­tei­di­gung der deut­schen Nati­on nach einem Jahr­hun­dert der histo­ri­schen Kri­mi­na­li­sie­rung, in: Il Cor­rie­re del Sud, 1. März 2024).

Nol­te hat im Lau­fe sei­nes Lebens mehr­fach erklärt, daß er sich in Deutsch­land als „Unper­son“ fühl­te und daher in Frank­reich und vor allem in Ita­li­en wert­vol­le intel­lek­tu­el­le und mora­li­sche „Gast­freund­schaft“ fand. Auch vor die­sem Hin­ter­grund haben sich in unse­rem Land seit dem Fall der Ber­li­ner Mau­er die The­men des soge­nann­ten „Geschichts­re­vi­sio­nis­mus“ entwickelt.

Zu den ita­lie­ni­schen Gelehr­ten, die eine bedeu­ten­de Ver­bin­dung mit dem deut­schen Histo­ri­ker ein­ge­gan­gen sind, gehört der Phi­lo­soph Augu­sto Del Noce (1910–1989), wie Fran­ces­co Per­fet­ti in sei­nem kürz­lich erschie­ne­nen, auf­schluß­rei­chen Buch „Dove va la sto­ria con­tem­po­ra­nea. Augu­sto Del Noce e l’in­ter­pre­ta­zio­ne trans­po­li­ti­ca“ („Wohin die Zeit­ge­schich­te geht. Augu­sto Del Noce und die trans­po­li­ti­sche Inter­pre­ta­ti­on“, Ver­lag Nino Arag­no, Turin 2024, S. 219). Nol­te erwarb von Del Noce zunächst die grund­le­gen­de Inter­pre­ta­ti­on, laut der der Beginn der Zeit­ge­schich­te mit der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on von 1917 anzu­set­zen ist. Von die­sem Moment an wur­de eine Phi­lo­so­phie wie der Mar­xis­mus zu einer poli­ti­schen Insti­tu­ti­on, und zwar mit welt­wei­ter Aus­strah­lung. Der Kom­mu­nis­mus als ver­wirk­lich­ter Mar­xis­mus wur­de im Lau­fe des kur­zen Jahr­hun­derts (als zu ver­wirk­li­chen­des Modell oder als zu bekämp­fen­des Übel) zum obli­ga­to­ri­schen Bezugs­punkt, und des­halb kann die Zeit­ge­schich­te nach der sowje­ti­schen Revo­lu­ti­on zu Recht als „phi­lo­so­phi­sche Geschich­te“ bezeich­net werden.

Die Wer­ke des katho­li­schen Phi­lo­so­phen erweck­ten bei dem jun­gen Nol­te, der per­fekt Ita­lie­nisch ver­stand, wäh­rend sei­ner Zeit als Dozent an der Uni­ver­si­tät Mar­burg (1965–1973) gro­ßes Inter­es­se. Er schrieb mehr­mals an Del Noce, der sei­ne Anfra­gen stets aus­führ­lich beant­wor­te­te, was zu einem äußerst inter­es­san­ten Brief­wech­sel führ­te, den Prof. Per­fet­ti in sei­nem jüng­sten Buch voll­stän­dig wiedergibt.

So schrieb Nol­te am 5. Juli 1966 an Del Noce (den er nicht per­sön­lich kann­te), er sei „beson­ders beein­druckt von Ihrem Auf­satz ‚Idee per l’in­ter­pre­ta­zio­ne del fascis­mo‘ [Ideen für die Inter­pre­ta­ti­on des Faschis­mus], der in dem von [Costan­zo] Casuc­ci her­aus­ge­ge­be­nen Band [Il fascis­mo, Bolo­gna 1961] erschie­nen ist, und ich wür­de mich sehr freu­en, ihn in mei­nem Sam­mel­band als ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für die aktu­el­le ita­lie­ni­sche Inter­pre­ta­ti­on des Faschis­mus wie­der­ge­ben zu kön­nen. Der Ver­lag Il Muli­no war so freund­lich, mir Ihre Adres­se mit­zu­tei­len, und ich wäre Ihnen sehr dank­bar, wenn Sie mir die Erlaub­nis zur Wie­der­ver­öf­fent­li­chung ertei­len wür­den.“

Nach der Geneh­mi­gung, die natür­lich erteilt wur­de, wuch­sen Del Noces Kennt­nis und Wert­schät­zung für Nol­te so sehr, daß der Phi­lo­soph ihm in einem Brief vom 20. Juni 1967 schrieb, daß „Ihre Arbeit über den Faschis­mus von abso­lut außer­ge­wöhn­li­cher Bedeu­tung oder sogar die ersten wirk­lich phi­lo­so­phi­schen Arbei­ten zu die­sem The­ma sind“. In einem spä­te­ren Brief wür­dig­te Del Noce ihn sogar dafür, „daß wir die bei­den ein­zi­gen Autoren auf der Welt sind, die die­se Art der Inter­pre­ta­ti­on [des Faschis­mus, des Natio­nal­so­zia­lis­mus und des Bol­sche­wis­mus] vor­le­gen und die trans­po­li­ti­sche Inter­pre­ta­ti­on der Zeit­ge­schich­te in den Mit­tel­punkt der Debat­te gestellt haben. Doch ohne die­sen phi­lo­so­phi­schen Schlüs­sel wird die Zeit­ge­schich­te nicht ver­stan­den. In die­sem Zusam­men­hang habe ich immer wie­der Ihre sehr schö­ne Ein­lei­tung zu ‚Der Faschis­mus in sei­ner Epo­che. Action fran­çai­se – Ita­lie­ni­scher Faschis­mus – Natio­nal­so­zia­lis­mus. Piper, Mün­chen 1963; [das Werk war Nol­tes Habi­li­ta­ti­ons­schrift, mit der er sich für die Leh­re an den Uni­ver­si­tä­ten qua­li­fi­zier­te]: wie­viel Gewinn hät­ten jün­ge­re Gelehr­te dar­aus zu zie­hen!

Mit die­ser letz­ten Aus­sa­ge bezog sich Del Noce ins­be­son­de­re auf Nol­tes The­se vom Natio­nal­so­zia­lis­mus als deut­scher Ant­wort auf den Bol­sche­wis­mus, von den natio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­nich­tungs­la­gern als Repro­duk­ti­on des Archi­pels Gulag und vom „Zwillings“-Prozeß des sich aus­brei­ten­den Athe­is­mus im Mar­xis­mus und Hit­ler­tum. Nach gemein­sa­mer Auf­fas­sung des deut­schen Histo­ri­kers und des ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phen schließt die Ver­ken­nung des Zusam­men­hangs zwi­schen Mar­xis­mus-Leni­nis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus, bei dem die abso­lu­te Rol­le des Pro­le­ta­ri­ats durch die der Nati­on und der Ras­se abge­löst wird, letzt­lich ein Ver­ständ­nis der Geschich­te des letz­ten Jahr­hun­derts aus und öff­net sich viel­mehr den pro­pa­gan­di­sti­schen und ideo­lo­gi­schen Sicht­wei­sen, die von den Sie­gern des Zwei­ten Welt­kriegs destil­liert wurden.

Ein wei­te­rer Berüh­rungs­punkt zwi­schen den bei­den gro­ßen euro­päi­schen Gelehr­ten bestand dar­in, die Merk­ma­le des 20. Jahr­hun­derts durch ein „trans­po­li­ti­sches Geschichts­bild“ zu ver­ste­hen. Bei­de bezeich­nen den Beginn des Jah­res 1917 als „Zeit­al­ter der Säku­la­ri­sie­rung“, das Ergeb­nis der Wer­te­kri­se, die in Euro­pa in der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts her­vor­ge­bracht wur­de. Die­se Epo­che ist jedoch in zwei Peri­oden zu unter­tei­len: die sakra­le, die von den „säku­la­ren Reli­gio­nen“ und dem Mil­lena­ris­mus des Kom­mu­nis­mus, des Natio­nal­so­zia­lis­mus und bis zu einem gewis­sen Grad des Faschis­mus (im Sin­ne sei­ner ideo­lo­gi­schen Sei­te und nicht der Errun­gen­schaf­ten des faschi­sti­schen Regimes) beherrscht wird, und die pro­fa­ne, die in der Wohl­stands­ge­sell­schaft, geprägt von Szi­en­tis­mus und der Aus­brei­tung des Athe­is­mus, ihren Abschluß findet.

Fran­ces­co Per­fet­ti, Autor des Buches „Dove va la sto­ria con­tem­po­ra­nea. Augu­sto Del Noce e l’in­ter­pre­ta­zio­ne trans­po­li­ti­ca“ („Wohin die Zeit­ge­schich­te geht: Augu­sto Del Noce und die trans­po­li­ti­sche Inter­pre­ta­ti­on“), wur­de im ver­gan­ge­nen Okto­ber zum Vor­sit­zen­den der Giunta Sto­ri­ca Nazio­na­le (Rat für die natio­na­le Geschich­te) ernannt, die durch das Geset­zes­de­kret Nr. 419/​1999 gegrün­det wur­de und unter der Auf­sicht des Kul­tur­mi­ni­ste­ri­ums arbei­tet, d. h. zum Vor­sit­zen­den der ita­lie­ni­schen Histo­ri­ker. Nach sei­ner Lehr­tä­tig­keit für Zeit­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Genua, wo er auch Dekan der Fakul­tät war, hat­te er die Lehr­stüh­le für Neue­re Geschich­te, Zeit­ge­schich­te und Geschich­te der inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen an der Libe­ra Uni­ver­si­tà Luiss-Gui­do Car­li in Rom inne. Außer­dem war er Lei­ter des histo­risch-wis­sen­schaft­li­chen Dien­stes des ita­lie­ni­schen Außen­mi­ni­ste­ri­ums und Prä­si­dent des Vitto­ria­le degli Ita­lia­ni.2

*Giu­sep­pe Bri­en­za, gebo­ren 1972 in Nea­pel, ist frei­er Publi­zist; er pro­mo­vier­te in Poli­tik­wis­sen­schaf­ten an der römi­schen Uni­ver­si­tät La Sapi­en­za; bis 2020 war er für die Kul­tur­sei­ten des Cor­rie­re del Sud ver­ant­wort­lich, dann Chef­re­dak­teur der von ihm mit­ge­grün­de­ten Inter­net­sei­te Infor­ma­zio­ne Cat­to­li­ca; er schreibt u. a. für Il Borg­he­se, Catho­lic Stu­dies, For­mi­che, Dai­ly Cross, Cor­ri­spon­den­za Roma­na und gestal­tet eine Sen­dung auf Radio Mater zu aktu­el­len Fra­gen; Autor von 16 Büchern.

Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: You­tube (Screen­shots)


1 Mas­si­mo De Ange­lis: Nemo pro­phe­ta in patria: Ernst Nol­te nella sua Ger­ma­nia. In dife­sa del­la nazio­ne tede­s­ca dopo un seco­lo di cri­mi­na­liz­za­zio­ne sto­ri­ca [Nichts gilt der Pro­phet im eige­nen Vater­land: Ernst Nol­te in sei­nem Deutsch­land. Zur Ver­tei­di­gung der deut­schen Nati­on nach einem Jahr­hun­dert der histo­ri­schen Kri­mi­na­li­sie­rung], in: Il Cor­rie­re del Sud, 1. März 2024.

2 Das Vitto­ria­le degli Ita­lia­ni ist eine Park­an­la­ge mit Gebäu­den, Plät­zen, einem Frei­licht­thea­ter samt dem 88 Meter lan­gen Tor­pe­do­boot „Puglia“, die zwi­schen 1921 und 1938 in Gar­do­ne Rivie­ra, auf der lom­bar­di­schen Sei­te des Gar­da­sees, ange­legt wur­de. Der Kom­plex wur­de vom dort begra­be­nen Schrift­stel­ler und poli­ti­schen Akteur Gabrie­le d’An­nun­zio in Auf­trag gege­ben. Der Ort soll an d’Annunzio als Dich­ter-Sol­da­ten und an die ita­lie­ni­schen Sol­da­ten im Ersten Welt­krieg erinnern.

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